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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

hältnis der Bauern zu ihren Diensten und damit allerdings das gesamte bäurische
Leben gespiegelt wird. Gotthelf, der Held, der sich nach und nach einige
Bildung erworben hat, erzählt selbst, das Werk ist also ein Ich-Roman und
hat auch die Vorzüge und Schwächen dieser Form. Das Hauptinteresse knüpft
sich an die Kindes- und Knechtsschicksale Gotthelfs und an seinen alle Fährlich-
keiten bestehenden, von Grund aus tüchtigen Charakter. Im allgemeinen ist
dem Dichter die Belebung des Ganzen durch Einzelheiten gelungen, die reiche
Detaillirung der spätern Werke hat dieses aber noch nicht, es bleibt hie und
da skizzenhaft, der für alle biographischen Romane bezeichnende Faden, auf dem
die Ereignisse aufgereiht werden, tritt bisweilen kahl hervor, auch schlüpft in
den rüsonnirenden Abschnitten bisweilen der Pfarrer Bitzius in das Gewand
Jeremias Gotthelfs. Die Zeitgenossen empfanden vor allem die Schärfe der
Zeichnung, die Derbheit und Rücksichtslosigkeit des allerdings von der uner¬
schütterlichsten Wahrheitsliebe erfüllten Werkes als neu und ungewöhnlich, auch
wohl unangenehm. Es sind auch teilweise böse Zustande geschildert, aber doch
kaum so unverhüllt wie in dem modernen Naturalismus. Auch erscheint es
uns etwas übertrieben, wenn Bitzius selber meinte, sein Spiegel zeige nur die
Schatten-, nicht die Sonnenseite des Bauernlebens; wir empfangen den Eindruck
der Objektivität. Tendenz freilich hat das Werk, aber sie tritt, solange es noch
etwas zu erzählen giebt, nicht aufdringlich auf, und jedenfalls überragt der
"Bauernspiegel" alle frühern volkstümlichen Tendenzwerke bedeutend an Wert,
die alte dürftige rationalistische Weise, die im einzelnen belehren, nicht durch
das Ganze mächtig packen und auf das gesamte Leben einwirken will, ist hier
endgiltig überwunden. Erst wo die eigentliche Erzählung aufhört, treten auch
Einzeltendenzen auf, und es ist für den mitten im Leben stehenden Pfarrer
höchst charakteristisch, daß er eine Gesundung des Volkslebens von der Be¬
lehrung im -- Wirtshause hofft, das Wirtshaus also sür die Erwachsenen zu
einer Bildungsstätte machen will. Mit Recht bemerkt C. Manuel, das Werk
sei das Ur- und Vorbild, ja das Programm von Bitzius spätern Schriften,
seine wichtigsten Bücher seien darin schon in nuos enthalten, aus einzelnen
Kapiteln des "Bauernspiegels" seien später größere Einzelwerke hervorge¬
wachsen: "Wir finden in diesen spätern Büchern, die meist solchen einzelnen
wichtigen Verhältnissen gewidmet sind, keine Lebenshelle, keine Beziehung, die
nicht schon im "Bauernspiegel," wenn auch nur mit ein paar Strichen, skizzirt
oder angedeutet worden wäre. So führen z. B. die "Leiden und Freuden
eines Schulmeisters" das, was uns Gotthelf im "Bauernspiegel" über das
Schulwesen erzählt, in einem eignen großen Gemälde aus; die "Armennot"
illustrirt das Kapitel von der Verdingung armer Kinder, von den "Httter-
buben" und den Mißbräuchen im Armenerziehungswesen überhaupt. Die beiden
"Ali" sind ein herrlicher Kommentar zum Verhältnis zwischen Meister und
Dienstboten, wie es schon im "Banernspiegel- in meisterhaften Zügen skizzirt


Jeremias Gotthelf

hältnis der Bauern zu ihren Diensten und damit allerdings das gesamte bäurische
Leben gespiegelt wird. Gotthelf, der Held, der sich nach und nach einige
Bildung erworben hat, erzählt selbst, das Werk ist also ein Ich-Roman und
hat auch die Vorzüge und Schwächen dieser Form. Das Hauptinteresse knüpft
sich an die Kindes- und Knechtsschicksale Gotthelfs und an seinen alle Fährlich-
keiten bestehenden, von Grund aus tüchtigen Charakter. Im allgemeinen ist
dem Dichter die Belebung des Ganzen durch Einzelheiten gelungen, die reiche
Detaillirung der spätern Werke hat dieses aber noch nicht, es bleibt hie und
da skizzenhaft, der für alle biographischen Romane bezeichnende Faden, auf dem
die Ereignisse aufgereiht werden, tritt bisweilen kahl hervor, auch schlüpft in
den rüsonnirenden Abschnitten bisweilen der Pfarrer Bitzius in das Gewand
Jeremias Gotthelfs. Die Zeitgenossen empfanden vor allem die Schärfe der
Zeichnung, die Derbheit und Rücksichtslosigkeit des allerdings von der uner¬
schütterlichsten Wahrheitsliebe erfüllten Werkes als neu und ungewöhnlich, auch
wohl unangenehm. Es sind auch teilweise böse Zustande geschildert, aber doch
kaum so unverhüllt wie in dem modernen Naturalismus. Auch erscheint es
uns etwas übertrieben, wenn Bitzius selber meinte, sein Spiegel zeige nur die
Schatten-, nicht die Sonnenseite des Bauernlebens; wir empfangen den Eindruck
der Objektivität. Tendenz freilich hat das Werk, aber sie tritt, solange es noch
etwas zu erzählen giebt, nicht aufdringlich auf, und jedenfalls überragt der
„Bauernspiegel" alle frühern volkstümlichen Tendenzwerke bedeutend an Wert,
die alte dürftige rationalistische Weise, die im einzelnen belehren, nicht durch
das Ganze mächtig packen und auf das gesamte Leben einwirken will, ist hier
endgiltig überwunden. Erst wo die eigentliche Erzählung aufhört, treten auch
Einzeltendenzen auf, und es ist für den mitten im Leben stehenden Pfarrer
höchst charakteristisch, daß er eine Gesundung des Volkslebens von der Be¬
lehrung im — Wirtshause hofft, das Wirtshaus also sür die Erwachsenen zu
einer Bildungsstätte machen will. Mit Recht bemerkt C. Manuel, das Werk
sei das Ur- und Vorbild, ja das Programm von Bitzius spätern Schriften,
seine wichtigsten Bücher seien darin schon in nuos enthalten, aus einzelnen
Kapiteln des „Bauernspiegels" seien später größere Einzelwerke hervorge¬
wachsen: „Wir finden in diesen spätern Büchern, die meist solchen einzelnen
wichtigen Verhältnissen gewidmet sind, keine Lebenshelle, keine Beziehung, die
nicht schon im »Bauernspiegel,« wenn auch nur mit ein paar Strichen, skizzirt
oder angedeutet worden wäre. So führen z. B. die »Leiden und Freuden
eines Schulmeisters« das, was uns Gotthelf im »Bauernspiegel« über das
Schulwesen erzählt, in einem eignen großen Gemälde aus; die »Armennot«
illustrirt das Kapitel von der Verdingung armer Kinder, von den »Httter-
buben« und den Mißbräuchen im Armenerziehungswesen überhaupt. Die beiden
»Ali« sind ein herrlicher Kommentar zum Verhältnis zwischen Meister und
Dienstboten, wie es schon im »Banernspiegel- in meisterhaften Zügen skizzirt


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[0326] Jeremias Gotthelf hältnis der Bauern zu ihren Diensten und damit allerdings das gesamte bäurische Leben gespiegelt wird. Gotthelf, der Held, der sich nach und nach einige Bildung erworben hat, erzählt selbst, das Werk ist also ein Ich-Roman und hat auch die Vorzüge und Schwächen dieser Form. Das Hauptinteresse knüpft sich an die Kindes- und Knechtsschicksale Gotthelfs und an seinen alle Fährlich- keiten bestehenden, von Grund aus tüchtigen Charakter. Im allgemeinen ist dem Dichter die Belebung des Ganzen durch Einzelheiten gelungen, die reiche Detaillirung der spätern Werke hat dieses aber noch nicht, es bleibt hie und da skizzenhaft, der für alle biographischen Romane bezeichnende Faden, auf dem die Ereignisse aufgereiht werden, tritt bisweilen kahl hervor, auch schlüpft in den rüsonnirenden Abschnitten bisweilen der Pfarrer Bitzius in das Gewand Jeremias Gotthelfs. Die Zeitgenossen empfanden vor allem die Schärfe der Zeichnung, die Derbheit und Rücksichtslosigkeit des allerdings von der uner¬ schütterlichsten Wahrheitsliebe erfüllten Werkes als neu und ungewöhnlich, auch wohl unangenehm. Es sind auch teilweise böse Zustande geschildert, aber doch kaum so unverhüllt wie in dem modernen Naturalismus. Auch erscheint es uns etwas übertrieben, wenn Bitzius selber meinte, sein Spiegel zeige nur die Schatten-, nicht die Sonnenseite des Bauernlebens; wir empfangen den Eindruck der Objektivität. Tendenz freilich hat das Werk, aber sie tritt, solange es noch etwas zu erzählen giebt, nicht aufdringlich auf, und jedenfalls überragt der „Bauernspiegel" alle frühern volkstümlichen Tendenzwerke bedeutend an Wert, die alte dürftige rationalistische Weise, die im einzelnen belehren, nicht durch das Ganze mächtig packen und auf das gesamte Leben einwirken will, ist hier endgiltig überwunden. Erst wo die eigentliche Erzählung aufhört, treten auch Einzeltendenzen auf, und es ist für den mitten im Leben stehenden Pfarrer höchst charakteristisch, daß er eine Gesundung des Volkslebens von der Be¬ lehrung im — Wirtshause hofft, das Wirtshaus also sür die Erwachsenen zu einer Bildungsstätte machen will. Mit Recht bemerkt C. Manuel, das Werk sei das Ur- und Vorbild, ja das Programm von Bitzius spätern Schriften, seine wichtigsten Bücher seien darin schon in nuos enthalten, aus einzelnen Kapiteln des „Bauernspiegels" seien später größere Einzelwerke hervorge¬ wachsen: „Wir finden in diesen spätern Büchern, die meist solchen einzelnen wichtigen Verhältnissen gewidmet sind, keine Lebenshelle, keine Beziehung, die nicht schon im »Bauernspiegel,« wenn auch nur mit ein paar Strichen, skizzirt oder angedeutet worden wäre. So führen z. B. die »Leiden und Freuden eines Schulmeisters« das, was uns Gotthelf im »Bauernspiegel« über das Schulwesen erzählt, in einem eignen großen Gemälde aus; die »Armennot« illustrirt das Kapitel von der Verdingung armer Kinder, von den »Httter- buben« und den Mißbräuchen im Armenerziehungswesen überhaupt. Die beiden »Ali« sind ein herrlicher Kommentar zum Verhältnis zwischen Meister und Dienstboten, wie es schon im »Banernspiegel- in meisterhaften Zügen skizzirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/326>, abgerufen am 29.06.2024.