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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

wenigen Sklaven, er wisse sich daher gar keinen Rat mehr. Vorrates rät ihm
nun, die Verwandten mit Spinnen und Weben für den Verkauf zu beschäftigen.
Aristarch erwidert, das gehe doch nicht an, die Frauen seien doch keine
Sklavinnen, sondern Freie. Sokrates überzeugt ihn, daß er dadurch diesen
Frauen nicht allein kein Unrecht zufügen, sondern einen großen Dienst erweisen
würde, und sein Rat übt die erfreulichste Wirkung. Die interessanten volks¬
wirtschaftlichen Betrachtungen, die sich an dieses Gespräch knüpfen lassen, ge¬
hören nicht hierher, aber ich frage: Wie viel unter je tausend christlichen
Männern würden heute wohl bereit sein, sich bei eignem dürftigen Einkommen mit
der Fürsorge für ein Dutzend Schwestern, Muhmen und Basen zu beladen?
Und in dem Gespräch wird mit keinem Wort angedeutet, daß Aristarch be¬
sonders edel oder großmütig gehandelt Hütte; was er thut, erscheint als die
Erfüllung einer ganz selbstverständlichen Pflicht.*) Also in der Erfüllung der
Liebespflicht gegen Verwandte, Freunde, Standes- und Volksgenossen haben
die Heiden uns heutigen Christen nicht nachgestanden. Die Bekämpfung der
Feinde aber gilt heute nicht minder als strenge Pflicht wie damals. Wird
doch das ganze öffentliche Leben vom Kampfe der Klaffen, Verufsstände, Kon¬
fessionen, Nationalitäten und Staaten gegen einander beherrscht, und ein Mann,
der sich an diesem Kampfe nicht beteiligen will, der zum Frieden und zur
Versöhnung mahnt, der die Gegner seiner eignen Partei oder Nationalität ent¬
schuldigt oder wohl gar ihr Recht anerkennt, der wird grober Pflichtverletzung,
unter Umständen des Vaterlandsverrats angeklagt und gefährdet seine Stellung
in der Gesellschaft, nicht selten seine wirtschaftliche Existenz. Wie in aller
Welt soll es denn unter diesen Umständen ein Geistlicher fertig bringen, ohne
unwürdige Sophistenkünste die Feindesliebe zu lehren? Soll er etwa lehren,
der Christ begnüge sich damit, den Gegner lahm zu schießen und lasse ihm
dann sogar Pflege angedeihen, während ihm mancher Heide statt dessen auch
noch die Nase abschneiden würde? Oder der Christ schicke der Frau seines
politischen Gegners, den er ins Gefängnis oder um sein Einkommen gebracht
hat, Bettelsuppen, und das sei nun die christliche Feindesliebe? Von seinen Zcit-
und Volksgenossen ist denn auch Christus vollkommen richtig verstanden worden;
sie haben erkannt, daß seine Lehre ihre bürgerliche Ordnung in Gefahr bringe,
und stimmten dem Kaiphas bei, der meinte, es sei besser, daß ein Mensch für
das Volk sterbe, als daß das ganze Volk zu Grunde gehe. Die Anklagepunkte,
auf die hin Christus verurteilt worden ist, waren nur Vorwände, der eigent¬
liche Grund wurde nicht ausgesprochen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem



*) Das starke Gefühl der Verpflichtung gegen alle Familienglieder hat sich auf die heutigen
Griechen vererbt- Kein junger Mann, versichern Kenner des Volks, heiratet eher, als bis seine
Schwestern versorgt sind, und verwundert fragt man dort Europäer" wie kommt es denn, daß
sich so viele von euern Mädchen als Gouvernanten in der Welt herumschlagen müssen, haben
sie denn keine Brüder?
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wenigen Sklaven, er wisse sich daher gar keinen Rat mehr. Vorrates rät ihm
nun, die Verwandten mit Spinnen und Weben für den Verkauf zu beschäftigen.
Aristarch erwidert, das gehe doch nicht an, die Frauen seien doch keine
Sklavinnen, sondern Freie. Sokrates überzeugt ihn, daß er dadurch diesen
Frauen nicht allein kein Unrecht zufügen, sondern einen großen Dienst erweisen
würde, und sein Rat übt die erfreulichste Wirkung. Die interessanten volks¬
wirtschaftlichen Betrachtungen, die sich an dieses Gespräch knüpfen lassen, ge¬
hören nicht hierher, aber ich frage: Wie viel unter je tausend christlichen
Männern würden heute wohl bereit sein, sich bei eignem dürftigen Einkommen mit
der Fürsorge für ein Dutzend Schwestern, Muhmen und Basen zu beladen?
Und in dem Gespräch wird mit keinem Wort angedeutet, daß Aristarch be¬
sonders edel oder großmütig gehandelt Hütte; was er thut, erscheint als die
Erfüllung einer ganz selbstverständlichen Pflicht.*) Also in der Erfüllung der
Liebespflicht gegen Verwandte, Freunde, Standes- und Volksgenossen haben
die Heiden uns heutigen Christen nicht nachgestanden. Die Bekämpfung der
Feinde aber gilt heute nicht minder als strenge Pflicht wie damals. Wird
doch das ganze öffentliche Leben vom Kampfe der Klaffen, Verufsstände, Kon¬
fessionen, Nationalitäten und Staaten gegen einander beherrscht, und ein Mann,
der sich an diesem Kampfe nicht beteiligen will, der zum Frieden und zur
Versöhnung mahnt, der die Gegner seiner eignen Partei oder Nationalität ent¬
schuldigt oder wohl gar ihr Recht anerkennt, der wird grober Pflichtverletzung,
unter Umständen des Vaterlandsverrats angeklagt und gefährdet seine Stellung
in der Gesellschaft, nicht selten seine wirtschaftliche Existenz. Wie in aller
Welt soll es denn unter diesen Umständen ein Geistlicher fertig bringen, ohne
unwürdige Sophistenkünste die Feindesliebe zu lehren? Soll er etwa lehren,
der Christ begnüge sich damit, den Gegner lahm zu schießen und lasse ihm
dann sogar Pflege angedeihen, während ihm mancher Heide statt dessen auch
noch die Nase abschneiden würde? Oder der Christ schicke der Frau seines
politischen Gegners, den er ins Gefängnis oder um sein Einkommen gebracht
hat, Bettelsuppen, und das sei nun die christliche Feindesliebe? Von seinen Zcit-
und Volksgenossen ist denn auch Christus vollkommen richtig verstanden worden;
sie haben erkannt, daß seine Lehre ihre bürgerliche Ordnung in Gefahr bringe,
und stimmten dem Kaiphas bei, der meinte, es sei besser, daß ein Mensch für
das Volk sterbe, als daß das ganze Volk zu Grunde gehe. Die Anklagepunkte,
auf die hin Christus verurteilt worden ist, waren nur Vorwände, der eigent¬
liche Grund wurde nicht ausgesprochen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem



*) Das starke Gefühl der Verpflichtung gegen alle Familienglieder hat sich auf die heutigen
Griechen vererbt- Kein junger Mann, versichern Kenner des Volks, heiratet eher, als bis seine
Schwestern versorgt sind, und verwundert fragt man dort Europäer" wie kommt es denn, daß
sich so viele von euern Mädchen als Gouvernanten in der Welt herumschlagen müssen, haben
sie denn keine Brüder?
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/272>, abgerufen am 29.12.2024.