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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

etwa einfach auf die Hälfte sinkt, sondern auf einen sehr viel bescheidner"
Bruchteil) wird dem Verständnisse jener doch auch außerhalb ihrer liegenden
Sphäre dienlich werden.

Selbstverständlich kommt das Wesen der vollzognen Bildung, der er-
worbnen Reife zum Ausdruck in dem Leben der Sinne wie in der Phantasie, in
der Empfindung wie im Wollen, in den Urteilen wie in der Bethätigung. Aber
nicht daß dabei alles wirklich Vervollkommnung bedeutete. Es ist das Los und
Wesen der irdischen Entwicklungen, daß allerwärts Vorhandnes zergehen muß,
um Werdenden Raum zu geben. Die Knospenhülle öffnet sich und verkümmert
dann ihrerseits, um der Blüte Entfaltung zu ermöglichen, und die Blüte fällt
ab, wenn die Frucht ihr Wachstum beginnt. Daß sich auch in dem Menschen
Anlagen und Kräfte nach einander entwickeln, und daß die einen vor den andern,
die frühern vor den spätern weichen und zergehen oder doch zu zergehen in
Gefahr sind, wird nicht immer als Naturgesetz gefühlt und hingenommen.

Das Leben des Kindes beginnt, wie es sich aus dem rein Vegetativen
heraus entwickelt, als ein Leben der Sinne und bleibt geraume Zeit hindurch
nur ein solches Leben der Sinne, und noch längere Zeit hindurch steht es
wenigstens ganz im Vordergründe, und die beginnende geistige Entwicklung
schließt sich allerwärts deutlich an die Sinnesthütigkeit an. Auch die Periode
der Warumfragen, die sich in jedem Kindesleben einstellt, mehr oder weniger
energisch, vielseitig und anhaltend, führt im allgemeinen nicht von der Sinnen¬
welt hinweg, auch geht sie vorüber, nachdem von den erwachten Fragen so
viele unbeantwortet geblieben sind und der junge Geist inzwischen in eine zu¬
sammenhängende Arbeit -- durch die Schule -- genommen worden ist. Und
von deren unbequemen Zumutungen kehrt das Interesse immer wieder zur
freien Sinnenwelt zurück: hier ist die größte Lebendigkeit, die stärkste Erreg¬
barkeit oder Empfänglichkeit, das stärkste Erregungsbedürfnis. Durch die
Sinne sucht und findet das geistig-seelische Leben seine regelmüßige Nahrung.

Des Kindes Augen sehen schärfer und begieriger als die der Erwachsenen,
seine Ohren hören mit Lust auf alle möglichen Töne und Geräusche, die den
Erwachsenen nichts mehr bedeuten, sein Gaumen lechzt und wird entzückt wie
der des Erwachsenen kaum jemals und erfordert dabei nur sehr einfache, elemen¬
tare Genüsse. Aber der Vorzug, der in dieser Lebendigkeit des Sinnenlebens
liegt, ist doch nicht so groß, wie er scheinen mag. Die erhöhte Teilnahme
nach außen beruht auf der verhältnismäßigen Leere des Innern, auf dem
Mangel an Gedankenleben, an zusammenhängendem, eignem Geistesleben, und
in dem Maße, wie sich dieses bildet, tritt eben jene Eigenschaft zurück: die
Person ist dann verhältnismäßig mit äußern Eindrücken gesättigt, und die als
..zerstreut" Einherwandelnden hätten also vielmehr "konzentrirt" zu heißen.
Zu bedauern bleibt freilich jenes Absterben darum doch, und es rächt sich auch,
wenn es zu weit geht, an dem Innenleben; doch das wollen wir hier nicht


Grenzboten III 1897 40
Volk und Jugend

etwa einfach auf die Hälfte sinkt, sondern auf einen sehr viel bescheidner»
Bruchteil) wird dem Verständnisse jener doch auch außerhalb ihrer liegenden
Sphäre dienlich werden.

Selbstverständlich kommt das Wesen der vollzognen Bildung, der er-
worbnen Reife zum Ausdruck in dem Leben der Sinne wie in der Phantasie, in
der Empfindung wie im Wollen, in den Urteilen wie in der Bethätigung. Aber
nicht daß dabei alles wirklich Vervollkommnung bedeutete. Es ist das Los und
Wesen der irdischen Entwicklungen, daß allerwärts Vorhandnes zergehen muß,
um Werdenden Raum zu geben. Die Knospenhülle öffnet sich und verkümmert
dann ihrerseits, um der Blüte Entfaltung zu ermöglichen, und die Blüte fällt
ab, wenn die Frucht ihr Wachstum beginnt. Daß sich auch in dem Menschen
Anlagen und Kräfte nach einander entwickeln, und daß die einen vor den andern,
die frühern vor den spätern weichen und zergehen oder doch zu zergehen in
Gefahr sind, wird nicht immer als Naturgesetz gefühlt und hingenommen.

Das Leben des Kindes beginnt, wie es sich aus dem rein Vegetativen
heraus entwickelt, als ein Leben der Sinne und bleibt geraume Zeit hindurch
nur ein solches Leben der Sinne, und noch längere Zeit hindurch steht es
wenigstens ganz im Vordergründe, und die beginnende geistige Entwicklung
schließt sich allerwärts deutlich an die Sinnesthütigkeit an. Auch die Periode
der Warumfragen, die sich in jedem Kindesleben einstellt, mehr oder weniger
energisch, vielseitig und anhaltend, führt im allgemeinen nicht von der Sinnen¬
welt hinweg, auch geht sie vorüber, nachdem von den erwachten Fragen so
viele unbeantwortet geblieben sind und der junge Geist inzwischen in eine zu¬
sammenhängende Arbeit — durch die Schule — genommen worden ist. Und
von deren unbequemen Zumutungen kehrt das Interesse immer wieder zur
freien Sinnenwelt zurück: hier ist die größte Lebendigkeit, die stärkste Erreg¬
barkeit oder Empfänglichkeit, das stärkste Erregungsbedürfnis. Durch die
Sinne sucht und findet das geistig-seelische Leben seine regelmüßige Nahrung.

Des Kindes Augen sehen schärfer und begieriger als die der Erwachsenen,
seine Ohren hören mit Lust auf alle möglichen Töne und Geräusche, die den
Erwachsenen nichts mehr bedeuten, sein Gaumen lechzt und wird entzückt wie
der des Erwachsenen kaum jemals und erfordert dabei nur sehr einfache, elemen¬
tare Genüsse. Aber der Vorzug, der in dieser Lebendigkeit des Sinnenlebens
liegt, ist doch nicht so groß, wie er scheinen mag. Die erhöhte Teilnahme
nach außen beruht auf der verhältnismäßigen Leere des Innern, auf dem
Mangel an Gedankenleben, an zusammenhängendem, eignem Geistesleben, und
in dem Maße, wie sich dieses bildet, tritt eben jene Eigenschaft zurück: die
Person ist dann verhältnismäßig mit äußern Eindrücken gesättigt, und die als
..zerstreut" Einherwandelnden hätten also vielmehr „konzentrirt" zu heißen.
Zu bedauern bleibt freilich jenes Absterben darum doch, und es rächt sich auch,
wenn es zu weit geht, an dem Innenleben; doch das wollen wir hier nicht


Grenzboten III 1897 40
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[0321] Volk und Jugend etwa einfach auf die Hälfte sinkt, sondern auf einen sehr viel bescheidner» Bruchteil) wird dem Verständnisse jener doch auch außerhalb ihrer liegenden Sphäre dienlich werden. Selbstverständlich kommt das Wesen der vollzognen Bildung, der er- worbnen Reife zum Ausdruck in dem Leben der Sinne wie in der Phantasie, in der Empfindung wie im Wollen, in den Urteilen wie in der Bethätigung. Aber nicht daß dabei alles wirklich Vervollkommnung bedeutete. Es ist das Los und Wesen der irdischen Entwicklungen, daß allerwärts Vorhandnes zergehen muß, um Werdenden Raum zu geben. Die Knospenhülle öffnet sich und verkümmert dann ihrerseits, um der Blüte Entfaltung zu ermöglichen, und die Blüte fällt ab, wenn die Frucht ihr Wachstum beginnt. Daß sich auch in dem Menschen Anlagen und Kräfte nach einander entwickeln, und daß die einen vor den andern, die frühern vor den spätern weichen und zergehen oder doch zu zergehen in Gefahr sind, wird nicht immer als Naturgesetz gefühlt und hingenommen. Das Leben des Kindes beginnt, wie es sich aus dem rein Vegetativen heraus entwickelt, als ein Leben der Sinne und bleibt geraume Zeit hindurch nur ein solches Leben der Sinne, und noch längere Zeit hindurch steht es wenigstens ganz im Vordergründe, und die beginnende geistige Entwicklung schließt sich allerwärts deutlich an die Sinnesthütigkeit an. Auch die Periode der Warumfragen, die sich in jedem Kindesleben einstellt, mehr oder weniger energisch, vielseitig und anhaltend, führt im allgemeinen nicht von der Sinnen¬ welt hinweg, auch geht sie vorüber, nachdem von den erwachten Fragen so viele unbeantwortet geblieben sind und der junge Geist inzwischen in eine zu¬ sammenhängende Arbeit — durch die Schule — genommen worden ist. Und von deren unbequemen Zumutungen kehrt das Interesse immer wieder zur freien Sinnenwelt zurück: hier ist die größte Lebendigkeit, die stärkste Erreg¬ barkeit oder Empfänglichkeit, das stärkste Erregungsbedürfnis. Durch die Sinne sucht und findet das geistig-seelische Leben seine regelmüßige Nahrung. Des Kindes Augen sehen schärfer und begieriger als die der Erwachsenen, seine Ohren hören mit Lust auf alle möglichen Töne und Geräusche, die den Erwachsenen nichts mehr bedeuten, sein Gaumen lechzt und wird entzückt wie der des Erwachsenen kaum jemals und erfordert dabei nur sehr einfache, elemen¬ tare Genüsse. Aber der Vorzug, der in dieser Lebendigkeit des Sinnenlebens liegt, ist doch nicht so groß, wie er scheinen mag. Die erhöhte Teilnahme nach außen beruht auf der verhältnismäßigen Leere des Innern, auf dem Mangel an Gedankenleben, an zusammenhängendem, eignem Geistesleben, und in dem Maße, wie sich dieses bildet, tritt eben jene Eigenschaft zurück: die Person ist dann verhältnismäßig mit äußern Eindrücken gesättigt, und die als ..zerstreut" Einherwandelnden hätten also vielmehr „konzentrirt" zu heißen. Zu bedauern bleibt freilich jenes Absterben darum doch, und es rächt sich auch, wenn es zu weit geht, an dem Innenleben; doch das wollen wir hier nicht Grenzboten III 1897 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/321>, abgerufen am 04.07.2024.