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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Zeremias Gotthelf

ihm zurück. Die Ursachen, liegen auf der Hand: er hatte sein Leben nicht
nur unter dem Volke verbracht, er hatte auch wirklich mit dem Volke gelebt,
als Pfarrer und Schweizer Bürger, war mit ihm völlig verwachsen und kannte
keine andern Interessen als die des Volkes. Was ihn über das Volk erhob,
war nicht sowohl seine größere Bildung oder gar seine gesellschaftliche Stellung,
sondern seine das Durchschnittsmaß weit überragende Persönlichkeit, die nicht
Gefahr lief zu verbauern, wie man zu sagen pflegt, ebenso wenig aber, sich
vom Volke und damit von dem Boden der Natur loszulösen. Erscheinungen
wie Gotthelf sind äußerst selten, zumal in Deutschland, wo sich jeder Gebildete
seiner Bildung stark bewußt ist und, wenn er mit dem Volte in Verbindung
tritt, um es zu "heben," das Gefühl der Herablassung nicht leicht los wird,
während andrerseits die Leute, die sich aus eigner Kraft aus dem Volke zu
größerer Bildung emporarbeiten, wenn sie doch im Volke stehen bleiben, meist
Sonderlinge werden. Sehr nahe liegt uns Modernen der Vergleich Jeremias
Gotthelfs mit Leo Tolstoi. Zola und die meisten andern französischen und
deutschen Naturalisten stehen überhaupt nicht im Volke, es sind Gebildete, die
das Volk mehr oder minder gut beobachten und nach ihren Beobachtungen
darstellen, die Russen aber leben mehr mit dem Volke als wir Westeuropäer.
Mitten unter ihm steht jedoch auch von den Nüssen nur einer, eben Tolstoi,
und er schafft denn auch wie Gotthelf sozusagen aus der Volksseele heraus.
Doch ist bei Tolstoi ein Akt der Entsagung dem Leben im Volke voraus¬
gegangen, und im Laufe seiner Entwicklung hat er sich dem Schicksal, als
Reformator aufzutreten, nicht entziehen können, während es Bitzius nie in den
Sinn kommen konnte, daß er zu Gunsten des Volkes auf etwas zu verzichten
habe, seine Pfarrerstellung ihn davor bewahrte, sich als Reformator zu fühlen,
er auch als Schriftsteller der Pfarrer geblieben ist. Der Unterschied der beiden
großen Kenner der Volksseele erklärt sich zum Teil aus äußern Umständen,
hauptsächlich aber aus dem Unterschiede des Germanen- und des Slawentums,
der russischen und der schweizerischen Verhältnisse und bedarf kaum der Aus¬
einandersetzung. Uns Deutschen wird der Russe bei all seiner Größe leicht
als krankhaft, der Schweizer dagegen als durchaus gesund erscheinen, und diese
Gesundheit gleicht keineswegs der Beschränktheit, wenn auch eine gewisse
"Protzerei" bei Gotthelf manchmal stört. Alles in allem ist er doch eine ganz
einzige Erscheinung, und alle, die auf das Volk und für das Volk wirken
wollen, nicht bloß unsre Naturalisten, haben dringende Veranlassung, sich mit
Gotthelf eingehend zu beschäftigen.

Der Boden, auf dem er, fest wie eine starke Eiche, steht, ist im ganzen
die Schweiz, im besondern das "Bernbiet," das Gebiet des Kantons Bern,
noch "besondrer" die Teile des Kantons, die Emmenthal und Oberaargau heißen.
Wie alle Schweizer, so sind auch die Bewohner dieser Gegenden nichts weniger
als das, was man ein sympathisches Volk nennt, es fehlt ihrem Charakter


Zeremias Gotthelf

ihm zurück. Die Ursachen, liegen auf der Hand: er hatte sein Leben nicht
nur unter dem Volke verbracht, er hatte auch wirklich mit dem Volke gelebt,
als Pfarrer und Schweizer Bürger, war mit ihm völlig verwachsen und kannte
keine andern Interessen als die des Volkes. Was ihn über das Volk erhob,
war nicht sowohl seine größere Bildung oder gar seine gesellschaftliche Stellung,
sondern seine das Durchschnittsmaß weit überragende Persönlichkeit, die nicht
Gefahr lief zu verbauern, wie man zu sagen pflegt, ebenso wenig aber, sich
vom Volke und damit von dem Boden der Natur loszulösen. Erscheinungen
wie Gotthelf sind äußerst selten, zumal in Deutschland, wo sich jeder Gebildete
seiner Bildung stark bewußt ist und, wenn er mit dem Volte in Verbindung
tritt, um es zu „heben," das Gefühl der Herablassung nicht leicht los wird,
während andrerseits die Leute, die sich aus eigner Kraft aus dem Volke zu
größerer Bildung emporarbeiten, wenn sie doch im Volke stehen bleiben, meist
Sonderlinge werden. Sehr nahe liegt uns Modernen der Vergleich Jeremias
Gotthelfs mit Leo Tolstoi. Zola und die meisten andern französischen und
deutschen Naturalisten stehen überhaupt nicht im Volke, es sind Gebildete, die
das Volk mehr oder minder gut beobachten und nach ihren Beobachtungen
darstellen, die Russen aber leben mehr mit dem Volke als wir Westeuropäer.
Mitten unter ihm steht jedoch auch von den Nüssen nur einer, eben Tolstoi,
und er schafft denn auch wie Gotthelf sozusagen aus der Volksseele heraus.
Doch ist bei Tolstoi ein Akt der Entsagung dem Leben im Volke voraus¬
gegangen, und im Laufe seiner Entwicklung hat er sich dem Schicksal, als
Reformator aufzutreten, nicht entziehen können, während es Bitzius nie in den
Sinn kommen konnte, daß er zu Gunsten des Volkes auf etwas zu verzichten
habe, seine Pfarrerstellung ihn davor bewahrte, sich als Reformator zu fühlen,
er auch als Schriftsteller der Pfarrer geblieben ist. Der Unterschied der beiden
großen Kenner der Volksseele erklärt sich zum Teil aus äußern Umständen,
hauptsächlich aber aus dem Unterschiede des Germanen- und des Slawentums,
der russischen und der schweizerischen Verhältnisse und bedarf kaum der Aus¬
einandersetzung. Uns Deutschen wird der Russe bei all seiner Größe leicht
als krankhaft, der Schweizer dagegen als durchaus gesund erscheinen, und diese
Gesundheit gleicht keineswegs der Beschränktheit, wenn auch eine gewisse
„Protzerei" bei Gotthelf manchmal stört. Alles in allem ist er doch eine ganz
einzige Erscheinung, und alle, die auf das Volk und für das Volk wirken
wollen, nicht bloß unsre Naturalisten, haben dringende Veranlassung, sich mit
Gotthelf eingehend zu beschäftigen.

Der Boden, auf dem er, fest wie eine starke Eiche, steht, ist im ganzen
die Schweiz, im besondern das „Bernbiet," das Gebiet des Kantons Bern,
noch „besondrer" die Teile des Kantons, die Emmenthal und Oberaargau heißen.
Wie alle Schweizer, so sind auch die Bewohner dieser Gegenden nichts weniger
als das, was man ein sympathisches Volk nennt, es fehlt ihrem Charakter


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[0284] Zeremias Gotthelf ihm zurück. Die Ursachen, liegen auf der Hand: er hatte sein Leben nicht nur unter dem Volke verbracht, er hatte auch wirklich mit dem Volke gelebt, als Pfarrer und Schweizer Bürger, war mit ihm völlig verwachsen und kannte keine andern Interessen als die des Volkes. Was ihn über das Volk erhob, war nicht sowohl seine größere Bildung oder gar seine gesellschaftliche Stellung, sondern seine das Durchschnittsmaß weit überragende Persönlichkeit, die nicht Gefahr lief zu verbauern, wie man zu sagen pflegt, ebenso wenig aber, sich vom Volke und damit von dem Boden der Natur loszulösen. Erscheinungen wie Gotthelf sind äußerst selten, zumal in Deutschland, wo sich jeder Gebildete seiner Bildung stark bewußt ist und, wenn er mit dem Volte in Verbindung tritt, um es zu „heben," das Gefühl der Herablassung nicht leicht los wird, während andrerseits die Leute, die sich aus eigner Kraft aus dem Volke zu größerer Bildung emporarbeiten, wenn sie doch im Volke stehen bleiben, meist Sonderlinge werden. Sehr nahe liegt uns Modernen der Vergleich Jeremias Gotthelfs mit Leo Tolstoi. Zola und die meisten andern französischen und deutschen Naturalisten stehen überhaupt nicht im Volke, es sind Gebildete, die das Volk mehr oder minder gut beobachten und nach ihren Beobachtungen darstellen, die Russen aber leben mehr mit dem Volke als wir Westeuropäer. Mitten unter ihm steht jedoch auch von den Nüssen nur einer, eben Tolstoi, und er schafft denn auch wie Gotthelf sozusagen aus der Volksseele heraus. Doch ist bei Tolstoi ein Akt der Entsagung dem Leben im Volke voraus¬ gegangen, und im Laufe seiner Entwicklung hat er sich dem Schicksal, als Reformator aufzutreten, nicht entziehen können, während es Bitzius nie in den Sinn kommen konnte, daß er zu Gunsten des Volkes auf etwas zu verzichten habe, seine Pfarrerstellung ihn davor bewahrte, sich als Reformator zu fühlen, er auch als Schriftsteller der Pfarrer geblieben ist. Der Unterschied der beiden großen Kenner der Volksseele erklärt sich zum Teil aus äußern Umständen, hauptsächlich aber aus dem Unterschiede des Germanen- und des Slawentums, der russischen und der schweizerischen Verhältnisse und bedarf kaum der Aus¬ einandersetzung. Uns Deutschen wird der Russe bei all seiner Größe leicht als krankhaft, der Schweizer dagegen als durchaus gesund erscheinen, und diese Gesundheit gleicht keineswegs der Beschränktheit, wenn auch eine gewisse „Protzerei" bei Gotthelf manchmal stört. Alles in allem ist er doch eine ganz einzige Erscheinung, und alle, die auf das Volk und für das Volk wirken wollen, nicht bloß unsre Naturalisten, haben dringende Veranlassung, sich mit Gotthelf eingehend zu beschäftigen. Der Boden, auf dem er, fest wie eine starke Eiche, steht, ist im ganzen die Schweiz, im besondern das „Bernbiet," das Gebiet des Kantons Bern, noch „besondrer" die Teile des Kantons, die Emmenthal und Oberaargau heißen. Wie alle Schweizer, so sind auch die Bewohner dieser Gegenden nichts weniger als das, was man ein sympathisches Volk nennt, es fehlt ihrem Charakter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/284>, abgerufen am 24.07.2024.