Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die belgische Frage

allerdings früher in Holland das Wort iKZäsränitsed ganz allgemein für die
niederländische Sprache angewandt. Aber der heutige Gebrauch des Wortes
nsäerlWÄsou beweist, daß man sich des Gegensatzes voll bewußt geworden ist.
Die Altdeutschen haben nun neuerdings, um jeden Gegensatz zu verwischen,
das Wort "reichisch," d. i. "zum Reich gehörig" erfunden und nennen also
die Niederländer nichtreichische Deutsche. Aber das ist eine Gelehrtenbezeich¬
nung, die kein Recht schafft, und ist dem Sprachgebrauch, wie er sich seit
Jahrhunderten ausgebildet hat, fremd.

Und noch etwas andres ist zu beachten. Die neuere Anthropologie hat
herausgebracht, daß die Grundlage jedes Volkes fremde Stämme bilden, die
in vorgeschichtlicher Zeit aus Asien eingewandert und später von den Ariern
unterjocht worden sind. Allmählich aber verschmolzen die beiden Rassen mit
einander. Es liegt nun auf der Hand, daß je nach dem unarischen Grundstock
der Bevölkerung das Aussehen der heutigen Bevölkerung verschieden sein muß.
Wie aber die Mischung verschieden ist, so ist auch jede Gegend verschieden.
Da aber nach einem andern Gesetze der neuern Anthropologie die dunkle
Schicht der Bevölkerung immer mehr oben auf kommt, so folgt, daß sich in
der That auf diese Weise schließlich ein neues Volk bilden kann, von dessen
Möglichkeit man im Mittelalter, als die Germanen noch verhältnismüßig rein
waren, keine Ahnung hatte. Daß die Niederländer sämtlich zu dem blonden,
blauäugigen Typus gehörten, ist ein weitverbreitetes Märchen, aber eben nur
ein Märchen. Namentlich spanisches Blut hat sich mit vlämischem gekreuzt.
Man sieht oft genug in Flandern Männer mit niederdeutschen Schädel, aber
spanischen Augen, Bart und Gesichtsausdruck, also Mischlinge. Die Germanen
sterben allmählich aus, sie werden immer mehr aufgerieben. Die Urrasse aber
bleibt auf der Scholle und tritt schließlich an die Stelle der Germanen. Daß
auch die Beschäftigung, die Lebensweise, die Gedanken, die Religion, das Klima,
die Bodenbeschaffenheit usw. Einfluß auf den Volkscharakter haben, ja ihn
allmählich ganz verändern können, will ich nur andeuten. Um nur ein Beispiel
anzuführen: die in Deutschland sprichwörtliche holländische Reinlichkeit ist
ziemlich jung. Im Mittelalter waren die Holländer wegen ihrer Unreinlichkeit
berüchtigt. Wer feststellen will, ob sich eine neue Nationalität gebildet habe,
muß alle Umstände berücksichtigen und darf nicht bloß nach der Sprache
urteilen.

Was mich betrifft, so neige ich zu dem Glauben, daß sich die Nordnieder-
länder trotz ihrer einstigen Abstammung von deutschen Stämmen zu einer
eignen Nationalität entwickelt haben, so gut wie die Dänen und die Engländer.
Daß sie jetzt noch sprachlich den Deutschen näher stehen, kommt daher, daß
sie sich später von ihnen getrennt haben. Wenn die Angelsachsen in Schleswig
geblieben wären, würden sie heute statt Englisch Plattdeutsch reden, und ein
Shakespeare würde hochdeutsche Verse gemacht haben. Bürger beklagte es


Die belgische Frage

allerdings früher in Holland das Wort iKZäsränitsed ganz allgemein für die
niederländische Sprache angewandt. Aber der heutige Gebrauch des Wortes
nsäerlWÄsou beweist, daß man sich des Gegensatzes voll bewußt geworden ist.
Die Altdeutschen haben nun neuerdings, um jeden Gegensatz zu verwischen,
das Wort „reichisch," d. i. „zum Reich gehörig" erfunden und nennen also
die Niederländer nichtreichische Deutsche. Aber das ist eine Gelehrtenbezeich¬
nung, die kein Recht schafft, und ist dem Sprachgebrauch, wie er sich seit
Jahrhunderten ausgebildet hat, fremd.

Und noch etwas andres ist zu beachten. Die neuere Anthropologie hat
herausgebracht, daß die Grundlage jedes Volkes fremde Stämme bilden, die
in vorgeschichtlicher Zeit aus Asien eingewandert und später von den Ariern
unterjocht worden sind. Allmählich aber verschmolzen die beiden Rassen mit
einander. Es liegt nun auf der Hand, daß je nach dem unarischen Grundstock
der Bevölkerung das Aussehen der heutigen Bevölkerung verschieden sein muß.
Wie aber die Mischung verschieden ist, so ist auch jede Gegend verschieden.
Da aber nach einem andern Gesetze der neuern Anthropologie die dunkle
Schicht der Bevölkerung immer mehr oben auf kommt, so folgt, daß sich in
der That auf diese Weise schließlich ein neues Volk bilden kann, von dessen
Möglichkeit man im Mittelalter, als die Germanen noch verhältnismüßig rein
waren, keine Ahnung hatte. Daß die Niederländer sämtlich zu dem blonden,
blauäugigen Typus gehörten, ist ein weitverbreitetes Märchen, aber eben nur
ein Märchen. Namentlich spanisches Blut hat sich mit vlämischem gekreuzt.
Man sieht oft genug in Flandern Männer mit niederdeutschen Schädel, aber
spanischen Augen, Bart und Gesichtsausdruck, also Mischlinge. Die Germanen
sterben allmählich aus, sie werden immer mehr aufgerieben. Die Urrasse aber
bleibt auf der Scholle und tritt schließlich an die Stelle der Germanen. Daß
auch die Beschäftigung, die Lebensweise, die Gedanken, die Religion, das Klima,
die Bodenbeschaffenheit usw. Einfluß auf den Volkscharakter haben, ja ihn
allmählich ganz verändern können, will ich nur andeuten. Um nur ein Beispiel
anzuführen: die in Deutschland sprichwörtliche holländische Reinlichkeit ist
ziemlich jung. Im Mittelalter waren die Holländer wegen ihrer Unreinlichkeit
berüchtigt. Wer feststellen will, ob sich eine neue Nationalität gebildet habe,
muß alle Umstände berücksichtigen und darf nicht bloß nach der Sprache
urteilen.

Was mich betrifft, so neige ich zu dem Glauben, daß sich die Nordnieder-
länder trotz ihrer einstigen Abstammung von deutschen Stämmen zu einer
eignen Nationalität entwickelt haben, so gut wie die Dänen und die Engländer.
Daß sie jetzt noch sprachlich den Deutschen näher stehen, kommt daher, daß
sie sich später von ihnen getrennt haben. Wenn die Angelsachsen in Schleswig
geblieben wären, würden sie heute statt Englisch Plattdeutsch reden, und ein
Shakespeare würde hochdeutsche Verse gemacht haben. Bürger beklagte es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0203" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225789"/>
          <fw type="header" place="top"> Die belgische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_493" prev="#ID_492"> allerdings früher in Holland das Wort iKZäsränitsed ganz allgemein für die<lb/>
niederländische Sprache angewandt. Aber der heutige Gebrauch des Wortes<lb/>
nsäerlWÄsou beweist, daß man sich des Gegensatzes voll bewußt geworden ist.<lb/>
Die Altdeutschen haben nun neuerdings, um jeden Gegensatz zu verwischen,<lb/>
das Wort &#x201E;reichisch," d. i. &#x201E;zum Reich gehörig" erfunden und nennen also<lb/>
die Niederländer nichtreichische Deutsche. Aber das ist eine Gelehrtenbezeich¬<lb/>
nung, die kein Recht schafft, und ist dem Sprachgebrauch, wie er sich seit<lb/>
Jahrhunderten ausgebildet hat, fremd.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_494"> Und noch etwas andres ist zu beachten. Die neuere Anthropologie hat<lb/>
herausgebracht, daß die Grundlage jedes Volkes fremde Stämme bilden, die<lb/>
in vorgeschichtlicher Zeit aus Asien eingewandert und später von den Ariern<lb/>
unterjocht worden sind. Allmählich aber verschmolzen die beiden Rassen mit<lb/>
einander. Es liegt nun auf der Hand, daß je nach dem unarischen Grundstock<lb/>
der Bevölkerung das Aussehen der heutigen Bevölkerung verschieden sein muß.<lb/>
Wie aber die Mischung verschieden ist, so ist auch jede Gegend verschieden.<lb/>
Da aber nach einem andern Gesetze der neuern Anthropologie die dunkle<lb/>
Schicht der Bevölkerung immer mehr oben auf kommt, so folgt, daß sich in<lb/>
der That auf diese Weise schließlich ein neues Volk bilden kann, von dessen<lb/>
Möglichkeit man im Mittelalter, als die Germanen noch verhältnismüßig rein<lb/>
waren, keine Ahnung hatte. Daß die Niederländer sämtlich zu dem blonden,<lb/>
blauäugigen Typus gehörten, ist ein weitverbreitetes Märchen, aber eben nur<lb/>
ein Märchen. Namentlich spanisches Blut hat sich mit vlämischem gekreuzt.<lb/>
Man sieht oft genug in Flandern Männer mit niederdeutschen Schädel, aber<lb/>
spanischen Augen, Bart und Gesichtsausdruck, also Mischlinge. Die Germanen<lb/>
sterben allmählich aus, sie werden immer mehr aufgerieben. Die Urrasse aber<lb/>
bleibt auf der Scholle und tritt schließlich an die Stelle der Germanen. Daß<lb/>
auch die Beschäftigung, die Lebensweise, die Gedanken, die Religion, das Klima,<lb/>
die Bodenbeschaffenheit usw. Einfluß auf den Volkscharakter haben, ja ihn<lb/>
allmählich ganz verändern können, will ich nur andeuten. Um nur ein Beispiel<lb/>
anzuführen: die in Deutschland sprichwörtliche holländische Reinlichkeit ist<lb/>
ziemlich jung. Im Mittelalter waren die Holländer wegen ihrer Unreinlichkeit<lb/>
berüchtigt. Wer feststellen will, ob sich eine neue Nationalität gebildet habe,<lb/>
muß alle Umstände berücksichtigen und darf nicht bloß nach der Sprache<lb/>
urteilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_495" next="#ID_496"> Was mich betrifft, so neige ich zu dem Glauben, daß sich die Nordnieder-<lb/>
länder trotz ihrer einstigen Abstammung von deutschen Stämmen zu einer<lb/>
eignen Nationalität entwickelt haben, so gut wie die Dänen und die Engländer.<lb/>
Daß sie jetzt noch sprachlich den Deutschen näher stehen, kommt daher, daß<lb/>
sie sich später von ihnen getrennt haben. Wenn die Angelsachsen in Schleswig<lb/>
geblieben wären, würden sie heute statt Englisch Plattdeutsch reden, und ein<lb/>
Shakespeare würde hochdeutsche Verse gemacht haben.  Bürger beklagte es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0203] Die belgische Frage allerdings früher in Holland das Wort iKZäsränitsed ganz allgemein für die niederländische Sprache angewandt. Aber der heutige Gebrauch des Wortes nsäerlWÄsou beweist, daß man sich des Gegensatzes voll bewußt geworden ist. Die Altdeutschen haben nun neuerdings, um jeden Gegensatz zu verwischen, das Wort „reichisch," d. i. „zum Reich gehörig" erfunden und nennen also die Niederländer nichtreichische Deutsche. Aber das ist eine Gelehrtenbezeich¬ nung, die kein Recht schafft, und ist dem Sprachgebrauch, wie er sich seit Jahrhunderten ausgebildet hat, fremd. Und noch etwas andres ist zu beachten. Die neuere Anthropologie hat herausgebracht, daß die Grundlage jedes Volkes fremde Stämme bilden, die in vorgeschichtlicher Zeit aus Asien eingewandert und später von den Ariern unterjocht worden sind. Allmählich aber verschmolzen die beiden Rassen mit einander. Es liegt nun auf der Hand, daß je nach dem unarischen Grundstock der Bevölkerung das Aussehen der heutigen Bevölkerung verschieden sein muß. Wie aber die Mischung verschieden ist, so ist auch jede Gegend verschieden. Da aber nach einem andern Gesetze der neuern Anthropologie die dunkle Schicht der Bevölkerung immer mehr oben auf kommt, so folgt, daß sich in der That auf diese Weise schließlich ein neues Volk bilden kann, von dessen Möglichkeit man im Mittelalter, als die Germanen noch verhältnismüßig rein waren, keine Ahnung hatte. Daß die Niederländer sämtlich zu dem blonden, blauäugigen Typus gehörten, ist ein weitverbreitetes Märchen, aber eben nur ein Märchen. Namentlich spanisches Blut hat sich mit vlämischem gekreuzt. Man sieht oft genug in Flandern Männer mit niederdeutschen Schädel, aber spanischen Augen, Bart und Gesichtsausdruck, also Mischlinge. Die Germanen sterben allmählich aus, sie werden immer mehr aufgerieben. Die Urrasse aber bleibt auf der Scholle und tritt schließlich an die Stelle der Germanen. Daß auch die Beschäftigung, die Lebensweise, die Gedanken, die Religion, das Klima, die Bodenbeschaffenheit usw. Einfluß auf den Volkscharakter haben, ja ihn allmählich ganz verändern können, will ich nur andeuten. Um nur ein Beispiel anzuführen: die in Deutschland sprichwörtliche holländische Reinlichkeit ist ziemlich jung. Im Mittelalter waren die Holländer wegen ihrer Unreinlichkeit berüchtigt. Wer feststellen will, ob sich eine neue Nationalität gebildet habe, muß alle Umstände berücksichtigen und darf nicht bloß nach der Sprache urteilen. Was mich betrifft, so neige ich zu dem Glauben, daß sich die Nordnieder- länder trotz ihrer einstigen Abstammung von deutschen Stämmen zu einer eignen Nationalität entwickelt haben, so gut wie die Dänen und die Engländer. Daß sie jetzt noch sprachlich den Deutschen näher stehen, kommt daher, daß sie sich später von ihnen getrennt haben. Wenn die Angelsachsen in Schleswig geblieben wären, würden sie heute statt Englisch Plattdeutsch reden, und ein Shakespeare würde hochdeutsche Verse gemacht haben. Bürger beklagte es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/203
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/203>, abgerufen am 29.12.2024.