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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ästhetisches

Würde dadurch nach unsrer Überzeugung viel schneller und sichrer an die ge¬
langen, für die es doch eigentlich bestimmt zu sein scheint. Um von der Art
der Betrachtung eine Vorstellung zu geben, heben wir einige Gedanken heraus,
die uns zugleich einer Vervollständigung sähig erscheinen. Ob eine Kunst lebt,
meint der Verfasser, zeigt sich darin, in welchem Maße Stimmung in ihr
wohnt. Stimmung beruhe auf einer gewissen "Ganzheit" des Seelenlebens.
Der griechische Tempel und die ägyptischen Säulenhöfe oder die assyrischen
Burgterrassen hätten Stimmung, aber der italienischen Renaissance sei eine Er-
weckung des innern Lebens nicht gelungen, darum habe sie nur einige Künstler,
in deren Werken "Stimmung" sei, z. B. Michelangelo, und im allgemeinen
sei ans der bildenden Kunst der neuern Zeit die Stimmung verschwunden.
Aber desto reicher entfalte sie sich in der Musik (S. 55). Dies alles erscheint
uns doch sehr verkehrt, erwachsen ans der Gepflogenheit der Philosophen,
einen Begriff wie "Stimmung" willkürlich zu umgrenzen und daraus wie aus
einer notwendigen Schlußfolgerung subjektive Eindrücke als allgemeinverbindliche
Urteile hervorgehen zu lassen. Was wir andern unter "Stimmung" zu ver¬
stehen Pflegen, ist zweifellos der neuern und auch der Renaissancekunst in viel
höherm Maße eigen als der antiken. Ganz gewiß hat der Philosoph und
Ästhetiker Stein dem Kunstkenner Stein ein wenig im Wege gestanden und
ihn gehindert, das Nichtige unbefangen zu sehen. Richtig und sehr gut aus¬
gedrückt ist bei ihm der Gedanke, daß der italienische Humanismus durch sein
Humanitätsideal deu Kreis der Aufgaben der Kunst erweitert, daß er aber den
lebendigen, eignen Geist der Frührenaissance nicht aufzufassen vermocht habe, gegen
dessen Realismus er vielmehr eine Gegenströmung bilde (S. 78). Aber kurz
vorher meint er: Aufgabe der Kunsttheorie sei es, die Empfindungsweise einer
Zeit ins Bewußtsein zu erhebeu und ihr Festigkeit zu verleihen. Das hätte
die Renaissancezeit nicht gekonnt, ihr größter Theoretiker Leon Battista Alberti
hätte da nicht genügt. Im Renaissancemenschen gehe im allgemeinen das
Bewußtsein für sich den Weg des Gelehrtentums, inspirirt dnrch den Rnhmsinn,
und der künstlerische Geist für sich den Weg der dekorativen Instinkte, inspirirt
durch de'n Prachtsinn; die belebende, große, gemeinsame Gesinnung fehle. "Es
läßt sich nun verfolgen, wie in den neuern Jahrhunderten das ästhetische
Denken sich als eine für die Kunst keineswegs gleichgiltige, organische Kraft
entwickelt und wie sich hierdurch die Einseitigkeit der individuellen Struktur
allmählich ausgleicht usw." Aber der Verfasser scheint zu vergessen, daß bei
den Griechen, dem Kunstvolk schlechthin, nicht über Kunst geschrieben und, nach
ihrer Litteratur zu schließen, auch nicht viel über Kunst gesprochen wurde, daß
ferner die bedeutendste Erscheinung der "neuern Jahrhunderte," die holländische
Malerei, sich um das "ästhetische Denken" blutwenig kümmerte, und daß endlich
in der neuesten Zeit, seit dieses ästhetische Denken, von dem der Verfasser soviel
abhängen läßt, völlig obenauf ist, d. h. seit Kant, Schiller usw., es mit der


Ästhetisches

Würde dadurch nach unsrer Überzeugung viel schneller und sichrer an die ge¬
langen, für die es doch eigentlich bestimmt zu sein scheint. Um von der Art
der Betrachtung eine Vorstellung zu geben, heben wir einige Gedanken heraus,
die uns zugleich einer Vervollständigung sähig erscheinen. Ob eine Kunst lebt,
meint der Verfasser, zeigt sich darin, in welchem Maße Stimmung in ihr
wohnt. Stimmung beruhe auf einer gewissen „Ganzheit" des Seelenlebens.
Der griechische Tempel und die ägyptischen Säulenhöfe oder die assyrischen
Burgterrassen hätten Stimmung, aber der italienischen Renaissance sei eine Er-
weckung des innern Lebens nicht gelungen, darum habe sie nur einige Künstler,
in deren Werken „Stimmung" sei, z. B. Michelangelo, und im allgemeinen
sei ans der bildenden Kunst der neuern Zeit die Stimmung verschwunden.
Aber desto reicher entfalte sie sich in der Musik (S. 55). Dies alles erscheint
uns doch sehr verkehrt, erwachsen ans der Gepflogenheit der Philosophen,
einen Begriff wie „Stimmung" willkürlich zu umgrenzen und daraus wie aus
einer notwendigen Schlußfolgerung subjektive Eindrücke als allgemeinverbindliche
Urteile hervorgehen zu lassen. Was wir andern unter „Stimmung" zu ver¬
stehen Pflegen, ist zweifellos der neuern und auch der Renaissancekunst in viel
höherm Maße eigen als der antiken. Ganz gewiß hat der Philosoph und
Ästhetiker Stein dem Kunstkenner Stein ein wenig im Wege gestanden und
ihn gehindert, das Nichtige unbefangen zu sehen. Richtig und sehr gut aus¬
gedrückt ist bei ihm der Gedanke, daß der italienische Humanismus durch sein
Humanitätsideal deu Kreis der Aufgaben der Kunst erweitert, daß er aber den
lebendigen, eignen Geist der Frührenaissance nicht aufzufassen vermocht habe, gegen
dessen Realismus er vielmehr eine Gegenströmung bilde (S. 78). Aber kurz
vorher meint er: Aufgabe der Kunsttheorie sei es, die Empfindungsweise einer
Zeit ins Bewußtsein zu erhebeu und ihr Festigkeit zu verleihen. Das hätte
die Renaissancezeit nicht gekonnt, ihr größter Theoretiker Leon Battista Alberti
hätte da nicht genügt. Im Renaissancemenschen gehe im allgemeinen das
Bewußtsein für sich den Weg des Gelehrtentums, inspirirt dnrch den Rnhmsinn,
und der künstlerische Geist für sich den Weg der dekorativen Instinkte, inspirirt
durch de'n Prachtsinn; die belebende, große, gemeinsame Gesinnung fehle. „Es
läßt sich nun verfolgen, wie in den neuern Jahrhunderten das ästhetische
Denken sich als eine für die Kunst keineswegs gleichgiltige, organische Kraft
entwickelt und wie sich hierdurch die Einseitigkeit der individuellen Struktur
allmählich ausgleicht usw." Aber der Verfasser scheint zu vergessen, daß bei
den Griechen, dem Kunstvolk schlechthin, nicht über Kunst geschrieben und, nach
ihrer Litteratur zu schließen, auch nicht viel über Kunst gesprochen wurde, daß
ferner die bedeutendste Erscheinung der „neuern Jahrhunderte," die holländische
Malerei, sich um das „ästhetische Denken" blutwenig kümmerte, und daß endlich
in der neuesten Zeit, seit dieses ästhetische Denken, von dem der Verfasser soviel
abhängen läßt, völlig obenauf ist, d. h. seit Kant, Schiller usw., es mit der


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[0184] Ästhetisches Würde dadurch nach unsrer Überzeugung viel schneller und sichrer an die ge¬ langen, für die es doch eigentlich bestimmt zu sein scheint. Um von der Art der Betrachtung eine Vorstellung zu geben, heben wir einige Gedanken heraus, die uns zugleich einer Vervollständigung sähig erscheinen. Ob eine Kunst lebt, meint der Verfasser, zeigt sich darin, in welchem Maße Stimmung in ihr wohnt. Stimmung beruhe auf einer gewissen „Ganzheit" des Seelenlebens. Der griechische Tempel und die ägyptischen Säulenhöfe oder die assyrischen Burgterrassen hätten Stimmung, aber der italienischen Renaissance sei eine Er- weckung des innern Lebens nicht gelungen, darum habe sie nur einige Künstler, in deren Werken „Stimmung" sei, z. B. Michelangelo, und im allgemeinen sei ans der bildenden Kunst der neuern Zeit die Stimmung verschwunden. Aber desto reicher entfalte sie sich in der Musik (S. 55). Dies alles erscheint uns doch sehr verkehrt, erwachsen ans der Gepflogenheit der Philosophen, einen Begriff wie „Stimmung" willkürlich zu umgrenzen und daraus wie aus einer notwendigen Schlußfolgerung subjektive Eindrücke als allgemeinverbindliche Urteile hervorgehen zu lassen. Was wir andern unter „Stimmung" zu ver¬ stehen Pflegen, ist zweifellos der neuern und auch der Renaissancekunst in viel höherm Maße eigen als der antiken. Ganz gewiß hat der Philosoph und Ästhetiker Stein dem Kunstkenner Stein ein wenig im Wege gestanden und ihn gehindert, das Nichtige unbefangen zu sehen. Richtig und sehr gut aus¬ gedrückt ist bei ihm der Gedanke, daß der italienische Humanismus durch sein Humanitätsideal deu Kreis der Aufgaben der Kunst erweitert, daß er aber den lebendigen, eignen Geist der Frührenaissance nicht aufzufassen vermocht habe, gegen dessen Realismus er vielmehr eine Gegenströmung bilde (S. 78). Aber kurz vorher meint er: Aufgabe der Kunsttheorie sei es, die Empfindungsweise einer Zeit ins Bewußtsein zu erhebeu und ihr Festigkeit zu verleihen. Das hätte die Renaissancezeit nicht gekonnt, ihr größter Theoretiker Leon Battista Alberti hätte da nicht genügt. Im Renaissancemenschen gehe im allgemeinen das Bewußtsein für sich den Weg des Gelehrtentums, inspirirt dnrch den Rnhmsinn, und der künstlerische Geist für sich den Weg der dekorativen Instinkte, inspirirt durch de'n Prachtsinn; die belebende, große, gemeinsame Gesinnung fehle. „Es läßt sich nun verfolgen, wie in den neuern Jahrhunderten das ästhetische Denken sich als eine für die Kunst keineswegs gleichgiltige, organische Kraft entwickelt und wie sich hierdurch die Einseitigkeit der individuellen Struktur allmählich ausgleicht usw." Aber der Verfasser scheint zu vergessen, daß bei den Griechen, dem Kunstvolk schlechthin, nicht über Kunst geschrieben und, nach ihrer Litteratur zu schließen, auch nicht viel über Kunst gesprochen wurde, daß ferner die bedeutendste Erscheinung der „neuern Jahrhunderte," die holländische Malerei, sich um das „ästhetische Denken" blutwenig kümmerte, und daß endlich in der neuesten Zeit, seit dieses ästhetische Denken, von dem der Verfasser soviel abhängen läßt, völlig obenauf ist, d. h. seit Kant, Schiller usw., es mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/184>, abgerufen am 01.07.2024.