Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

werden benutzt, hie und da auch ein wenig in der Erzählung ihre Rede¬
wendungen nachgeahmt, von Geschichtsdaten und Ortsbeschreibung wird reichlich
Gebrauch gemacht. Das Antiquarische war bei dem zeitlich zurückliegenden
Stoffe nicht zu umgehen, und abgesehen von dem Lehrhaften, das dadurch in
die Erzählung gekommen ist, findet sich viel menschlich schönes, was von der
Zeit unabhängig ist, und manches darunter, was sehr ergreift. Auch ein ver¬
wöhnter Leser wird die Empfindung haben, daß ihm hier ein vortrefflicher
historischer Roman, nicht nur an Inhalt und Gedanken, denn die verstehen
sich bei Raabe von selbst, sondern auch in der Kunstform geboten wird. In
der für solche Bücher üblichen Form hat sich allerdings im letzten Menschen¬
alter einiges gegen früher geändert. Das jetzige Geschlecht lebt schneller, es
will auch schneller erzählt haben, mehr konzentrirte Eindrücke, nicht so chronik-
artig gemütlich und ausführlich, daß selbst die Schrecken des Krieges noch
harmlos unterhaltend, aber nicht schrecklich wirken; wer so etwas wirklich
erlebt, der verliert die Aufmerksamkeit aus Nebendinge, und die Haupteindrücke
stürmen so schnell auf ihn ein, daß er sie kaum fassen und schnell genug in
Worten wiedergeben kann. So ist es auch mit der Ortsschilderung: die
moderne Beschreiberkunst sucht wenige Hauptpunkte dem Unkundigen durch
Vorstellung klar zu macheu, bei Raabe müßten wir, um die Vollständigkeit
seiner Beschreibung zu genießen, Magdeburg in seinen Einzelheiten kennen oder
aufsuchen, und wer weiß, ob uns dazu Magdeburg interessant genug wäre?
Mit andern Worten, der moderne Schilderer wird wohl seine zufällig er-
worbnen Neigungswerte nicht so unmittelbar dem Leser darbieten; das Lokale
wirkt kräftiger, wenn es auf seine wesentlichen Merkmale zusammengedrängt wird.

Diesen anschaulichen, im besten Sinne lokalen Charakter haben Ferdinand
von Saars Novellen aus Österreich (Erster Band, Heidelberg, Georg
Weiß). Der Verfasser, ein ehemaliger Offizier, ist ein wclterfahrner Mann
von einer ernsten und tiefen Lebensauffassung, ein bewährter Schriftsteller,
dem das Wort in vielen Tonarten zu Gebote steht. Man kann Land und
Leute und den Kulturzustand des Gesellschaftskreises, mit dem er.sich beschäftigt,
wirklich aus diesen Lebensbildern kennen lernen. Er liebt nicht die neueste
Welt der geadelten Industriellen und der jüdischen Finanzlentc, über die uns
andre ja ganze Romane zu schreiben pflegen. Er kennt sie, und sie erscheinen
bisweilen bei ihm im Hintergrunde. Sein Herz lebt in dem Österreich, das
durch die großen Fehler seiner Regierenden in die Niederlagen von 1859 und
1866 geführt wurde, das dann sich zu erneuern und zu verjüngen suchte mit
Erfolgen, aber auch unter Enttäuschungen, die das Erbteil früherer Mißgriffe
waren. Das ist der ernste Hintergrund, der oft recht deutlich hinter den fein¬
gestimmter Bildern aus dem Leben sehr verschiedner Gesellschaftskreise hervor¬
tritt, am ergreifendsten in Vag vieti8, worin ein junger, talentvoller General
zum Selbstmord getrieben wird durch die Intriguen seiner aus einer Finanz-


volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

werden benutzt, hie und da auch ein wenig in der Erzählung ihre Rede¬
wendungen nachgeahmt, von Geschichtsdaten und Ortsbeschreibung wird reichlich
Gebrauch gemacht. Das Antiquarische war bei dem zeitlich zurückliegenden
Stoffe nicht zu umgehen, und abgesehen von dem Lehrhaften, das dadurch in
die Erzählung gekommen ist, findet sich viel menschlich schönes, was von der
Zeit unabhängig ist, und manches darunter, was sehr ergreift. Auch ein ver¬
wöhnter Leser wird die Empfindung haben, daß ihm hier ein vortrefflicher
historischer Roman, nicht nur an Inhalt und Gedanken, denn die verstehen
sich bei Raabe von selbst, sondern auch in der Kunstform geboten wird. In
der für solche Bücher üblichen Form hat sich allerdings im letzten Menschen¬
alter einiges gegen früher geändert. Das jetzige Geschlecht lebt schneller, es
will auch schneller erzählt haben, mehr konzentrirte Eindrücke, nicht so chronik-
artig gemütlich und ausführlich, daß selbst die Schrecken des Krieges noch
harmlos unterhaltend, aber nicht schrecklich wirken; wer so etwas wirklich
erlebt, der verliert die Aufmerksamkeit aus Nebendinge, und die Haupteindrücke
stürmen so schnell auf ihn ein, daß er sie kaum fassen und schnell genug in
Worten wiedergeben kann. So ist es auch mit der Ortsschilderung: die
moderne Beschreiberkunst sucht wenige Hauptpunkte dem Unkundigen durch
Vorstellung klar zu macheu, bei Raabe müßten wir, um die Vollständigkeit
seiner Beschreibung zu genießen, Magdeburg in seinen Einzelheiten kennen oder
aufsuchen, und wer weiß, ob uns dazu Magdeburg interessant genug wäre?
Mit andern Worten, der moderne Schilderer wird wohl seine zufällig er-
worbnen Neigungswerte nicht so unmittelbar dem Leser darbieten; das Lokale
wirkt kräftiger, wenn es auf seine wesentlichen Merkmale zusammengedrängt wird.

Diesen anschaulichen, im besten Sinne lokalen Charakter haben Ferdinand
von Saars Novellen aus Österreich (Erster Band, Heidelberg, Georg
Weiß). Der Verfasser, ein ehemaliger Offizier, ist ein wclterfahrner Mann
von einer ernsten und tiefen Lebensauffassung, ein bewährter Schriftsteller,
dem das Wort in vielen Tonarten zu Gebote steht. Man kann Land und
Leute und den Kulturzustand des Gesellschaftskreises, mit dem er.sich beschäftigt,
wirklich aus diesen Lebensbildern kennen lernen. Er liebt nicht die neueste
Welt der geadelten Industriellen und der jüdischen Finanzlentc, über die uns
andre ja ganze Romane zu schreiben pflegen. Er kennt sie, und sie erscheinen
bisweilen bei ihm im Hintergrunde. Sein Herz lebt in dem Österreich, das
durch die großen Fehler seiner Regierenden in die Niederlagen von 1859 und
1866 geführt wurde, das dann sich zu erneuern und zu verjüngen suchte mit
Erfolgen, aber auch unter Enttäuschungen, die das Erbteil früherer Mißgriffe
waren. Das ist der ernste Hintergrund, der oft recht deutlich hinter den fein¬
gestimmter Bildern aus dem Leben sehr verschiedner Gesellschaftskreise hervor¬
tritt, am ergreifendsten in Vag vieti8, worin ein junger, talentvoller General
zum Selbstmord getrieben wird durch die Intriguen seiner aus einer Finanz-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225810"/>
          <fw type="header" place="top"> volkstümliche und landschaftliche Erzählungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_538" prev="#ID_537"> werden benutzt, hie und da auch ein wenig in der Erzählung ihre Rede¬<lb/>
wendungen nachgeahmt, von Geschichtsdaten und Ortsbeschreibung wird reichlich<lb/>
Gebrauch gemacht. Das Antiquarische war bei dem zeitlich zurückliegenden<lb/>
Stoffe nicht zu umgehen, und abgesehen von dem Lehrhaften, das dadurch in<lb/>
die Erzählung gekommen ist, findet sich viel menschlich schönes, was von der<lb/>
Zeit unabhängig ist, und manches darunter, was sehr ergreift. Auch ein ver¬<lb/>
wöhnter Leser wird die Empfindung haben, daß ihm hier ein vortrefflicher<lb/>
historischer Roman, nicht nur an Inhalt und Gedanken, denn die verstehen<lb/>
sich bei Raabe von selbst, sondern auch in der Kunstform geboten wird. In<lb/>
der für solche Bücher üblichen Form hat sich allerdings im letzten Menschen¬<lb/>
alter einiges gegen früher geändert. Das jetzige Geschlecht lebt schneller, es<lb/>
will auch schneller erzählt haben, mehr konzentrirte Eindrücke, nicht so chronik-<lb/>
artig gemütlich und ausführlich, daß selbst die Schrecken des Krieges noch<lb/>
harmlos unterhaltend, aber nicht schrecklich wirken; wer so etwas wirklich<lb/>
erlebt, der verliert die Aufmerksamkeit aus Nebendinge, und die Haupteindrücke<lb/>
stürmen so schnell auf ihn ein, daß er sie kaum fassen und schnell genug in<lb/>
Worten wiedergeben kann. So ist es auch mit der Ortsschilderung: die<lb/>
moderne Beschreiberkunst sucht wenige Hauptpunkte dem Unkundigen durch<lb/>
Vorstellung klar zu macheu, bei Raabe müßten wir, um die Vollständigkeit<lb/>
seiner Beschreibung zu genießen, Magdeburg in seinen Einzelheiten kennen oder<lb/>
aufsuchen, und wer weiß, ob uns dazu Magdeburg interessant genug wäre?<lb/>
Mit andern Worten, der moderne Schilderer wird wohl seine zufällig er-<lb/>
worbnen Neigungswerte nicht so unmittelbar dem Leser darbieten; das Lokale<lb/>
wirkt kräftiger, wenn es auf seine wesentlichen Merkmale zusammengedrängt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_539" next="#ID_540"> Diesen anschaulichen, im besten Sinne lokalen Charakter haben Ferdinand<lb/>
von Saars Novellen aus Österreich (Erster Band, Heidelberg, Georg<lb/>
Weiß). Der Verfasser, ein ehemaliger Offizier, ist ein wclterfahrner Mann<lb/>
von einer ernsten und tiefen Lebensauffassung, ein bewährter Schriftsteller,<lb/>
dem das Wort in vielen Tonarten zu Gebote steht. Man kann Land und<lb/>
Leute und den Kulturzustand des Gesellschaftskreises, mit dem er.sich beschäftigt,<lb/>
wirklich aus diesen Lebensbildern kennen lernen. Er liebt nicht die neueste<lb/>
Welt der geadelten Industriellen und der jüdischen Finanzlentc, über die uns<lb/>
andre ja ganze Romane zu schreiben pflegen. Er kennt sie, und sie erscheinen<lb/>
bisweilen bei ihm im Hintergrunde. Sein Herz lebt in dem Österreich, das<lb/>
durch die großen Fehler seiner Regierenden in die Niederlagen von 1859 und<lb/>
1866 geführt wurde, das dann sich zu erneuern und zu verjüngen suchte mit<lb/>
Erfolgen, aber auch unter Enttäuschungen, die das Erbteil früherer Mißgriffe<lb/>
waren. Das ist der ernste Hintergrund, der oft recht deutlich hinter den fein¬<lb/>
gestimmter Bildern aus dem Leben sehr verschiedner Gesellschaftskreise hervor¬<lb/>
tritt, am ergreifendsten in Vag vieti8, worin ein junger, talentvoller General<lb/>
zum Selbstmord getrieben wird durch die Intriguen seiner aus einer Finanz-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] volkstümliche und landschaftliche Erzählungen werden benutzt, hie und da auch ein wenig in der Erzählung ihre Rede¬ wendungen nachgeahmt, von Geschichtsdaten und Ortsbeschreibung wird reichlich Gebrauch gemacht. Das Antiquarische war bei dem zeitlich zurückliegenden Stoffe nicht zu umgehen, und abgesehen von dem Lehrhaften, das dadurch in die Erzählung gekommen ist, findet sich viel menschlich schönes, was von der Zeit unabhängig ist, und manches darunter, was sehr ergreift. Auch ein ver¬ wöhnter Leser wird die Empfindung haben, daß ihm hier ein vortrefflicher historischer Roman, nicht nur an Inhalt und Gedanken, denn die verstehen sich bei Raabe von selbst, sondern auch in der Kunstform geboten wird. In der für solche Bücher üblichen Form hat sich allerdings im letzten Menschen¬ alter einiges gegen früher geändert. Das jetzige Geschlecht lebt schneller, es will auch schneller erzählt haben, mehr konzentrirte Eindrücke, nicht so chronik- artig gemütlich und ausführlich, daß selbst die Schrecken des Krieges noch harmlos unterhaltend, aber nicht schrecklich wirken; wer so etwas wirklich erlebt, der verliert die Aufmerksamkeit aus Nebendinge, und die Haupteindrücke stürmen so schnell auf ihn ein, daß er sie kaum fassen und schnell genug in Worten wiedergeben kann. So ist es auch mit der Ortsschilderung: die moderne Beschreiberkunst sucht wenige Hauptpunkte dem Unkundigen durch Vorstellung klar zu macheu, bei Raabe müßten wir, um die Vollständigkeit seiner Beschreibung zu genießen, Magdeburg in seinen Einzelheiten kennen oder aufsuchen, und wer weiß, ob uns dazu Magdeburg interessant genug wäre? Mit andern Worten, der moderne Schilderer wird wohl seine zufällig er- worbnen Neigungswerte nicht so unmittelbar dem Leser darbieten; das Lokale wirkt kräftiger, wenn es auf seine wesentlichen Merkmale zusammengedrängt wird. Diesen anschaulichen, im besten Sinne lokalen Charakter haben Ferdinand von Saars Novellen aus Österreich (Erster Band, Heidelberg, Georg Weiß). Der Verfasser, ein ehemaliger Offizier, ist ein wclterfahrner Mann von einer ernsten und tiefen Lebensauffassung, ein bewährter Schriftsteller, dem das Wort in vielen Tonarten zu Gebote steht. Man kann Land und Leute und den Kulturzustand des Gesellschaftskreises, mit dem er.sich beschäftigt, wirklich aus diesen Lebensbildern kennen lernen. Er liebt nicht die neueste Welt der geadelten Industriellen und der jüdischen Finanzlentc, über die uns andre ja ganze Romane zu schreiben pflegen. Er kennt sie, und sie erscheinen bisweilen bei ihm im Hintergrunde. Sein Herz lebt in dem Österreich, das durch die großen Fehler seiner Regierenden in die Niederlagen von 1859 und 1866 geführt wurde, das dann sich zu erneuern und zu verjüngen suchte mit Erfolgen, aber auch unter Enttäuschungen, die das Erbteil früherer Mißgriffe waren. Das ist der ernste Hintergrund, der oft recht deutlich hinter den fein¬ gestimmter Bildern aus dem Leben sehr verschiedner Gesellschaftskreise hervor¬ tritt, am ergreifendsten in Vag vieti8, worin ein junger, talentvoller General zum Selbstmord getrieben wird durch die Intriguen seiner aus einer Finanz-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/224>, abgerufen am 29.12.2024.