Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Die Poesie des Sternenhimmels Und doch erscheint sie heilig, die Sternennacht, "strahlende Unsterblichkeit Der Gedanke an den Tod, an das Schwinden der Lebenswärme, an das So mündet die Ästhetik des Sternenhimmels, die sich auf das Physiologische Dies klarere Sehen wird aber durch tiefere wissenschaftliche Erkenntnis Die Poesie des Sternenhimmels Und doch erscheint sie heilig, die Sternennacht, „strahlende Unsterblichkeit Der Gedanke an den Tod, an das Schwinden der Lebenswärme, an das So mündet die Ästhetik des Sternenhimmels, die sich auf das Physiologische Dies klarere Sehen wird aber durch tiefere wissenschaftliche Erkenntnis <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225759"/> <fw type="header" place="top"> Die Poesie des Sternenhimmels</fw><lb/> <p xml:id="ID_406"> Und doch erscheint sie heilig, die Sternennacht, „strahlende Unsterblichkeit<lb/> wandelt durch die Lüfte." Unter uns die Gräber, über uns die Sterne! Das<lb/> senkt sich in das andachtdurchschauerte Herz. ?ör aspera g-et ^sti-g.! Durch<lb/> Nacht zum Licht!</p><lb/> <p xml:id="ID_407"> Der Gedanke an den Tod, an das Schwinden der Lebenswärme, an das<lb/> Stocken des Blutes, an das Stillstehen des Herzens ist ein trüber Gedanke;<lb/> die Sterne senden ihr Licht herab wie Verkündiger einer reinern Sphäre, und<lb/> wie sie die Finsternis erhellen und überwinden, so scheinen sie dem gläubigen<lb/> Gemüte den Tod zu überwinden und ewige Liebe herabzuleuchten aus der<lb/> Welt des Allmächtigen. Man meint das Licht der Ewigkeit hindurchleuchten<lb/> zu sehen.</p><lb/> <p xml:id="ID_408"> So mündet die Ästhetik des Sternenhimmels, die sich auf das Physiologische<lb/> gründete und sich im Reiche des Seelischen bereicherte und verinnerlichte, in<lb/> eine Metaphysik des Sternenhimmels. „Unter hundert Menschen, sagt<lb/> Ruskin, ist einer, der denken, unter tausend, die denken, ist einer, der sehen<lb/> kann; klar sehen ist Dichtung, Weissagung und Religion, alles in einem."</p><lb/> <p xml:id="ID_409" next="#ID_410"> Dies klarere Sehen wird aber durch tiefere wissenschaftliche Erkenntnis<lb/> gesteigert. Wie sich in Zeiten, die eine Blüte der Naturwissenschaften herauf¬<lb/> führten, auch stets mit dem eindringenden Verständnis der Naturkräfte und<lb/> Naturgesetze ein lebhaftes Naturgefühl entwickelt, das sich in dichterischen<lb/> Werken und Beschreibungen kundgiebt, so wird auch der empfängliche Mensch<lb/> bei wachsender Erkenntnis der astronomischen Verhältnisse in immer tieferes<lb/> Staunen versenkt, weil er sich immer neuern und immer größern Rätseln<lb/> gegenüber sieht, und dieses Staunen muß ihn zu höhern, weltentrückenden Ideen<lb/> emporführen. Welche Stufenleiter durchläuft der Gedanke, der von unsrer im<lb/> Verhältnis zum Einzelnen schon so weiten und großen, im Weltsystem so<lb/> kleinen Erde zu den größern Planeten mit ihren zahlreichen Monden aufsteigt<lb/> und sich endlich zur Sonne hinaushebt! Wie riesengroß ist sie, wie unbe¬<lb/> rechenbar für den sonst so klugen Menschengeist! Ein Sonnenfleck würde die<lb/> Erde verschlucken wie der tiefe Brunnen den Kiesel; ihre sogenannten Pro¬<lb/> tuberanzen mit ihren herrlichen Farbenwirkungen sind gewaltige Ausbrüche von<lb/> taufenden und abertausenden von Meilen Höhe. Welche Schlußfolgerungen<lb/> auf flüssige Metalle und siedende Gase in der Sonne läßt die Spektralanalyse<lb/> zu, von welchen unermeßlichen Kräften gewinnen wir eine Ahnung, wenn wir<lb/> von der Lichtkraft dieses Sonnenkörpers auf ihre Ursachen zu schließen versuchen!<lb/> Und dringt man weiter ein in die Betrachtung der Himmelskörper, so thun<lb/> sich neue Sonnensysteme auf, ja Millionen von Sonnensystemen, denen das<lb/> unsrige nicht entfernt gleicht, und vor denen es wie eine Welle im Welten¬<lb/> ozean verschwindet. Und in dieser Fülle von Welten welche Ordnung, welche<lb/> gesetzmäßige Folge bei allem Wechsel! Bei einer so erdrückenden Großartigkeit<lb/> aller Raum- und Zahlverhältnisse ist alles Erkennen nur ein schwaches,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0173]
Die Poesie des Sternenhimmels
Und doch erscheint sie heilig, die Sternennacht, „strahlende Unsterblichkeit
wandelt durch die Lüfte." Unter uns die Gräber, über uns die Sterne! Das
senkt sich in das andachtdurchschauerte Herz. ?ör aspera g-et ^sti-g.! Durch
Nacht zum Licht!
Der Gedanke an den Tod, an das Schwinden der Lebenswärme, an das
Stocken des Blutes, an das Stillstehen des Herzens ist ein trüber Gedanke;
die Sterne senden ihr Licht herab wie Verkündiger einer reinern Sphäre, und
wie sie die Finsternis erhellen und überwinden, so scheinen sie dem gläubigen
Gemüte den Tod zu überwinden und ewige Liebe herabzuleuchten aus der
Welt des Allmächtigen. Man meint das Licht der Ewigkeit hindurchleuchten
zu sehen.
So mündet die Ästhetik des Sternenhimmels, die sich auf das Physiologische
gründete und sich im Reiche des Seelischen bereicherte und verinnerlichte, in
eine Metaphysik des Sternenhimmels. „Unter hundert Menschen, sagt
Ruskin, ist einer, der denken, unter tausend, die denken, ist einer, der sehen
kann; klar sehen ist Dichtung, Weissagung und Religion, alles in einem."
Dies klarere Sehen wird aber durch tiefere wissenschaftliche Erkenntnis
gesteigert. Wie sich in Zeiten, die eine Blüte der Naturwissenschaften herauf¬
führten, auch stets mit dem eindringenden Verständnis der Naturkräfte und
Naturgesetze ein lebhaftes Naturgefühl entwickelt, das sich in dichterischen
Werken und Beschreibungen kundgiebt, so wird auch der empfängliche Mensch
bei wachsender Erkenntnis der astronomischen Verhältnisse in immer tieferes
Staunen versenkt, weil er sich immer neuern und immer größern Rätseln
gegenüber sieht, und dieses Staunen muß ihn zu höhern, weltentrückenden Ideen
emporführen. Welche Stufenleiter durchläuft der Gedanke, der von unsrer im
Verhältnis zum Einzelnen schon so weiten und großen, im Weltsystem so
kleinen Erde zu den größern Planeten mit ihren zahlreichen Monden aufsteigt
und sich endlich zur Sonne hinaushebt! Wie riesengroß ist sie, wie unbe¬
rechenbar für den sonst so klugen Menschengeist! Ein Sonnenfleck würde die
Erde verschlucken wie der tiefe Brunnen den Kiesel; ihre sogenannten Pro¬
tuberanzen mit ihren herrlichen Farbenwirkungen sind gewaltige Ausbrüche von
taufenden und abertausenden von Meilen Höhe. Welche Schlußfolgerungen
auf flüssige Metalle und siedende Gase in der Sonne läßt die Spektralanalyse
zu, von welchen unermeßlichen Kräften gewinnen wir eine Ahnung, wenn wir
von der Lichtkraft dieses Sonnenkörpers auf ihre Ursachen zu schließen versuchen!
Und dringt man weiter ein in die Betrachtung der Himmelskörper, so thun
sich neue Sonnensysteme auf, ja Millionen von Sonnensystemen, denen das
unsrige nicht entfernt gleicht, und vor denen es wie eine Welle im Welten¬
ozean verschwindet. Und in dieser Fülle von Welten welche Ordnung, welche
gesetzmäßige Folge bei allem Wechsel! Bei einer so erdrückenden Großartigkeit
aller Raum- und Zahlverhältnisse ist alles Erkennen nur ein schwaches,
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