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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ästhetisches

wirklichen Kunst der "individuellen Struktur" jammervoll abwärts gegangen
ist. Sollte man daher nicht richtiger, wenn man einmal Ursächlichkeiten kon-
struiren will, sagen: je mehr Theorie, je mehr Philosophen und Ästhetiker,
desto weniger Künstler und Kunst? Auch das ist falsch: "Lionardo besitzt nicht,
wie Goethe und Schiller, das volle Bewußtsein seiner Kunst. Das höhere
künstlerische Schaffen vollzieht sich bei ihm mehr unbewußt, mit einer Art
von genialen Instinkt." Nein, wie sein Malerbuch und seine mehr als ein
Dutzend Foliobände von Arbeitsjournalen zeigen, niemals hat unter irgend einem
Volke in alter und neuer Zeit ein Künstler mit einem so klaren, überlegnen,
bis in alle Teile der Ausführung eindringenden theoretischen Bewußtsein ge¬
arbeitet, wie Lionardo. Nach seinen Vorschriften hat man sogar in Frankreich
unter Napoleon III. den Zeichenunterricht der Mittelschulen organisirt.

Stein gehörte, wie man nicht nur aus seinem Verhältnis zu Richard
Wagner, sondern auch aus gelegentlichen andern Urteilen sieht, im allgemeinen
einer sehr modernen Richtung an. Auf die Kunst der "Modernen," die Malerei
der neuesten Zeit, hat er seine Vorlesungen nicht ausgedehnt. Diese "Modernen"
haben ja, wie man weiß, ihre besondern Ästhetiker, z. B. die Gelehrten des
"Pan." Andre wieder, die über Kunst zu schreiben Pflegen, sind mit ihnen
wenig einverstanden, und im ganzen darf man wohl sagen, daß die meisten
Beurteiler der Kunst, die über Kenntnisse und einen hinlänglich weiten Über¬
blick verfügen, der neuesten Malerei sehr kühl gegenüberstehen. Wer sich etwa
eine Zeit lang für einzelne Richtungen und Künstler interessirte, hat allmählich
erfahren, daß die Leistungen so ziemlich ausgeblieben sind, und von Hoffnungen
und Erwartungen kann der Mensch nun einmal nicht leben. Es hat nun aber
noch eine ganz besondre Bedeutung, wenn ein Künstler darüber das Wort
nimmt, nicht ein solcher, der sich überhaupt des Worts zu bedienen pflegt,
weil es mit seiner Kunst nicht weit her ist (wie es namentlich früher viele
Kunstkritiker gab, verunglückte Maler von gelegentlich nacherworbner theore¬
tischer Bildung), sondern ein anerkannter Mann von tüchtigen Leistungen in
der Kunst, der daneben sich durch lauge geübte Gewohnheit in ein sehr ver¬
trautes Verhältnis zu den großen Meistern früherer Zeiten gesetzt hat. Otto
Knille galt immer sür einen sichern Zeichner und einen selbständigen Koloristen
(er war von Düsseldorf aus früh nach Paris zu Couture gekommen), seine
Bilder haben in ihrem großen Wurf etwas vornehmes und historisches, er ist
mit in der Reihe der Ersten gegangen, die man jetzt zu den Ältern rechnet.
Mit was für Empfindungen muß ein solcher die Reklametrommel haben rühren
hören für die Ansprüche der "Modernen," wenn er sich sagen muß: das könntest
du mit der Hand geradeso gut, wenn du es nicht in deinem Herzen für
Schwindel hieltest! Daß Knille die Feder führte, war bekannt. Daß er ein
so durch und durch originelles Buch veröffentlicht über alte und neue Kunst,
über das Technische und seine theoretischen Voraussetzungen, und in so voll-


Grenzboten III 1897 23
Ästhetisches

wirklichen Kunst der „individuellen Struktur" jammervoll abwärts gegangen
ist. Sollte man daher nicht richtiger, wenn man einmal Ursächlichkeiten kon-
struiren will, sagen: je mehr Theorie, je mehr Philosophen und Ästhetiker,
desto weniger Künstler und Kunst? Auch das ist falsch: „Lionardo besitzt nicht,
wie Goethe und Schiller, das volle Bewußtsein seiner Kunst. Das höhere
künstlerische Schaffen vollzieht sich bei ihm mehr unbewußt, mit einer Art
von genialen Instinkt." Nein, wie sein Malerbuch und seine mehr als ein
Dutzend Foliobände von Arbeitsjournalen zeigen, niemals hat unter irgend einem
Volke in alter und neuer Zeit ein Künstler mit einem so klaren, überlegnen,
bis in alle Teile der Ausführung eindringenden theoretischen Bewußtsein ge¬
arbeitet, wie Lionardo. Nach seinen Vorschriften hat man sogar in Frankreich
unter Napoleon III. den Zeichenunterricht der Mittelschulen organisirt.

Stein gehörte, wie man nicht nur aus seinem Verhältnis zu Richard
Wagner, sondern auch aus gelegentlichen andern Urteilen sieht, im allgemeinen
einer sehr modernen Richtung an. Auf die Kunst der „Modernen," die Malerei
der neuesten Zeit, hat er seine Vorlesungen nicht ausgedehnt. Diese „Modernen"
haben ja, wie man weiß, ihre besondern Ästhetiker, z. B. die Gelehrten des
„Pan." Andre wieder, die über Kunst zu schreiben Pflegen, sind mit ihnen
wenig einverstanden, und im ganzen darf man wohl sagen, daß die meisten
Beurteiler der Kunst, die über Kenntnisse und einen hinlänglich weiten Über¬
blick verfügen, der neuesten Malerei sehr kühl gegenüberstehen. Wer sich etwa
eine Zeit lang für einzelne Richtungen und Künstler interessirte, hat allmählich
erfahren, daß die Leistungen so ziemlich ausgeblieben sind, und von Hoffnungen
und Erwartungen kann der Mensch nun einmal nicht leben. Es hat nun aber
noch eine ganz besondre Bedeutung, wenn ein Künstler darüber das Wort
nimmt, nicht ein solcher, der sich überhaupt des Worts zu bedienen pflegt,
weil es mit seiner Kunst nicht weit her ist (wie es namentlich früher viele
Kunstkritiker gab, verunglückte Maler von gelegentlich nacherworbner theore¬
tischer Bildung), sondern ein anerkannter Mann von tüchtigen Leistungen in
der Kunst, der daneben sich durch lauge geübte Gewohnheit in ein sehr ver¬
trautes Verhältnis zu den großen Meistern früherer Zeiten gesetzt hat. Otto
Knille galt immer sür einen sichern Zeichner und einen selbständigen Koloristen
(er war von Düsseldorf aus früh nach Paris zu Couture gekommen), seine
Bilder haben in ihrem großen Wurf etwas vornehmes und historisches, er ist
mit in der Reihe der Ersten gegangen, die man jetzt zu den Ältern rechnet.
Mit was für Empfindungen muß ein solcher die Reklametrommel haben rühren
hören für die Ansprüche der „Modernen," wenn er sich sagen muß: das könntest
du mit der Hand geradeso gut, wenn du es nicht in deinem Herzen für
Schwindel hieltest! Daß Knille die Feder führte, war bekannt. Daß er ein
so durch und durch originelles Buch veröffentlicht über alte und neue Kunst,
über das Technische und seine theoretischen Voraussetzungen, und in so voll-


Grenzboten III 1897 23
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[0185] Ästhetisches wirklichen Kunst der „individuellen Struktur" jammervoll abwärts gegangen ist. Sollte man daher nicht richtiger, wenn man einmal Ursächlichkeiten kon- struiren will, sagen: je mehr Theorie, je mehr Philosophen und Ästhetiker, desto weniger Künstler und Kunst? Auch das ist falsch: „Lionardo besitzt nicht, wie Goethe und Schiller, das volle Bewußtsein seiner Kunst. Das höhere künstlerische Schaffen vollzieht sich bei ihm mehr unbewußt, mit einer Art von genialen Instinkt." Nein, wie sein Malerbuch und seine mehr als ein Dutzend Foliobände von Arbeitsjournalen zeigen, niemals hat unter irgend einem Volke in alter und neuer Zeit ein Künstler mit einem so klaren, überlegnen, bis in alle Teile der Ausführung eindringenden theoretischen Bewußtsein ge¬ arbeitet, wie Lionardo. Nach seinen Vorschriften hat man sogar in Frankreich unter Napoleon III. den Zeichenunterricht der Mittelschulen organisirt. Stein gehörte, wie man nicht nur aus seinem Verhältnis zu Richard Wagner, sondern auch aus gelegentlichen andern Urteilen sieht, im allgemeinen einer sehr modernen Richtung an. Auf die Kunst der „Modernen," die Malerei der neuesten Zeit, hat er seine Vorlesungen nicht ausgedehnt. Diese „Modernen" haben ja, wie man weiß, ihre besondern Ästhetiker, z. B. die Gelehrten des „Pan." Andre wieder, die über Kunst zu schreiben Pflegen, sind mit ihnen wenig einverstanden, und im ganzen darf man wohl sagen, daß die meisten Beurteiler der Kunst, die über Kenntnisse und einen hinlänglich weiten Über¬ blick verfügen, der neuesten Malerei sehr kühl gegenüberstehen. Wer sich etwa eine Zeit lang für einzelne Richtungen und Künstler interessirte, hat allmählich erfahren, daß die Leistungen so ziemlich ausgeblieben sind, und von Hoffnungen und Erwartungen kann der Mensch nun einmal nicht leben. Es hat nun aber noch eine ganz besondre Bedeutung, wenn ein Künstler darüber das Wort nimmt, nicht ein solcher, der sich überhaupt des Worts zu bedienen pflegt, weil es mit seiner Kunst nicht weit her ist (wie es namentlich früher viele Kunstkritiker gab, verunglückte Maler von gelegentlich nacherworbner theore¬ tischer Bildung), sondern ein anerkannter Mann von tüchtigen Leistungen in der Kunst, der daneben sich durch lauge geübte Gewohnheit in ein sehr ver¬ trautes Verhältnis zu den großen Meistern früherer Zeiten gesetzt hat. Otto Knille galt immer sür einen sichern Zeichner und einen selbständigen Koloristen (er war von Düsseldorf aus früh nach Paris zu Couture gekommen), seine Bilder haben in ihrem großen Wurf etwas vornehmes und historisches, er ist mit in der Reihe der Ersten gegangen, die man jetzt zu den Ältern rechnet. Mit was für Empfindungen muß ein solcher die Reklametrommel haben rühren hören für die Ansprüche der „Modernen," wenn er sich sagen muß: das könntest du mit der Hand geradeso gut, wenn du es nicht in deinem Herzen für Schwindel hieltest! Daß Knille die Feder führte, war bekannt. Daß er ein so durch und durch originelles Buch veröffentlicht über alte und neue Kunst, über das Technische und seine theoretischen Voraussetzungen, und in so voll- Grenzboten III 1897 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/185>, abgerufen am 04.07.2024.