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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Den Vorgang eines großen Unglücks zufällig mit angesehen zu haben, gewährt
noch lange nachher Genugthuung, nicht bloß weil mans erzählen kann.

Übrigens hat noch ein begleitender Umstand fast ebenso große Anziehungs¬
kraft wie die Vorgänge selber, nämlich die Anhäufung der Menschen; es ist
fast, als ob sich nach einem physikalischen Gesetze die Anziehungskraft einer
Masse mit der Masse selbst vervielfältigte oder steigerte. So sind denn Auf¬
züge, Prozessionen aller Art, bei denen sich alles Angeführte vereinigt, die
regelmäßige Lieblingsnahrung für die Sinne und damit für die Seele, und die
bunten Farben und der Glanz und Flitter auch der kirchlichen Prozessionen
werden nicht umsonst treulich bewahrt seit der Zeit mittelalterlicher Farben¬
freude bis in unsre gedankenschwere und gedankenblasse Gegenwart; das ge¬
winnt und hebt am leichtesten die ganzen Seelen, es giebt dieser Stufe die
ihr mögliche Art der Begeisterung, und von Begeisterung bis zur Verehrung
ist kein weiter Schritt. Aber auch die Freude an militärischen Auszügen, in
der sich Jugend und Volk begegnen, und zu der neben Prunk und Schall
namentlich der Eindruck der geschlossenen Kraft, der imponirenden Häufung
beitrüge, gehört hierher. Dabei übt denn freilich der Rhythmus der Bewegungen
und der militärischen Musik seinen Zauber. Der Rhythmus in der Musik ist,
wenn auch in seiner Art hoher und feiner Entwicklung und Verwendung fähig
(man denke an die Werke Beethovens), doch an sich ein niederes, elementares
Wirkungsmittel; die Trommel steht unter der Trompete, wie sie auch früher
gewürdigt wird als diese. Aber eben das Rhythmische ist es, dessen Wirkung
die naiven Stufen zunächst empfinden, und die Militärmusik -- die gegenwärtige
noch weit mehr als die frühere -- bietet das ja in ganz besondrer Kräftigkeit
dar (werden da doch in den strammen Rhythmus oft die seelenvollsten Lieder mit
hineingepreßt), wie andrerseits auch der Tanzrhythmus dem naiven vollständig
zugänglich ist und ihn fast unwiderstehlich mit fortreißt, und wie drittens der ein¬
wiegende Rhythmus des Kinderreigens oder auch des einfachen melancholischen
Volksgesanges eine ähnliche Unwiderstehlichkeit der Wirkung hat. Ist diese
Wirkung in den erster" Fällen elektrisirend, so ist sie im letzten Falle mehr
hypnotisirend, und beiden Einwirkungen werden ja wohl immer die am zu¬
gänglichsten bleiben, die am wenigsten gefestigte Persönlichkeiten geworden sind.
Jedenfalls bleibt man in allen jenen Fällen auch nicht einfach beschaulich, be¬
trachtend oder sinnig aufnehmend, wie es der Gebildete gegenüber den Ein¬
drücken der Natur und der Kunst zu sein vermag, fondern die Simieseindrücke
rufen irgendwie eine körperliche Reaktion hervor; das Bedürfnis, neben der
Militärmusik und der marschirenden Truppe herzulaufen, zu tanzen, wo man
aufspielt, mitzusingen, wo gesungen wird, sind Zeugnisse dafür. So die
Jugend, so das Volk; sie beide bilden hier eine Einheit, und auch die vor¬
nehme Valljugend bleibt dazu eben doch Jugend genug, und ebenso die
studentische Jünglingschaft mit ihrer Bässe Grundgewalt.


Volk und Jugend

Den Vorgang eines großen Unglücks zufällig mit angesehen zu haben, gewährt
noch lange nachher Genugthuung, nicht bloß weil mans erzählen kann.

Übrigens hat noch ein begleitender Umstand fast ebenso große Anziehungs¬
kraft wie die Vorgänge selber, nämlich die Anhäufung der Menschen; es ist
fast, als ob sich nach einem physikalischen Gesetze die Anziehungskraft einer
Masse mit der Masse selbst vervielfältigte oder steigerte. So sind denn Auf¬
züge, Prozessionen aller Art, bei denen sich alles Angeführte vereinigt, die
regelmäßige Lieblingsnahrung für die Sinne und damit für die Seele, und die
bunten Farben und der Glanz und Flitter auch der kirchlichen Prozessionen
werden nicht umsonst treulich bewahrt seit der Zeit mittelalterlicher Farben¬
freude bis in unsre gedankenschwere und gedankenblasse Gegenwart; das ge¬
winnt und hebt am leichtesten die ganzen Seelen, es giebt dieser Stufe die
ihr mögliche Art der Begeisterung, und von Begeisterung bis zur Verehrung
ist kein weiter Schritt. Aber auch die Freude an militärischen Auszügen, in
der sich Jugend und Volk begegnen, und zu der neben Prunk und Schall
namentlich der Eindruck der geschlossenen Kraft, der imponirenden Häufung
beitrüge, gehört hierher. Dabei übt denn freilich der Rhythmus der Bewegungen
und der militärischen Musik seinen Zauber. Der Rhythmus in der Musik ist,
wenn auch in seiner Art hoher und feiner Entwicklung und Verwendung fähig
(man denke an die Werke Beethovens), doch an sich ein niederes, elementares
Wirkungsmittel; die Trommel steht unter der Trompete, wie sie auch früher
gewürdigt wird als diese. Aber eben das Rhythmische ist es, dessen Wirkung
die naiven Stufen zunächst empfinden, und die Militärmusik — die gegenwärtige
noch weit mehr als die frühere — bietet das ja in ganz besondrer Kräftigkeit
dar (werden da doch in den strammen Rhythmus oft die seelenvollsten Lieder mit
hineingepreßt), wie andrerseits auch der Tanzrhythmus dem naiven vollständig
zugänglich ist und ihn fast unwiderstehlich mit fortreißt, und wie drittens der ein¬
wiegende Rhythmus des Kinderreigens oder auch des einfachen melancholischen
Volksgesanges eine ähnliche Unwiderstehlichkeit der Wirkung hat. Ist diese
Wirkung in den erster» Fällen elektrisirend, so ist sie im letzten Falle mehr
hypnotisirend, und beiden Einwirkungen werden ja wohl immer die am zu¬
gänglichsten bleiben, die am wenigsten gefestigte Persönlichkeiten geworden sind.
Jedenfalls bleibt man in allen jenen Fällen auch nicht einfach beschaulich, be¬
trachtend oder sinnig aufnehmend, wie es der Gebildete gegenüber den Ein¬
drücken der Natur und der Kunst zu sein vermag, fondern die Simieseindrücke
rufen irgendwie eine körperliche Reaktion hervor; das Bedürfnis, neben der
Militärmusik und der marschirenden Truppe herzulaufen, zu tanzen, wo man
aufspielt, mitzusingen, wo gesungen wird, sind Zeugnisse dafür. So die
Jugend, so das Volk; sie beide bilden hier eine Einheit, und auch die vor¬
nehme Valljugend bleibt dazu eben doch Jugend genug, und ebenso die
studentische Jünglingschaft mit ihrer Bässe Grundgewalt.


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[0324] Volk und Jugend Den Vorgang eines großen Unglücks zufällig mit angesehen zu haben, gewährt noch lange nachher Genugthuung, nicht bloß weil mans erzählen kann. Übrigens hat noch ein begleitender Umstand fast ebenso große Anziehungs¬ kraft wie die Vorgänge selber, nämlich die Anhäufung der Menschen; es ist fast, als ob sich nach einem physikalischen Gesetze die Anziehungskraft einer Masse mit der Masse selbst vervielfältigte oder steigerte. So sind denn Auf¬ züge, Prozessionen aller Art, bei denen sich alles Angeführte vereinigt, die regelmäßige Lieblingsnahrung für die Sinne und damit für die Seele, und die bunten Farben und der Glanz und Flitter auch der kirchlichen Prozessionen werden nicht umsonst treulich bewahrt seit der Zeit mittelalterlicher Farben¬ freude bis in unsre gedankenschwere und gedankenblasse Gegenwart; das ge¬ winnt und hebt am leichtesten die ganzen Seelen, es giebt dieser Stufe die ihr mögliche Art der Begeisterung, und von Begeisterung bis zur Verehrung ist kein weiter Schritt. Aber auch die Freude an militärischen Auszügen, in der sich Jugend und Volk begegnen, und zu der neben Prunk und Schall namentlich der Eindruck der geschlossenen Kraft, der imponirenden Häufung beitrüge, gehört hierher. Dabei übt denn freilich der Rhythmus der Bewegungen und der militärischen Musik seinen Zauber. Der Rhythmus in der Musik ist, wenn auch in seiner Art hoher und feiner Entwicklung und Verwendung fähig (man denke an die Werke Beethovens), doch an sich ein niederes, elementares Wirkungsmittel; die Trommel steht unter der Trompete, wie sie auch früher gewürdigt wird als diese. Aber eben das Rhythmische ist es, dessen Wirkung die naiven Stufen zunächst empfinden, und die Militärmusik — die gegenwärtige noch weit mehr als die frühere — bietet das ja in ganz besondrer Kräftigkeit dar (werden da doch in den strammen Rhythmus oft die seelenvollsten Lieder mit hineingepreßt), wie andrerseits auch der Tanzrhythmus dem naiven vollständig zugänglich ist und ihn fast unwiderstehlich mit fortreißt, und wie drittens der ein¬ wiegende Rhythmus des Kinderreigens oder auch des einfachen melancholischen Volksgesanges eine ähnliche Unwiderstehlichkeit der Wirkung hat. Ist diese Wirkung in den erster» Fällen elektrisirend, so ist sie im letzten Falle mehr hypnotisirend, und beiden Einwirkungen werden ja wohl immer die am zu¬ gänglichsten bleiben, die am wenigsten gefestigte Persönlichkeiten geworden sind. Jedenfalls bleibt man in allen jenen Fällen auch nicht einfach beschaulich, be¬ trachtend oder sinnig aufnehmend, wie es der Gebildete gegenüber den Ein¬ drücken der Natur und der Kunst zu sein vermag, fondern die Simieseindrücke rufen irgendwie eine körperliche Reaktion hervor; das Bedürfnis, neben der Militärmusik und der marschirenden Truppe herzulaufen, zu tanzen, wo man aufspielt, mitzusingen, wo gesungen wird, sind Zeugnisse dafür. So die Jugend, so das Volk; sie beide bilden hier eine Einheit, und auch die vor¬ nehme Valljugend bleibt dazu eben doch Jugend genug, und ebenso die studentische Jünglingschaft mit ihrer Bässe Grundgewalt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/324>, abgerufen am 29.06.2024.