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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

ist. "Anne Badl Jowäger" erläutert die wichtigen Kapitel über Pfuscherei
in der Medizin und in der Seelsorge. Der "Geltstag" führt den Unfug des
Wirtshauslebens und dessen Einwirkung auf weitere davon berührte Ver¬
hältnisse aus. "Geist und Geld" zeigt die erhebende, Patriarchalische Seite
des reichen Bauernhauses, während der "Schuldenbauer" gleichsam die ab¬
schüssige Seite des Grundbesitzes schildert, das mühelose und vergebliche Ringen
des ärmern ehrlichen Landbesitzers. Die "Käserei in der Vehfreude" läßt uns
einen tiefen Blick in die genossenschaftlichen und gemeinheitlichen Verhältnisse
des Dorflebens werfen. Im "Zeitgeist und Bernergeist" sehen wir den Konflikt
der politischen Bewegung und Agitation mit dem Stillleben der Familie. In
"Kathi" endlich erscheint das rührende Bild ehrlicher und gottvertrauender
Armut im täglichen Kampf mit Not und Bedrängnis, und viele kleinere Er¬
zählungen ergänzen diese großen Einzelbilder und Lebensseiten bald in diesem
bald in jenem Stück." Einen eigentlichen Grundplan aber, wie bei Zolas
"Nougon-Macquarts" oder auch nur Balzacs Liomväiö llunmins darf man
bei Vitzius nicht suchen. Er wußte zwar, daß der "Vauernspiegel" nur eine
Vorarbeit sei, nicht ohne Folge bleiben dürfte, aber alle seine Werke wurden
aus dem sich nach den Zeitumständen einstellenden innern Bedürfnis, praktisch
zu wirken, geboren.

Das gilt auch von dem zweibändigen Werke "Leiden und Freuden eines
Schulmeisters" (1838/39), das man nun schon mit mehr Recht als den "Bauern¬
spiegel" einen naturalistischen Roman nennen kann. Hier haben wir die Dar¬
stellung des Menschen als Verufsmenschen, die ganz genaue Schilderung des
"Milieu" und das Abhängigmachen des Einzelnen von diesem "Milieu," das
der moderne Naturalismus von vornherein zur Erreichung wahrer cloczumsuts
uuumivs gefordert hat. Aber natürlich verdankt das Werk seine Entstehung
nicht einem ästhetischen Bestreben, sondern einzig und allein dem Verlangen,
auf die Schulverhältnisse der Heimat einzuwirken, womit der engste Anschluß
an die Wirklichkeit geboten war, freilich noch nicht die lebensvolle menschliche
Entwicklung, die der Dichter obendrein gab. Die Form des Romans ist wieder
die biographische, die ja eben die bequemste ist, und auch hier hat Bitzius
seinem Helden, dem Schulmeister, den er im übrigen nicht über die damals
gewöhnliche Stufe seines Standes emporhebt, etwas zuviel von seinen eignen
Gedanken in den Mund gelegt, zum Schaden natürlich der künstlerischen Be¬
deutung des Werkes. Künstlerisch-reine Form gewinnen Gotthelfs Werke immer
uur insoweit, als sie sich unbewußt aus dem Bestreben, wahr, schlicht und
lästig zu erzählen, d. h. zu wirken, ergiebt, dagegen beruhen Charaktere und
Vorgänge seiner Erzählungen, alle erzählenden Einzelheiten meist auf dichte¬
nscher Anschauung, hier liegt seine Stärke. Das merkt man zuerst beim "Schul-
wecher." Auf den Inhalt will ich nicht näher eingehen; nur soviel, daß der
-Roman zunächst eine geistige und sittliche Bildungsgeschichte ist, und zwar eine


Jeremias Gotthelf

ist. »Anne Badl Jowäger« erläutert die wichtigen Kapitel über Pfuscherei
in der Medizin und in der Seelsorge. Der »Geltstag« führt den Unfug des
Wirtshauslebens und dessen Einwirkung auf weitere davon berührte Ver¬
hältnisse aus. »Geist und Geld« zeigt die erhebende, Patriarchalische Seite
des reichen Bauernhauses, während der »Schuldenbauer« gleichsam die ab¬
schüssige Seite des Grundbesitzes schildert, das mühelose und vergebliche Ringen
des ärmern ehrlichen Landbesitzers. Die »Käserei in der Vehfreude« läßt uns
einen tiefen Blick in die genossenschaftlichen und gemeinheitlichen Verhältnisse
des Dorflebens werfen. Im »Zeitgeist und Bernergeist« sehen wir den Konflikt
der politischen Bewegung und Agitation mit dem Stillleben der Familie. In
»Kathi« endlich erscheint das rührende Bild ehrlicher und gottvertrauender
Armut im täglichen Kampf mit Not und Bedrängnis, und viele kleinere Er¬
zählungen ergänzen diese großen Einzelbilder und Lebensseiten bald in diesem
bald in jenem Stück." Einen eigentlichen Grundplan aber, wie bei Zolas
„Nougon-Macquarts" oder auch nur Balzacs Liomväiö llunmins darf man
bei Vitzius nicht suchen. Er wußte zwar, daß der „Vauernspiegel" nur eine
Vorarbeit sei, nicht ohne Folge bleiben dürfte, aber alle seine Werke wurden
aus dem sich nach den Zeitumständen einstellenden innern Bedürfnis, praktisch
zu wirken, geboren.

Das gilt auch von dem zweibändigen Werke „Leiden und Freuden eines
Schulmeisters" (1838/39), das man nun schon mit mehr Recht als den „Bauern¬
spiegel" einen naturalistischen Roman nennen kann. Hier haben wir die Dar¬
stellung des Menschen als Verufsmenschen, die ganz genaue Schilderung des
„Milieu" und das Abhängigmachen des Einzelnen von diesem „Milieu," das
der moderne Naturalismus von vornherein zur Erreichung wahrer cloczumsuts
uuumivs gefordert hat. Aber natürlich verdankt das Werk seine Entstehung
nicht einem ästhetischen Bestreben, sondern einzig und allein dem Verlangen,
auf die Schulverhältnisse der Heimat einzuwirken, womit der engste Anschluß
an die Wirklichkeit geboten war, freilich noch nicht die lebensvolle menschliche
Entwicklung, die der Dichter obendrein gab. Die Form des Romans ist wieder
die biographische, die ja eben die bequemste ist, und auch hier hat Bitzius
seinem Helden, dem Schulmeister, den er im übrigen nicht über die damals
gewöhnliche Stufe seines Standes emporhebt, etwas zuviel von seinen eignen
Gedanken in den Mund gelegt, zum Schaden natürlich der künstlerischen Be¬
deutung des Werkes. Künstlerisch-reine Form gewinnen Gotthelfs Werke immer
uur insoweit, als sie sich unbewußt aus dem Bestreben, wahr, schlicht und
lästig zu erzählen, d. h. zu wirken, ergiebt, dagegen beruhen Charaktere und
Vorgänge seiner Erzählungen, alle erzählenden Einzelheiten meist auf dichte¬
nscher Anschauung, hier liegt seine Stärke. Das merkt man zuerst beim „Schul-
wecher." Auf den Inhalt will ich nicht näher eingehen; nur soviel, daß der
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[0327] Jeremias Gotthelf ist. »Anne Badl Jowäger« erläutert die wichtigen Kapitel über Pfuscherei in der Medizin und in der Seelsorge. Der »Geltstag« führt den Unfug des Wirtshauslebens und dessen Einwirkung auf weitere davon berührte Ver¬ hältnisse aus. »Geist und Geld« zeigt die erhebende, Patriarchalische Seite des reichen Bauernhauses, während der »Schuldenbauer« gleichsam die ab¬ schüssige Seite des Grundbesitzes schildert, das mühelose und vergebliche Ringen des ärmern ehrlichen Landbesitzers. Die »Käserei in der Vehfreude« läßt uns einen tiefen Blick in die genossenschaftlichen und gemeinheitlichen Verhältnisse des Dorflebens werfen. Im »Zeitgeist und Bernergeist« sehen wir den Konflikt der politischen Bewegung und Agitation mit dem Stillleben der Familie. In »Kathi« endlich erscheint das rührende Bild ehrlicher und gottvertrauender Armut im täglichen Kampf mit Not und Bedrängnis, und viele kleinere Er¬ zählungen ergänzen diese großen Einzelbilder und Lebensseiten bald in diesem bald in jenem Stück." Einen eigentlichen Grundplan aber, wie bei Zolas „Nougon-Macquarts" oder auch nur Balzacs Liomväiö llunmins darf man bei Vitzius nicht suchen. Er wußte zwar, daß der „Vauernspiegel" nur eine Vorarbeit sei, nicht ohne Folge bleiben dürfte, aber alle seine Werke wurden aus dem sich nach den Zeitumständen einstellenden innern Bedürfnis, praktisch zu wirken, geboren. Das gilt auch von dem zweibändigen Werke „Leiden und Freuden eines Schulmeisters" (1838/39), das man nun schon mit mehr Recht als den „Bauern¬ spiegel" einen naturalistischen Roman nennen kann. Hier haben wir die Dar¬ stellung des Menschen als Verufsmenschen, die ganz genaue Schilderung des „Milieu" und das Abhängigmachen des Einzelnen von diesem „Milieu," das der moderne Naturalismus von vornherein zur Erreichung wahrer cloczumsuts uuumivs gefordert hat. Aber natürlich verdankt das Werk seine Entstehung nicht einem ästhetischen Bestreben, sondern einzig und allein dem Verlangen, auf die Schulverhältnisse der Heimat einzuwirken, womit der engste Anschluß an die Wirklichkeit geboten war, freilich noch nicht die lebensvolle menschliche Entwicklung, die der Dichter obendrein gab. Die Form des Romans ist wieder die biographische, die ja eben die bequemste ist, und auch hier hat Bitzius seinem Helden, dem Schulmeister, den er im übrigen nicht über die damals gewöhnliche Stufe seines Standes emporhebt, etwas zuviel von seinen eignen Gedanken in den Mund gelegt, zum Schaden natürlich der künstlerischen Be¬ deutung des Werkes. Künstlerisch-reine Form gewinnen Gotthelfs Werke immer uur insoweit, als sie sich unbewußt aus dem Bestreben, wahr, schlicht und lästig zu erzählen, d. h. zu wirken, ergiebt, dagegen beruhen Charaktere und Vorgänge seiner Erzählungen, alle erzählenden Einzelheiten meist auf dichte¬ nscher Anschauung, hier liegt seine Stärke. Das merkt man zuerst beim „Schul- wecher." Auf den Inhalt will ich nicht näher eingehen; nur soviel, daß der -Roman zunächst eine geistige und sittliche Bildungsgeschichte ist, und zwar eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/327>, abgerufen am 01.07.2024.