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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

gelernt. Die Volksschriftstellerei war überdies in der Schweiz von andersher
zu Hause; 1761 hatte Johann Kaspar Hirzel, Stadtarzt in Zürich, sein Buch
"Die Wirtschaft eines philosophischen Bauern" herausgegeben, dessen Held
Kleinjogg, einem wirklichen Züricher Bauern, Jakob Guyer von Wermutschwyl,
nachgebildet, nach Hettner sehr lebendig gezeichnet ist, das anziehende ländliche
Genrebilder von faßlicher und überzeugender Lehrhaftigkeit enthält; 1781 war
dann Pestalozzis "Lieuhard und Gertrud" gefolgt. Außer diesen Büchern mag
Gotthelf Jung-Stillings Lebensgeschichte und Hebels, vielleicht auch Mösers
Schriften gekannt haben, und wahrscheinlich sind auch die Werke seiner ältern
Schweizer Zeitgenossen, Ulrich Hegners aus Winterthur und Heinrich Zschockes
(bekanntlich aus Magdeburg gebürtig, aber ganz Schweizer geworden), nicht
ohne Einfluß aus ihn geblieben. Beide waren, als der "Baueruspiegel" erschien,
noch am Leben, und einzelnes von ihnen, wie Zschockes "Goldmacherdorf,"
liegt doch in der Richtung von Gotthelfs Schaffen. Dennoch begann mit dem
"Baueruspiegel" ein neuer Zeitabschnitt der Volksschriftstellerei, richtiger, der
Volksschilderung. Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Immermanns "Münch-
hausen," mit dessen Oberhofidyll man in der Regel die neue Periode der
Schilderung des Vauernlebens beginnt, kam in einem Winkel der Schweiz das
Buch heraus, das dieses Bauernleben mit gewaltiger Kraft als eine Welt für
sich hinzustellen wagte -- was Immermann nicht gethan hat -- und zugleich
die unerbittliche Wahrheit der Lebensdarstellung, wenn auch nicht zu poetischen
Zwecken, doch im ganzen mit poetischen Mitteln, d. h. solchen der Anschauung
durchführte. Was die That des Pfarrers Bitzius für das Volksleben selbst,
also praktisch bedeutete, darüber ist gleich nach dem Erscheinen des Buches
hin- und hergestritten worden; was sie in der Geschichte der Litteratur, der
Dichtung bedeutet, können wir erst heute, nach sechzig Jahren beurteilen. Es
ist, wie gesagt, nicht mehr und nicht minder als das Auftreten des Natu¬
ralismus in der Litteratur, d. h. der Kunstrichtung, die nichts verschweigen,
nichts verdrehen, nicht komponiren, nicht verklären und verschönern, kurz, nicht
die Poesie der Dinge, sondern die Dinge selbst geben will, genau, wie sie sind.
Und wenn man zehnmal den Theoretikern des Naturalismus entgegenwirft,
daß das unmöglich sei: Gotthelf, der freilich an eine neue Kunstrichtung nicht
im entferntesten dachte, konnte sich mit vollem Recht rühmen, daß er die
Wahrheit gegeben habe; denn er hatte fast vierzig Jahre unter den Menschen
und Zuständen gelebt, die er schilderte, und hatte nicht nur (sich unbewußt)
die Anschauungskraft des Dichters, sondern auch den praktischen Verstand des
Sozialpolitikers, der nicht in die Gefahr kommen konnte, sich irgendwie über
die Richtigkeit und die Tragweite seiner Darstellung zu irren.

Man kann mit einiger Bestimmtheit behaupten, daß Gotthelf unter allen
Volksschriftstellern die größte Kenntnis des Volkes gehabt habe; seine Vorgänger
wie seine Nachfolger, namentlich die Schulnaturalisten, stehen darin weit hinter


Jeremias Gotthelf

gelernt. Die Volksschriftstellerei war überdies in der Schweiz von andersher
zu Hause; 1761 hatte Johann Kaspar Hirzel, Stadtarzt in Zürich, sein Buch
„Die Wirtschaft eines philosophischen Bauern" herausgegeben, dessen Held
Kleinjogg, einem wirklichen Züricher Bauern, Jakob Guyer von Wermutschwyl,
nachgebildet, nach Hettner sehr lebendig gezeichnet ist, das anziehende ländliche
Genrebilder von faßlicher und überzeugender Lehrhaftigkeit enthält; 1781 war
dann Pestalozzis „Lieuhard und Gertrud" gefolgt. Außer diesen Büchern mag
Gotthelf Jung-Stillings Lebensgeschichte und Hebels, vielleicht auch Mösers
Schriften gekannt haben, und wahrscheinlich sind auch die Werke seiner ältern
Schweizer Zeitgenossen, Ulrich Hegners aus Winterthur und Heinrich Zschockes
(bekanntlich aus Magdeburg gebürtig, aber ganz Schweizer geworden), nicht
ohne Einfluß aus ihn geblieben. Beide waren, als der „Baueruspiegel" erschien,
noch am Leben, und einzelnes von ihnen, wie Zschockes „Goldmacherdorf,"
liegt doch in der Richtung von Gotthelfs Schaffen. Dennoch begann mit dem
„Baueruspiegel" ein neuer Zeitabschnitt der Volksschriftstellerei, richtiger, der
Volksschilderung. Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Immermanns „Münch-
hausen," mit dessen Oberhofidyll man in der Regel die neue Periode der
Schilderung des Vauernlebens beginnt, kam in einem Winkel der Schweiz das
Buch heraus, das dieses Bauernleben mit gewaltiger Kraft als eine Welt für
sich hinzustellen wagte — was Immermann nicht gethan hat — und zugleich
die unerbittliche Wahrheit der Lebensdarstellung, wenn auch nicht zu poetischen
Zwecken, doch im ganzen mit poetischen Mitteln, d. h. solchen der Anschauung
durchführte. Was die That des Pfarrers Bitzius für das Volksleben selbst,
also praktisch bedeutete, darüber ist gleich nach dem Erscheinen des Buches
hin- und hergestritten worden; was sie in der Geschichte der Litteratur, der
Dichtung bedeutet, können wir erst heute, nach sechzig Jahren beurteilen. Es
ist, wie gesagt, nicht mehr und nicht minder als das Auftreten des Natu¬
ralismus in der Litteratur, d. h. der Kunstrichtung, die nichts verschweigen,
nichts verdrehen, nicht komponiren, nicht verklären und verschönern, kurz, nicht
die Poesie der Dinge, sondern die Dinge selbst geben will, genau, wie sie sind.
Und wenn man zehnmal den Theoretikern des Naturalismus entgegenwirft,
daß das unmöglich sei: Gotthelf, der freilich an eine neue Kunstrichtung nicht
im entferntesten dachte, konnte sich mit vollem Recht rühmen, daß er die
Wahrheit gegeben habe; denn er hatte fast vierzig Jahre unter den Menschen
und Zuständen gelebt, die er schilderte, und hatte nicht nur (sich unbewußt)
die Anschauungskraft des Dichters, sondern auch den praktischen Verstand des
Sozialpolitikers, der nicht in die Gefahr kommen konnte, sich irgendwie über
die Richtigkeit und die Tragweite seiner Darstellung zu irren.

Man kann mit einiger Bestimmtheit behaupten, daß Gotthelf unter allen
Volksschriftstellern die größte Kenntnis des Volkes gehabt habe; seine Vorgänger
wie seine Nachfolger, namentlich die Schulnaturalisten, stehen darin weit hinter


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[0283] Jeremias Gotthelf gelernt. Die Volksschriftstellerei war überdies in der Schweiz von andersher zu Hause; 1761 hatte Johann Kaspar Hirzel, Stadtarzt in Zürich, sein Buch „Die Wirtschaft eines philosophischen Bauern" herausgegeben, dessen Held Kleinjogg, einem wirklichen Züricher Bauern, Jakob Guyer von Wermutschwyl, nachgebildet, nach Hettner sehr lebendig gezeichnet ist, das anziehende ländliche Genrebilder von faßlicher und überzeugender Lehrhaftigkeit enthält; 1781 war dann Pestalozzis „Lieuhard und Gertrud" gefolgt. Außer diesen Büchern mag Gotthelf Jung-Stillings Lebensgeschichte und Hebels, vielleicht auch Mösers Schriften gekannt haben, und wahrscheinlich sind auch die Werke seiner ältern Schweizer Zeitgenossen, Ulrich Hegners aus Winterthur und Heinrich Zschockes (bekanntlich aus Magdeburg gebürtig, aber ganz Schweizer geworden), nicht ohne Einfluß aus ihn geblieben. Beide waren, als der „Baueruspiegel" erschien, noch am Leben, und einzelnes von ihnen, wie Zschockes „Goldmacherdorf," liegt doch in der Richtung von Gotthelfs Schaffen. Dennoch begann mit dem „Baueruspiegel" ein neuer Zeitabschnitt der Volksschriftstellerei, richtiger, der Volksschilderung. Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Immermanns „Münch- hausen," mit dessen Oberhofidyll man in der Regel die neue Periode der Schilderung des Vauernlebens beginnt, kam in einem Winkel der Schweiz das Buch heraus, das dieses Bauernleben mit gewaltiger Kraft als eine Welt für sich hinzustellen wagte — was Immermann nicht gethan hat — und zugleich die unerbittliche Wahrheit der Lebensdarstellung, wenn auch nicht zu poetischen Zwecken, doch im ganzen mit poetischen Mitteln, d. h. solchen der Anschauung durchführte. Was die That des Pfarrers Bitzius für das Volksleben selbst, also praktisch bedeutete, darüber ist gleich nach dem Erscheinen des Buches hin- und hergestritten worden; was sie in der Geschichte der Litteratur, der Dichtung bedeutet, können wir erst heute, nach sechzig Jahren beurteilen. Es ist, wie gesagt, nicht mehr und nicht minder als das Auftreten des Natu¬ ralismus in der Litteratur, d. h. der Kunstrichtung, die nichts verschweigen, nichts verdrehen, nicht komponiren, nicht verklären und verschönern, kurz, nicht die Poesie der Dinge, sondern die Dinge selbst geben will, genau, wie sie sind. Und wenn man zehnmal den Theoretikern des Naturalismus entgegenwirft, daß das unmöglich sei: Gotthelf, der freilich an eine neue Kunstrichtung nicht im entferntesten dachte, konnte sich mit vollem Recht rühmen, daß er die Wahrheit gegeben habe; denn er hatte fast vierzig Jahre unter den Menschen und Zuständen gelebt, die er schilderte, und hatte nicht nur (sich unbewußt) die Anschauungskraft des Dichters, sondern auch den praktischen Verstand des Sozialpolitikers, der nicht in die Gefahr kommen konnte, sich irgendwie über die Richtigkeit und die Tragweite seiner Darstellung zu irren. Man kann mit einiger Bestimmtheit behaupten, daß Gotthelf unter allen Volksschriftstellern die größte Kenntnis des Volkes gehabt habe; seine Vorgänger wie seine Nachfolger, namentlich die Schulnaturalisten, stehen darin weit hinter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/283>, abgerufen am 29.12.2024.