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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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familie stammenden Frau, die mit ihrem Liebhaber, einem einflußreichen Parla¬
mentarier der nach 1859 herrschenden liberalen Reformpartei, ausgemacht hat,
daß ihr Mann keine Zukunft mehr habe. Besonders kunstvoll ist eine Er¬
zählung in Briefen (Marianne) aus dem Leben kleinbürgerlicher Leute, die sich
fast ganz in dem Gärtchen der Mietkaserne abspielt, wo der Erzähler ein
Zimmer bewohnt. Sodann: Die Steinklopfer, eine Geschichte zweier Arbeiter
an der Semmeringbahn, ganz wahr und schonungslos im Detail und zunächst
so hoffnungsarm, daß man sich fragt, wozu denn das Ganze erzählt wird.
Aber es hat nichts von der Widerwärtigkeit an sich, worin sich heute die Er¬
zähler solcher Geschichten aus dem täglichen Leben des niedrigsten Volkes nicht
genng thun können, und der Schluß ist versöhnlich. Der Band enthält noch
fünf weitere Novellen. Den meisten ist in der Form eigentümlich, daß der
Erzähler mit auf den Schauplatz der Handlung tritt. Aber abgesehen davon:
sie haben alle, um dieses Modewort hier einmal zu gebrauchen, eine persönliche
Note. Und die Persönlichkeit ist, was keineswegs immer der Fall ist, wo
man das Wort anwendet, dem Leser sympathisch. Sie hat viel Gemüt und
ist nicht im mindesten blasirt, obwohl sie vieles durchgemacht hat.

Und nun kommen wir zu einer Königin unter ihren Genossinnen, einer
zum vollständigen Roman ausgeführten landschaftlichen Erzählung von Sophus
Bauditz: Wildmoorprinzeß, übersetzt von Mathilde Mann (Leipzig,
Grnnow). Wie prächtig und echt wird da Jütland geschildert mit seiner
welligen braunen Heide und dem weitgedehnten Grünland, mit den tüchtigen,
ernsten, etwas schwerfälligen und manchmal auch schwermütigen Menschen auf
den Bauerstellen und Gutshöfen, ihr gesundes und meist auch befriedigendes
Leben, in das aber schon die Wetterzeichen der städtischen Überkultur von
Kopenhagen her hereinlenchten. Allerlei Gestalten laufen hin und her zwischen
den Gütern, mit deren Besitzern sich der Roman beschäftigt, die nicht hin¬
gehören auf diesen Boden, und die nun Verwicklungen einleiten, teils zum
Guten, teils aber auch zum Bösen. Manche darunter sind anch nur komische
Figuren, wie der zum Bauern gewordne frühere Stadtkrämer oder der Amts¬
richter mit der goldnen Tressenmütze, der seiner Ansicht nach zu vornehm ist
für diesen Aufenthalt. Auf einem Gute, zu dem ein großes Wildmoor gehört,
wohnt die nach ihm benannte, ein höchst begabtes und ganz natürliches junges
Mädchen mit eiuer prächtigen alten Tante und einem nicht ganz für voll
geltenden Onkel. Ihre Eltern sind lange tot, das Gut ist mit Hypotheken
überlastet, sie selbst wird von einem jungen Grasen von einem Nachbargnte
umworben, und wenn sie den nähme mit seinem vielen Gelde und seinem
überaus braven, treuen, neufundländerartigeu Gemüte, so hätte Tante Rosa
keine Sorgen mehr. Aber dem anmutigen Wildfang ist der Graf nicht inter-
essant genug, und die Sorgen steigen immer drohender auf. Der Verkehr
zwischen deu beiden Gütern geht weiter. Ein Ingenieur aus Kopenhagen, ein


Grenzboten III 18S7 28

familie stammenden Frau, die mit ihrem Liebhaber, einem einflußreichen Parla¬
mentarier der nach 1859 herrschenden liberalen Reformpartei, ausgemacht hat,
daß ihr Mann keine Zukunft mehr habe. Besonders kunstvoll ist eine Er¬
zählung in Briefen (Marianne) aus dem Leben kleinbürgerlicher Leute, die sich
fast ganz in dem Gärtchen der Mietkaserne abspielt, wo der Erzähler ein
Zimmer bewohnt. Sodann: Die Steinklopfer, eine Geschichte zweier Arbeiter
an der Semmeringbahn, ganz wahr und schonungslos im Detail und zunächst
so hoffnungsarm, daß man sich fragt, wozu denn das Ganze erzählt wird.
Aber es hat nichts von der Widerwärtigkeit an sich, worin sich heute die Er¬
zähler solcher Geschichten aus dem täglichen Leben des niedrigsten Volkes nicht
genng thun können, und der Schluß ist versöhnlich. Der Band enthält noch
fünf weitere Novellen. Den meisten ist in der Form eigentümlich, daß der
Erzähler mit auf den Schauplatz der Handlung tritt. Aber abgesehen davon:
sie haben alle, um dieses Modewort hier einmal zu gebrauchen, eine persönliche
Note. Und die Persönlichkeit ist, was keineswegs immer der Fall ist, wo
man das Wort anwendet, dem Leser sympathisch. Sie hat viel Gemüt und
ist nicht im mindesten blasirt, obwohl sie vieles durchgemacht hat.

Und nun kommen wir zu einer Königin unter ihren Genossinnen, einer
zum vollständigen Roman ausgeführten landschaftlichen Erzählung von Sophus
Bauditz: Wildmoorprinzeß, übersetzt von Mathilde Mann (Leipzig,
Grnnow). Wie prächtig und echt wird da Jütland geschildert mit seiner
welligen braunen Heide und dem weitgedehnten Grünland, mit den tüchtigen,
ernsten, etwas schwerfälligen und manchmal auch schwermütigen Menschen auf
den Bauerstellen und Gutshöfen, ihr gesundes und meist auch befriedigendes
Leben, in das aber schon die Wetterzeichen der städtischen Überkultur von
Kopenhagen her hereinlenchten. Allerlei Gestalten laufen hin und her zwischen
den Gütern, mit deren Besitzern sich der Roman beschäftigt, die nicht hin¬
gehören auf diesen Boden, und die nun Verwicklungen einleiten, teils zum
Guten, teils aber auch zum Bösen. Manche darunter sind anch nur komische
Figuren, wie der zum Bauern gewordne frühere Stadtkrämer oder der Amts¬
richter mit der goldnen Tressenmütze, der seiner Ansicht nach zu vornehm ist
für diesen Aufenthalt. Auf einem Gute, zu dem ein großes Wildmoor gehört,
wohnt die nach ihm benannte, ein höchst begabtes und ganz natürliches junges
Mädchen mit eiuer prächtigen alten Tante und einem nicht ganz für voll
geltenden Onkel. Ihre Eltern sind lange tot, das Gut ist mit Hypotheken
überlastet, sie selbst wird von einem jungen Grasen von einem Nachbargnte
umworben, und wenn sie den nähme mit seinem vielen Gelde und seinem
überaus braven, treuen, neufundländerartigeu Gemüte, so hätte Tante Rosa
keine Sorgen mehr. Aber dem anmutigen Wildfang ist der Graf nicht inter-
essant genug, und die Sorgen steigen immer drohender auf. Der Verkehr
zwischen deu beiden Gütern geht weiter. Ein Ingenieur aus Kopenhagen, ein


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[0225] familie stammenden Frau, die mit ihrem Liebhaber, einem einflußreichen Parla¬ mentarier der nach 1859 herrschenden liberalen Reformpartei, ausgemacht hat, daß ihr Mann keine Zukunft mehr habe. Besonders kunstvoll ist eine Er¬ zählung in Briefen (Marianne) aus dem Leben kleinbürgerlicher Leute, die sich fast ganz in dem Gärtchen der Mietkaserne abspielt, wo der Erzähler ein Zimmer bewohnt. Sodann: Die Steinklopfer, eine Geschichte zweier Arbeiter an der Semmeringbahn, ganz wahr und schonungslos im Detail und zunächst so hoffnungsarm, daß man sich fragt, wozu denn das Ganze erzählt wird. Aber es hat nichts von der Widerwärtigkeit an sich, worin sich heute die Er¬ zähler solcher Geschichten aus dem täglichen Leben des niedrigsten Volkes nicht genng thun können, und der Schluß ist versöhnlich. Der Band enthält noch fünf weitere Novellen. Den meisten ist in der Form eigentümlich, daß der Erzähler mit auf den Schauplatz der Handlung tritt. Aber abgesehen davon: sie haben alle, um dieses Modewort hier einmal zu gebrauchen, eine persönliche Note. Und die Persönlichkeit ist, was keineswegs immer der Fall ist, wo man das Wort anwendet, dem Leser sympathisch. Sie hat viel Gemüt und ist nicht im mindesten blasirt, obwohl sie vieles durchgemacht hat. Und nun kommen wir zu einer Königin unter ihren Genossinnen, einer zum vollständigen Roman ausgeführten landschaftlichen Erzählung von Sophus Bauditz: Wildmoorprinzeß, übersetzt von Mathilde Mann (Leipzig, Grnnow). Wie prächtig und echt wird da Jütland geschildert mit seiner welligen braunen Heide und dem weitgedehnten Grünland, mit den tüchtigen, ernsten, etwas schwerfälligen und manchmal auch schwermütigen Menschen auf den Bauerstellen und Gutshöfen, ihr gesundes und meist auch befriedigendes Leben, in das aber schon die Wetterzeichen der städtischen Überkultur von Kopenhagen her hereinlenchten. Allerlei Gestalten laufen hin und her zwischen den Gütern, mit deren Besitzern sich der Roman beschäftigt, die nicht hin¬ gehören auf diesen Boden, und die nun Verwicklungen einleiten, teils zum Guten, teils aber auch zum Bösen. Manche darunter sind anch nur komische Figuren, wie der zum Bauern gewordne frühere Stadtkrämer oder der Amts¬ richter mit der goldnen Tressenmütze, der seiner Ansicht nach zu vornehm ist für diesen Aufenthalt. Auf einem Gute, zu dem ein großes Wildmoor gehört, wohnt die nach ihm benannte, ein höchst begabtes und ganz natürliches junges Mädchen mit eiuer prächtigen alten Tante und einem nicht ganz für voll geltenden Onkel. Ihre Eltern sind lange tot, das Gut ist mit Hypotheken überlastet, sie selbst wird von einem jungen Grasen von einem Nachbargnte umworben, und wenn sie den nähme mit seinem vielen Gelde und seinem überaus braven, treuen, neufundländerartigeu Gemüte, so hätte Tante Rosa keine Sorgen mehr. Aber dem anmutigen Wildfang ist der Graf nicht inter- essant genug, und die Sorgen steigen immer drohender auf. Der Verkehr zwischen deu beiden Gütern geht weiter. Ein Ingenieur aus Kopenhagen, ein Grenzboten III 18S7 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/225>, abgerufen am 03.07.2024.