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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Ganz unverkennbar spielt beim Volke das Leben der Sinne eine ähnliche
Rolle wie bei der Jugend. Zwar bleibt ihre Erregbarkeit und Empfänglichkeit
nirgends die gleiche für die vorrückenden Lebensjahre wie für die jugendlichen;
die Erwachsenen auch im Volke werden von ihrem innern Leben, dem Druck
der Sorgen, der Erinnerung, den Fragen der Existenz reichlich genug in An¬
spruch genommen, um nicht immer Augen und Ohren offen zu haben für die
Welt der umgebenden Dinge (wie übrigens auch die Jugend, um das nach¬
zutragen, oftmals für diese umgebende Welt blind und taub ist, nämlich dann,
wenn sie im Spiele mit ganzer Seele nach einer Seite in Anspruch genommen
ist). Auch stumpfer werden die Sinne und fassen nicht mehr mit der Leichtigkeit
und Bestimmtheit auf, ja das Volk ist in dieser Hinsicht auch gegenüber den
erwachsenen Gebildeten im Nachteil: bei den Gebildeten ist Verfeinerung des
Wahrnehmungsvermögens überall da vorhanden, wo geistiges Verständnis als
helfende Kraft dahinter steht, wo man gewissermaßen urteilend wahrnimmt.
Mindestens aber werden die Menschen des Volkes nicht leicht durch ein zu¬
sammenhängendes eignes Gedankenleben von der wahrnehmenden Thätigkeit der
Sinne abgezogen und namentlich auch nicht durch abstrakte Gewöhnung in der
Unmittelbarkeit des Sinnenlebens behindert. Vielfach ergiebt für sie der Beruf
eine Schärfung der Sinne für ein bestimmtes Gebiet, was ja auch bei den
Gebildeten für die Sphäre ihres Berufslebens so zu sein pflegt, nur daß bei
ihren Berufsarten und -aufgaben die sinnliche Seite nicht leicht zu einer Haupt¬
seite wird. Vor allem aber besteht zwischen Volk und Jugend hier die Über¬
einstimmung, daß in ganz ähnlichem Grade das Bedürfnis vorhanden ist,
durch die Sinne eine Erhöhung des Daseinsgefühls zu empfangen, der Seele
mit ihrem Erregungsbedürfnis durch die Sinne Nahrung und Genugthuung
zu geben. Wenn es "etwas zu sehen" giebt, den: Sinne eine ihm nicht ganz
alltägliche Schau geboten wird, dann ist sofort der ganze Mensch gewonnen
und hingerissen, dann vergißt er sich und alle seine persönlichen Anliegen voll-
stündig, ist ganz dem sinnlichen Eindruck offen. Auch hier ist es wieder vor
allem das Bunte und Glänzende oder Leuchtende, was ihn gefangen nimmt
und fast beseligt, das stark Tönende, weithin schallende, das in Form oder
Vorgang Ungewöhnliche, und das Entsetzliche nicht weniger als das Komische,
denn die Anregung der Sinne überwiegt dabei durchaus die tiefern Empfindungen
des Herzens. Daß man vor dem bloß Traurigen oder wehmütig Stimmender
nicht etwa zurückweicht, und daß die Befriedigung des Schauens weit schwerer
wiegt als der Inhalt des zu Schauenden, ist demnach kein Wunder: in den
Mundwinkeln der Arbeiterfrauen, die in ihren Fenstern liegend dem heran¬
nahenden Leichenzug entgegenblicken, liegt eine so volle und ruhige Befriedigung,
daß sichtlich alle Kümmernis ihres eignen Daseins aus ihrem Bewußtsein ver¬
scheucht ist. Zu einer Hinrichtung oder öffentlichen Folterung würde sich auch
heute die Menge drängen und vielstüudiges mühseliges Harren leicht ertragen.


Volk und Jugend

Ganz unverkennbar spielt beim Volke das Leben der Sinne eine ähnliche
Rolle wie bei der Jugend. Zwar bleibt ihre Erregbarkeit und Empfänglichkeit
nirgends die gleiche für die vorrückenden Lebensjahre wie für die jugendlichen;
die Erwachsenen auch im Volke werden von ihrem innern Leben, dem Druck
der Sorgen, der Erinnerung, den Fragen der Existenz reichlich genug in An¬
spruch genommen, um nicht immer Augen und Ohren offen zu haben für die
Welt der umgebenden Dinge (wie übrigens auch die Jugend, um das nach¬
zutragen, oftmals für diese umgebende Welt blind und taub ist, nämlich dann,
wenn sie im Spiele mit ganzer Seele nach einer Seite in Anspruch genommen
ist). Auch stumpfer werden die Sinne und fassen nicht mehr mit der Leichtigkeit
und Bestimmtheit auf, ja das Volk ist in dieser Hinsicht auch gegenüber den
erwachsenen Gebildeten im Nachteil: bei den Gebildeten ist Verfeinerung des
Wahrnehmungsvermögens überall da vorhanden, wo geistiges Verständnis als
helfende Kraft dahinter steht, wo man gewissermaßen urteilend wahrnimmt.
Mindestens aber werden die Menschen des Volkes nicht leicht durch ein zu¬
sammenhängendes eignes Gedankenleben von der wahrnehmenden Thätigkeit der
Sinne abgezogen und namentlich auch nicht durch abstrakte Gewöhnung in der
Unmittelbarkeit des Sinnenlebens behindert. Vielfach ergiebt für sie der Beruf
eine Schärfung der Sinne für ein bestimmtes Gebiet, was ja auch bei den
Gebildeten für die Sphäre ihres Berufslebens so zu sein pflegt, nur daß bei
ihren Berufsarten und -aufgaben die sinnliche Seite nicht leicht zu einer Haupt¬
seite wird. Vor allem aber besteht zwischen Volk und Jugend hier die Über¬
einstimmung, daß in ganz ähnlichem Grade das Bedürfnis vorhanden ist,
durch die Sinne eine Erhöhung des Daseinsgefühls zu empfangen, der Seele
mit ihrem Erregungsbedürfnis durch die Sinne Nahrung und Genugthuung
zu geben. Wenn es „etwas zu sehen" giebt, den: Sinne eine ihm nicht ganz
alltägliche Schau geboten wird, dann ist sofort der ganze Mensch gewonnen
und hingerissen, dann vergißt er sich und alle seine persönlichen Anliegen voll-
stündig, ist ganz dem sinnlichen Eindruck offen. Auch hier ist es wieder vor
allem das Bunte und Glänzende oder Leuchtende, was ihn gefangen nimmt
und fast beseligt, das stark Tönende, weithin schallende, das in Form oder
Vorgang Ungewöhnliche, und das Entsetzliche nicht weniger als das Komische,
denn die Anregung der Sinne überwiegt dabei durchaus die tiefern Empfindungen
des Herzens. Daß man vor dem bloß Traurigen oder wehmütig Stimmender
nicht etwa zurückweicht, und daß die Befriedigung des Schauens weit schwerer
wiegt als der Inhalt des zu Schauenden, ist demnach kein Wunder: in den
Mundwinkeln der Arbeiterfrauen, die in ihren Fenstern liegend dem heran¬
nahenden Leichenzug entgegenblicken, liegt eine so volle und ruhige Befriedigung,
daß sichtlich alle Kümmernis ihres eignen Daseins aus ihrem Bewußtsein ver¬
scheucht ist. Zu einer Hinrichtung oder öffentlichen Folterung würde sich auch
heute die Menge drängen und vielstüudiges mühseliges Harren leicht ertragen.


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[0323] Volk und Jugend Ganz unverkennbar spielt beim Volke das Leben der Sinne eine ähnliche Rolle wie bei der Jugend. Zwar bleibt ihre Erregbarkeit und Empfänglichkeit nirgends die gleiche für die vorrückenden Lebensjahre wie für die jugendlichen; die Erwachsenen auch im Volke werden von ihrem innern Leben, dem Druck der Sorgen, der Erinnerung, den Fragen der Existenz reichlich genug in An¬ spruch genommen, um nicht immer Augen und Ohren offen zu haben für die Welt der umgebenden Dinge (wie übrigens auch die Jugend, um das nach¬ zutragen, oftmals für diese umgebende Welt blind und taub ist, nämlich dann, wenn sie im Spiele mit ganzer Seele nach einer Seite in Anspruch genommen ist). Auch stumpfer werden die Sinne und fassen nicht mehr mit der Leichtigkeit und Bestimmtheit auf, ja das Volk ist in dieser Hinsicht auch gegenüber den erwachsenen Gebildeten im Nachteil: bei den Gebildeten ist Verfeinerung des Wahrnehmungsvermögens überall da vorhanden, wo geistiges Verständnis als helfende Kraft dahinter steht, wo man gewissermaßen urteilend wahrnimmt. Mindestens aber werden die Menschen des Volkes nicht leicht durch ein zu¬ sammenhängendes eignes Gedankenleben von der wahrnehmenden Thätigkeit der Sinne abgezogen und namentlich auch nicht durch abstrakte Gewöhnung in der Unmittelbarkeit des Sinnenlebens behindert. Vielfach ergiebt für sie der Beruf eine Schärfung der Sinne für ein bestimmtes Gebiet, was ja auch bei den Gebildeten für die Sphäre ihres Berufslebens so zu sein pflegt, nur daß bei ihren Berufsarten und -aufgaben die sinnliche Seite nicht leicht zu einer Haupt¬ seite wird. Vor allem aber besteht zwischen Volk und Jugend hier die Über¬ einstimmung, daß in ganz ähnlichem Grade das Bedürfnis vorhanden ist, durch die Sinne eine Erhöhung des Daseinsgefühls zu empfangen, der Seele mit ihrem Erregungsbedürfnis durch die Sinne Nahrung und Genugthuung zu geben. Wenn es „etwas zu sehen" giebt, den: Sinne eine ihm nicht ganz alltägliche Schau geboten wird, dann ist sofort der ganze Mensch gewonnen und hingerissen, dann vergißt er sich und alle seine persönlichen Anliegen voll- stündig, ist ganz dem sinnlichen Eindruck offen. Auch hier ist es wieder vor allem das Bunte und Glänzende oder Leuchtende, was ihn gefangen nimmt und fast beseligt, das stark Tönende, weithin schallende, das in Form oder Vorgang Ungewöhnliche, und das Entsetzliche nicht weniger als das Komische, denn die Anregung der Sinne überwiegt dabei durchaus die tiefern Empfindungen des Herzens. Daß man vor dem bloß Traurigen oder wehmütig Stimmender nicht etwa zurückweicht, und daß die Befriedigung des Schauens weit schwerer wiegt als der Inhalt des zu Schauenden, ist demnach kein Wunder: in den Mundwinkeln der Arbeiterfrauen, die in ihren Fenstern liegend dem heran¬ nahenden Leichenzug entgegenblicken, liegt eine so volle und ruhige Befriedigung, daß sichtlich alle Kümmernis ihres eignen Daseins aus ihrem Bewußtsein ver¬ scheucht ist. Zu einer Hinrichtung oder öffentlichen Folterung würde sich auch heute die Menge drängen und vielstüudiges mühseliges Harren leicht ertragen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/323>, abgerufen am 01.07.2024.