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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

weiter verfolgen. Ferner aber richtet sich die Sinnesempfünglichkeit der Jugend
noch vor allem auf das, was Reize niedrer Art auf die Sinne ausübt, also
auf das Vnntc, das Glänzende, das Süße und das Saftige, das stark Tönende
und schallende, überhaupt aber -- und zwar umso mehr, je mehr die ge¬
wöhnliche Welt bekannt geworden ist, und je mehr man sich von der zarten
Kindesstufc entfernt -- auf das Große, Ausgedehnte, Starke, Gewaltige; das
ist es, was in einem gewissen Lebensalter die Seele erhebt, ihr eine Art von
Begeisterung einflößt. Weiterhin nehmen die Sinne wesentlich nur erst das
Einzelne mit Interesse auf, nicht das zusammenhängende Ganze; für das Ver¬
hältnis der Teile, für die Harmonie eines Gesamtbildes ist noch kein Ver¬
ständnis da. Weder wird eine Landschaft, eine Aussicht gewürdigt (während
der einzelne bunte Stein, die Blume, das bewegliche Tier, der hohe Baum
Interesse und Freude einflößt), noch wird an einem stolzen Bauwerk etwas
andres betrachtet als etwa die Höhe des Turmes oder die Menge der Fenster
und dergleichen, an einem Bilde etwas andres als Einzelfiguren und Einzel¬
heiten, und so auf andern Gebieten entsprechend. Endlich bleibt das Interesse
der Sinne kaum je beschaulich: man will etwas mit den wahrgenommnen
Sinnendingen anfangen, sich ihnen gegenüber bethätigen, die Blume zerzupfen
oder doch verwenden, das Tier greifen und anfühlen und vielleicht auch ein
bischen an seinem Leben hernmprobiren, wie an den leblosen Spielsachen, das
schwerwiegende handhaben, das Hohe erklettern, mit dem Bunten sich wenigstens
schmücken, den lauten Schall selbst hervorbringen, sei es durch Schußwaffe
oder Trommel und Trompete oder auch durch bloßen Steinwurf ins Wasser oder
den Abhang hinunter, und natürlich das Appetitliche anbeißen. Der Reife
und Gebildete trägt gewissermaßen in seinem Innern bestimmte Formen mit
herum, mit und unter denen er in die umgebende Welt schaut, und nur was
sich in diese Formen fassen läßt, das bedeutet auch seinen Sinnen etwas. Wenn
seine Sinnesthätigkeit weniger offen und lebendig erscheint und ist, so ist es
doch mehr das Zufällige, was er nicht sieht; das Ganze, Zusammengehörige,
das plastische Kunstwerk, das Musikstück, das schöne Landschaftsbild, das nimmt
erst er auf; statt der Empfänglichkeit für das Bunte bildet sich bei ihm ein
vielfach unterscheidender Farbensinn, ein eben solcher Sinn für Töne, für
plastische Maße, für Eigenart und Zusammenstimmung; ihm wird auch das
Charakteristische zum Schönen, das Ausdrucksvolle interessant. Und selbst jene
Sinne, die sozusagen am allersinnlichsten erscheinen, die sogenannten chemischen
Sinne (gegenüber den mechanischen und dynamischen), der Geschmack und der
Geruch, sie stumpfen sich in Wirklichkeit nicht ab, ja der Geruch entwickelt sich
sogar erst im Laufe des Lebens und mit höherer Kultur der Personen, aber
auch der erstere, während er eine aufdringliche Gier nicht mehr entstehen läßt,
verfeinert sich thatsächlich, unterscheidet aufs sicherste seine Verschiedenheit und
würdigt das Mannichfaltigste.


Volk und Jugend

weiter verfolgen. Ferner aber richtet sich die Sinnesempfünglichkeit der Jugend
noch vor allem auf das, was Reize niedrer Art auf die Sinne ausübt, also
auf das Vnntc, das Glänzende, das Süße und das Saftige, das stark Tönende
und schallende, überhaupt aber — und zwar umso mehr, je mehr die ge¬
wöhnliche Welt bekannt geworden ist, und je mehr man sich von der zarten
Kindesstufc entfernt — auf das Große, Ausgedehnte, Starke, Gewaltige; das
ist es, was in einem gewissen Lebensalter die Seele erhebt, ihr eine Art von
Begeisterung einflößt. Weiterhin nehmen die Sinne wesentlich nur erst das
Einzelne mit Interesse auf, nicht das zusammenhängende Ganze; für das Ver¬
hältnis der Teile, für die Harmonie eines Gesamtbildes ist noch kein Ver¬
ständnis da. Weder wird eine Landschaft, eine Aussicht gewürdigt (während
der einzelne bunte Stein, die Blume, das bewegliche Tier, der hohe Baum
Interesse und Freude einflößt), noch wird an einem stolzen Bauwerk etwas
andres betrachtet als etwa die Höhe des Turmes oder die Menge der Fenster
und dergleichen, an einem Bilde etwas andres als Einzelfiguren und Einzel¬
heiten, und so auf andern Gebieten entsprechend. Endlich bleibt das Interesse
der Sinne kaum je beschaulich: man will etwas mit den wahrgenommnen
Sinnendingen anfangen, sich ihnen gegenüber bethätigen, die Blume zerzupfen
oder doch verwenden, das Tier greifen und anfühlen und vielleicht auch ein
bischen an seinem Leben hernmprobiren, wie an den leblosen Spielsachen, das
schwerwiegende handhaben, das Hohe erklettern, mit dem Bunten sich wenigstens
schmücken, den lauten Schall selbst hervorbringen, sei es durch Schußwaffe
oder Trommel und Trompete oder auch durch bloßen Steinwurf ins Wasser oder
den Abhang hinunter, und natürlich das Appetitliche anbeißen. Der Reife
und Gebildete trägt gewissermaßen in seinem Innern bestimmte Formen mit
herum, mit und unter denen er in die umgebende Welt schaut, und nur was
sich in diese Formen fassen läßt, das bedeutet auch seinen Sinnen etwas. Wenn
seine Sinnesthätigkeit weniger offen und lebendig erscheint und ist, so ist es
doch mehr das Zufällige, was er nicht sieht; das Ganze, Zusammengehörige,
das plastische Kunstwerk, das Musikstück, das schöne Landschaftsbild, das nimmt
erst er auf; statt der Empfänglichkeit für das Bunte bildet sich bei ihm ein
vielfach unterscheidender Farbensinn, ein eben solcher Sinn für Töne, für
plastische Maße, für Eigenart und Zusammenstimmung; ihm wird auch das
Charakteristische zum Schönen, das Ausdrucksvolle interessant. Und selbst jene
Sinne, die sozusagen am allersinnlichsten erscheinen, die sogenannten chemischen
Sinne (gegenüber den mechanischen und dynamischen), der Geschmack und der
Geruch, sie stumpfen sich in Wirklichkeit nicht ab, ja der Geruch entwickelt sich
sogar erst im Laufe des Lebens und mit höherer Kultur der Personen, aber
auch der erstere, während er eine aufdringliche Gier nicht mehr entstehen läßt,
verfeinert sich thatsächlich, unterscheidet aufs sicherste seine Verschiedenheit und
würdigt das Mannichfaltigste.


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[0322] Volk und Jugend weiter verfolgen. Ferner aber richtet sich die Sinnesempfünglichkeit der Jugend noch vor allem auf das, was Reize niedrer Art auf die Sinne ausübt, also auf das Vnntc, das Glänzende, das Süße und das Saftige, das stark Tönende und schallende, überhaupt aber — und zwar umso mehr, je mehr die ge¬ wöhnliche Welt bekannt geworden ist, und je mehr man sich von der zarten Kindesstufc entfernt — auf das Große, Ausgedehnte, Starke, Gewaltige; das ist es, was in einem gewissen Lebensalter die Seele erhebt, ihr eine Art von Begeisterung einflößt. Weiterhin nehmen die Sinne wesentlich nur erst das Einzelne mit Interesse auf, nicht das zusammenhängende Ganze; für das Ver¬ hältnis der Teile, für die Harmonie eines Gesamtbildes ist noch kein Ver¬ ständnis da. Weder wird eine Landschaft, eine Aussicht gewürdigt (während der einzelne bunte Stein, die Blume, das bewegliche Tier, der hohe Baum Interesse und Freude einflößt), noch wird an einem stolzen Bauwerk etwas andres betrachtet als etwa die Höhe des Turmes oder die Menge der Fenster und dergleichen, an einem Bilde etwas andres als Einzelfiguren und Einzel¬ heiten, und so auf andern Gebieten entsprechend. Endlich bleibt das Interesse der Sinne kaum je beschaulich: man will etwas mit den wahrgenommnen Sinnendingen anfangen, sich ihnen gegenüber bethätigen, die Blume zerzupfen oder doch verwenden, das Tier greifen und anfühlen und vielleicht auch ein bischen an seinem Leben hernmprobiren, wie an den leblosen Spielsachen, das schwerwiegende handhaben, das Hohe erklettern, mit dem Bunten sich wenigstens schmücken, den lauten Schall selbst hervorbringen, sei es durch Schußwaffe oder Trommel und Trompete oder auch durch bloßen Steinwurf ins Wasser oder den Abhang hinunter, und natürlich das Appetitliche anbeißen. Der Reife und Gebildete trägt gewissermaßen in seinem Innern bestimmte Formen mit herum, mit und unter denen er in die umgebende Welt schaut, und nur was sich in diese Formen fassen läßt, das bedeutet auch seinen Sinnen etwas. Wenn seine Sinnesthätigkeit weniger offen und lebendig erscheint und ist, so ist es doch mehr das Zufällige, was er nicht sieht; das Ganze, Zusammengehörige, das plastische Kunstwerk, das Musikstück, das schöne Landschaftsbild, das nimmt erst er auf; statt der Empfänglichkeit für das Bunte bildet sich bei ihm ein vielfach unterscheidender Farbensinn, ein eben solcher Sinn für Töne, für plastische Maße, für Eigenart und Zusammenstimmung; ihm wird auch das Charakteristische zum Schönen, das Ausdrucksvolle interessant. Und selbst jene Sinne, die sozusagen am allersinnlichsten erscheinen, die sogenannten chemischen Sinne (gegenüber den mechanischen und dynamischen), der Geschmack und der Geruch, sie stumpfen sich in Wirklichkeit nicht ab, ja der Geruch entwickelt sich sogar erst im Laufe des Lebens und mit höherer Kultur der Personen, aber auch der erstere, während er eine aufdringliche Gier nicht mehr entstehen läßt, verfeinert sich thatsächlich, unterscheidet aufs sicherste seine Verschiedenheit und würdigt das Mannichfaltigste.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/322>, abgerufen am 03.07.2024.