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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die belgische Frage

bitter, daß sich das niederdeutsche, das seiner Meinung nach so vollkommen
war wie das Oberdeutsche, nicht zur Litteratursprachc entwickelt habe. Aber
alle Sentimentalität kann daran nichts ändern. Nationalitüten gehen unter,
d. h. sie gehen in einer andern auf, wenn sie nicht die Kraft haben, eine eigne
Litteratursprache zu schaffen oder zu erhalten. Als sich Ferdinand der Katho¬
lische mit Jsabella von Kastilien verheiratete, wurde das Kastilische auch in
Katalonien eingeführt. Als Südfrankreich mit Nordfrankreich vereinigt wurde,
unterlag auch die occitanische Sprache, die eine glänzende Litteratur hervor¬
gebracht hatte, ihrer jüngern, aber kräftigern Schwester. Ähnlich könnte es
auch dem Niederländischen ergehen bei einer Vereinigung mit dem Reich.

Was die Vlamlcinder angeht, so haben sie es offenbar nicht so weit ge¬
bracht wie die Holländer. Dafür lastete der französische Einfluß zu lange und
zu stark auf ihnen. Ihre Nationalität ist erst im Werden. Bei Beginn der
Sprachbewegung wäre es noch denkbar gewesen, dem Hochdeutschen die große
Rolle zuzuerteilen, die jetzt das Holländische hat. Aber man verpaßte den
günstigen Augenblick, und nun ist es zu spät. Das Steinchen, das ins Rollen
gekommen ist, die großniederländische Idee, wird den Abhang hinunterrollen.

Die großniederländische Idee schadet der Annäherung an die Reichs¬
deutschen. Denn es ist klar, je mehr sie wächst, desto geringer wird der
deutsche Einfluß werden, desto selbständiger und zuversichtlicher werden die
Niederländer auftreten. Die Altdeutschen haben also alle Ursache, das An¬
wachsen der Idee mit einer gewissen Sorge zu verfolgen. Die Holländer sind
nie Freunde Deutschlands gewesen und sind es jetzt vielleicht weniger denn je.
Es ist wohl möglich, daß sie die Belgier in ihr Fahrwasser ziehen und sich
mit den Franzosen verbinden werden, um das Reich unschädlich zu machen.

Wie die Annäherung zwischen den beiden niederländischen Staaten fort¬
geschritten ist, kann man aus der Erklärung sehen, die der vlämischc Volksrat
öffentlich zu geben wagt. Darin heißt es: "Die vlämische Bewegung wünscht,
daß Nord- und Südniederland, so innig wie möglich (!) verbunden, sich mehr
und mehr gegenseitig helfen mögen. Sind auch die beiden Reiche (sie!) infolge
von Ereignissen, die wir alle bedauern (!), staatlich getrennt, so dürfen wir doch
nicht vergessen, daß Holländer und Vläminger zu demselben Volke gehöre",
dieselbe Sprache sprechen, dieselbe freisinnige Verfassung haben (!), daß beide
dieselbe Gefahr bedroht(!), kurz, daß sie durch gemeinschaftliche Interessen und
Überlieferungen vereinigt eine feste und unzerstörbare Volkseinheit bilden."
Die Großniederländer sind fest entschlossen, sich zu einem Gemeinwesen zu ver¬
binden, wie es seinerzeit etwa England und Schottland gethan haben. Sie
könnten dann in der That eine politische Rolle spielen und den Deutschen un¬
bequem werden. Diese Rolle wäre ähnlich der, die Dänemark in frühern Zeiten
gespielt hat. Die Situation ist ähnlich genug. Freilich ist die holländische
Armee erbärmlich, die soliuttsrij wird vom Volke mit Steinen geworfen, und


Die belgische Frage

bitter, daß sich das niederdeutsche, das seiner Meinung nach so vollkommen
war wie das Oberdeutsche, nicht zur Litteratursprachc entwickelt habe. Aber
alle Sentimentalität kann daran nichts ändern. Nationalitüten gehen unter,
d. h. sie gehen in einer andern auf, wenn sie nicht die Kraft haben, eine eigne
Litteratursprache zu schaffen oder zu erhalten. Als sich Ferdinand der Katho¬
lische mit Jsabella von Kastilien verheiratete, wurde das Kastilische auch in
Katalonien eingeführt. Als Südfrankreich mit Nordfrankreich vereinigt wurde,
unterlag auch die occitanische Sprache, die eine glänzende Litteratur hervor¬
gebracht hatte, ihrer jüngern, aber kräftigern Schwester. Ähnlich könnte es
auch dem Niederländischen ergehen bei einer Vereinigung mit dem Reich.

Was die Vlamlcinder angeht, so haben sie es offenbar nicht so weit ge¬
bracht wie die Holländer. Dafür lastete der französische Einfluß zu lange und
zu stark auf ihnen. Ihre Nationalität ist erst im Werden. Bei Beginn der
Sprachbewegung wäre es noch denkbar gewesen, dem Hochdeutschen die große
Rolle zuzuerteilen, die jetzt das Holländische hat. Aber man verpaßte den
günstigen Augenblick, und nun ist es zu spät. Das Steinchen, das ins Rollen
gekommen ist, die großniederländische Idee, wird den Abhang hinunterrollen.

Die großniederländische Idee schadet der Annäherung an die Reichs¬
deutschen. Denn es ist klar, je mehr sie wächst, desto geringer wird der
deutsche Einfluß werden, desto selbständiger und zuversichtlicher werden die
Niederländer auftreten. Die Altdeutschen haben also alle Ursache, das An¬
wachsen der Idee mit einer gewissen Sorge zu verfolgen. Die Holländer sind
nie Freunde Deutschlands gewesen und sind es jetzt vielleicht weniger denn je.
Es ist wohl möglich, daß sie die Belgier in ihr Fahrwasser ziehen und sich
mit den Franzosen verbinden werden, um das Reich unschädlich zu machen.

Wie die Annäherung zwischen den beiden niederländischen Staaten fort¬
geschritten ist, kann man aus der Erklärung sehen, die der vlämischc Volksrat
öffentlich zu geben wagt. Darin heißt es: „Die vlämische Bewegung wünscht,
daß Nord- und Südniederland, so innig wie möglich (!) verbunden, sich mehr
und mehr gegenseitig helfen mögen. Sind auch die beiden Reiche (sie!) infolge
von Ereignissen, die wir alle bedauern (!), staatlich getrennt, so dürfen wir doch
nicht vergessen, daß Holländer und Vläminger zu demselben Volke gehöre»,
dieselbe Sprache sprechen, dieselbe freisinnige Verfassung haben (!), daß beide
dieselbe Gefahr bedroht(!), kurz, daß sie durch gemeinschaftliche Interessen und
Überlieferungen vereinigt eine feste und unzerstörbare Volkseinheit bilden."
Die Großniederländer sind fest entschlossen, sich zu einem Gemeinwesen zu ver¬
binden, wie es seinerzeit etwa England und Schottland gethan haben. Sie
könnten dann in der That eine politische Rolle spielen und den Deutschen un¬
bequem werden. Diese Rolle wäre ähnlich der, die Dänemark in frühern Zeiten
gespielt hat. Die Situation ist ähnlich genug. Freilich ist die holländische
Armee erbärmlich, die soliuttsrij wird vom Volke mit Steinen geworfen, und


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[0204] Die belgische Frage bitter, daß sich das niederdeutsche, das seiner Meinung nach so vollkommen war wie das Oberdeutsche, nicht zur Litteratursprachc entwickelt habe. Aber alle Sentimentalität kann daran nichts ändern. Nationalitüten gehen unter, d. h. sie gehen in einer andern auf, wenn sie nicht die Kraft haben, eine eigne Litteratursprache zu schaffen oder zu erhalten. Als sich Ferdinand der Katho¬ lische mit Jsabella von Kastilien verheiratete, wurde das Kastilische auch in Katalonien eingeführt. Als Südfrankreich mit Nordfrankreich vereinigt wurde, unterlag auch die occitanische Sprache, die eine glänzende Litteratur hervor¬ gebracht hatte, ihrer jüngern, aber kräftigern Schwester. Ähnlich könnte es auch dem Niederländischen ergehen bei einer Vereinigung mit dem Reich. Was die Vlamlcinder angeht, so haben sie es offenbar nicht so weit ge¬ bracht wie die Holländer. Dafür lastete der französische Einfluß zu lange und zu stark auf ihnen. Ihre Nationalität ist erst im Werden. Bei Beginn der Sprachbewegung wäre es noch denkbar gewesen, dem Hochdeutschen die große Rolle zuzuerteilen, die jetzt das Holländische hat. Aber man verpaßte den günstigen Augenblick, und nun ist es zu spät. Das Steinchen, das ins Rollen gekommen ist, die großniederländische Idee, wird den Abhang hinunterrollen. Die großniederländische Idee schadet der Annäherung an die Reichs¬ deutschen. Denn es ist klar, je mehr sie wächst, desto geringer wird der deutsche Einfluß werden, desto selbständiger und zuversichtlicher werden die Niederländer auftreten. Die Altdeutschen haben also alle Ursache, das An¬ wachsen der Idee mit einer gewissen Sorge zu verfolgen. Die Holländer sind nie Freunde Deutschlands gewesen und sind es jetzt vielleicht weniger denn je. Es ist wohl möglich, daß sie die Belgier in ihr Fahrwasser ziehen und sich mit den Franzosen verbinden werden, um das Reich unschädlich zu machen. Wie die Annäherung zwischen den beiden niederländischen Staaten fort¬ geschritten ist, kann man aus der Erklärung sehen, die der vlämischc Volksrat öffentlich zu geben wagt. Darin heißt es: „Die vlämische Bewegung wünscht, daß Nord- und Südniederland, so innig wie möglich (!) verbunden, sich mehr und mehr gegenseitig helfen mögen. Sind auch die beiden Reiche (sie!) infolge von Ereignissen, die wir alle bedauern (!), staatlich getrennt, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß Holländer und Vläminger zu demselben Volke gehöre», dieselbe Sprache sprechen, dieselbe freisinnige Verfassung haben (!), daß beide dieselbe Gefahr bedroht(!), kurz, daß sie durch gemeinschaftliche Interessen und Überlieferungen vereinigt eine feste und unzerstörbare Volkseinheit bilden." Die Großniederländer sind fest entschlossen, sich zu einem Gemeinwesen zu ver¬ binden, wie es seinerzeit etwa England und Schottland gethan haben. Sie könnten dann in der That eine politische Rolle spielen und den Deutschen un¬ bequem werden. Diese Rolle wäre ähnlich der, die Dänemark in frühern Zeiten gespielt hat. Die Situation ist ähnlich genug. Freilich ist die holländische Armee erbärmlich, die soliuttsrij wird vom Volke mit Steinen geworfen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/204>, abgerufen am 24.07.2024.