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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Poesie des Sternenhimmels

Und so thut sich bei dem Anblick des unendlichen Sternenhimmels ein
unermeßliches Feld für die geschäftige Phantasie auf. Sie findet immer neue
Gleichnisse für die Wunder dieser Erscheinung. Bald ist ihr der Weltraum
ein weites blaues Meer, worin die Sterne die Inseln bilden, bald ist der
Himmel mit Nebelflecken, Milchstraßen und Milliarden von Sternen ein mit
prangenden Mustern durchwirkter Niesenteppich oder ein Garten mit schimmernden
Beeten voll Tausenden von Blütenkelchen, oder man sieht die mannichfachsten
Gruppen und Figuren, Tier- und Jagdbilder, Wagen und Leier, Löwen und
Stier usw. Oder es sind goldige Schriftzüge, die da zeugen von Ruhe und
Frieden, von Majestät und Unendlichkeit. Magisch zieht den Menschen das
ferne Leuchten an; das ruhelose Flimmern erscheint ihm wie ein Nicken und
Winken, die Sterne blicken wie freundliche Schutzengel mit klaren Augen herab,
sie gießen Frieden in das unruhige Herz. Zu allen Zeiten blickte mit seligem
Sehnen oder schmerzlichem Verzicht die liebende Seele zum Sternenhimmel
empor; der Stern der Liebe, der Morgen- und Abendstern ist ewig ein Zeuge
und Trost geheimen Verlangens, banger Hoffnung, süßen Gedenkens gewesen,
ein Zeuge von allem, was die junge Brust bewegt, die der Zauberstab
Aphrodites berührt hat, mag man an Phaethon, an Hesperos, an Phaon, an
tausend Sagen und Märchen aus dem Altertum denken, oder mag man lesen,
was der Romantiker Sulpiz Voisseröe an seine Braut schreibt: "Daß Sie mir
bei der Trennung, worin wir leben müssen, den Abendstern zum Zusammen¬
treffen vorschlugen, wundert mich gar nicht: ich habe ihn schon oft mit Ge¬
danken an Sie betrachtet, und er ladet mich immer dazu ein; dieses klare, feste
Licht stärkt die Seele mit neuem Mut, und er ist das schönste Bild wahrer
Liebe," oder was Moltke in seinen Briefen aus der Türkei seiner geliebten
Braut schreibt: "Süße Marie, wenn du abends nach neun Uhr gegen Süden
blickest, so wirst du einen prachtvollen Stern am Horizont aufsteigen sehen;
es ist derselbe, den meine selige Mutter so oft bewundert ^hat^; ich sah ihn
nie, ohne an sie dabei zu denken, und habe den Glauben, daß es mein guter
Stern ist. Denke an mich." Das liebende Herz beneidet die Sterne, die zu
der fernen Geliebten herabsehen, es möchte sich zu ihnen emporschwingen, mit
ihnen wandeln und reisen in die Weite, oder möchte der Himmelsbahn folgen,
um aus seliger Höhe herabzuschauen auf alles Erdenweh. Bald erscheinen
die Sterne voll Mitgefühl, bald scheint ihr unablässiges Wandern gleichmütig,
teilnahmlos; es rührt sie nichts, was hier unten geschieht, weder Frevel, noch
Segen. Sie bestimmen unser Schicksal nicht, sondern "in deiner Brust sind
deines Schicksals Sterne," die Leitsterne zum Guten wie zum Bösen, das Ge¬
wissen, das Vertrauen zu dir selbst, Mut, Entschlossenheit, Liebe, Glaube, oder
Haß und Arglist, Bosheit und Zorn. Die Sterne da oben achten deiner
nicht; du magst sie fragen, du magst ihnen dein Leid erzählen, sie funkeln
und schweigen.


Die Poesie des Sternenhimmels

Und so thut sich bei dem Anblick des unendlichen Sternenhimmels ein
unermeßliches Feld für die geschäftige Phantasie auf. Sie findet immer neue
Gleichnisse für die Wunder dieser Erscheinung. Bald ist ihr der Weltraum
ein weites blaues Meer, worin die Sterne die Inseln bilden, bald ist der
Himmel mit Nebelflecken, Milchstraßen und Milliarden von Sternen ein mit
prangenden Mustern durchwirkter Niesenteppich oder ein Garten mit schimmernden
Beeten voll Tausenden von Blütenkelchen, oder man sieht die mannichfachsten
Gruppen und Figuren, Tier- und Jagdbilder, Wagen und Leier, Löwen und
Stier usw. Oder es sind goldige Schriftzüge, die da zeugen von Ruhe und
Frieden, von Majestät und Unendlichkeit. Magisch zieht den Menschen das
ferne Leuchten an; das ruhelose Flimmern erscheint ihm wie ein Nicken und
Winken, die Sterne blicken wie freundliche Schutzengel mit klaren Augen herab,
sie gießen Frieden in das unruhige Herz. Zu allen Zeiten blickte mit seligem
Sehnen oder schmerzlichem Verzicht die liebende Seele zum Sternenhimmel
empor; der Stern der Liebe, der Morgen- und Abendstern ist ewig ein Zeuge
und Trost geheimen Verlangens, banger Hoffnung, süßen Gedenkens gewesen,
ein Zeuge von allem, was die junge Brust bewegt, die der Zauberstab
Aphrodites berührt hat, mag man an Phaethon, an Hesperos, an Phaon, an
tausend Sagen und Märchen aus dem Altertum denken, oder mag man lesen,
was der Romantiker Sulpiz Voisseröe an seine Braut schreibt: „Daß Sie mir
bei der Trennung, worin wir leben müssen, den Abendstern zum Zusammen¬
treffen vorschlugen, wundert mich gar nicht: ich habe ihn schon oft mit Ge¬
danken an Sie betrachtet, und er ladet mich immer dazu ein; dieses klare, feste
Licht stärkt die Seele mit neuem Mut, und er ist das schönste Bild wahrer
Liebe," oder was Moltke in seinen Briefen aus der Türkei seiner geliebten
Braut schreibt: „Süße Marie, wenn du abends nach neun Uhr gegen Süden
blickest, so wirst du einen prachtvollen Stern am Horizont aufsteigen sehen;
es ist derselbe, den meine selige Mutter so oft bewundert ^hat^; ich sah ihn
nie, ohne an sie dabei zu denken, und habe den Glauben, daß es mein guter
Stern ist. Denke an mich." Das liebende Herz beneidet die Sterne, die zu
der fernen Geliebten herabsehen, es möchte sich zu ihnen emporschwingen, mit
ihnen wandeln und reisen in die Weite, oder möchte der Himmelsbahn folgen,
um aus seliger Höhe herabzuschauen auf alles Erdenweh. Bald erscheinen
die Sterne voll Mitgefühl, bald scheint ihr unablässiges Wandern gleichmütig,
teilnahmlos; es rührt sie nichts, was hier unten geschieht, weder Frevel, noch
Segen. Sie bestimmen unser Schicksal nicht, sondern „in deiner Brust sind
deines Schicksals Sterne," die Leitsterne zum Guten wie zum Bösen, das Ge¬
wissen, das Vertrauen zu dir selbst, Mut, Entschlossenheit, Liebe, Glaube, oder
Haß und Arglist, Bosheit und Zorn. Die Sterne da oben achten deiner
nicht; du magst sie fragen, du magst ihnen dein Leid erzählen, sie funkeln
und schweigen.


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[0172] Die Poesie des Sternenhimmels Und so thut sich bei dem Anblick des unendlichen Sternenhimmels ein unermeßliches Feld für die geschäftige Phantasie auf. Sie findet immer neue Gleichnisse für die Wunder dieser Erscheinung. Bald ist ihr der Weltraum ein weites blaues Meer, worin die Sterne die Inseln bilden, bald ist der Himmel mit Nebelflecken, Milchstraßen und Milliarden von Sternen ein mit prangenden Mustern durchwirkter Niesenteppich oder ein Garten mit schimmernden Beeten voll Tausenden von Blütenkelchen, oder man sieht die mannichfachsten Gruppen und Figuren, Tier- und Jagdbilder, Wagen und Leier, Löwen und Stier usw. Oder es sind goldige Schriftzüge, die da zeugen von Ruhe und Frieden, von Majestät und Unendlichkeit. Magisch zieht den Menschen das ferne Leuchten an; das ruhelose Flimmern erscheint ihm wie ein Nicken und Winken, die Sterne blicken wie freundliche Schutzengel mit klaren Augen herab, sie gießen Frieden in das unruhige Herz. Zu allen Zeiten blickte mit seligem Sehnen oder schmerzlichem Verzicht die liebende Seele zum Sternenhimmel empor; der Stern der Liebe, der Morgen- und Abendstern ist ewig ein Zeuge und Trost geheimen Verlangens, banger Hoffnung, süßen Gedenkens gewesen, ein Zeuge von allem, was die junge Brust bewegt, die der Zauberstab Aphrodites berührt hat, mag man an Phaethon, an Hesperos, an Phaon, an tausend Sagen und Märchen aus dem Altertum denken, oder mag man lesen, was der Romantiker Sulpiz Voisseröe an seine Braut schreibt: „Daß Sie mir bei der Trennung, worin wir leben müssen, den Abendstern zum Zusammen¬ treffen vorschlugen, wundert mich gar nicht: ich habe ihn schon oft mit Ge¬ danken an Sie betrachtet, und er ladet mich immer dazu ein; dieses klare, feste Licht stärkt die Seele mit neuem Mut, und er ist das schönste Bild wahrer Liebe," oder was Moltke in seinen Briefen aus der Türkei seiner geliebten Braut schreibt: „Süße Marie, wenn du abends nach neun Uhr gegen Süden blickest, so wirst du einen prachtvollen Stern am Horizont aufsteigen sehen; es ist derselbe, den meine selige Mutter so oft bewundert ^hat^; ich sah ihn nie, ohne an sie dabei zu denken, und habe den Glauben, daß es mein guter Stern ist. Denke an mich." Das liebende Herz beneidet die Sterne, die zu der fernen Geliebten herabsehen, es möchte sich zu ihnen emporschwingen, mit ihnen wandeln und reisen in die Weite, oder möchte der Himmelsbahn folgen, um aus seliger Höhe herabzuschauen auf alles Erdenweh. Bald erscheinen die Sterne voll Mitgefühl, bald scheint ihr unablässiges Wandern gleichmütig, teilnahmlos; es rührt sie nichts, was hier unten geschieht, weder Frevel, noch Segen. Sie bestimmen unser Schicksal nicht, sondern „in deiner Brust sind deines Schicksals Sterne," die Leitsterne zum Guten wie zum Bösen, das Ge¬ wissen, das Vertrauen zu dir selbst, Mut, Entschlossenheit, Liebe, Glaube, oder Haß und Arglist, Bosheit und Zorn. Die Sterne da oben achten deiner nicht; du magst sie fragen, du magst ihnen dein Leid erzählen, sie funkeln und schweigen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/172>, abgerufen am 24.07.2024.