Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lazzaroni

Märkten findet man lebende Hühner und Enten in Bündeln zusammengeschnürt
und aufgetürmt, noch ganz so wie auf den Frcskogcmülden der Eßzimmer in
Pompeji. Die Kraft der Pferde und Maultiere wird ausgenutzt, wie mau
eine Citrone auspreßt. Der deutsche Bauer behandelt sein Pferd oft liebevoller
als seine Familie. Der italienische Landmann belade sein Maultier mit zwei
zu den Seiten herabhängenden Körben Broccoli, setzt oben auf die schwere
Last noch Weib und Kind und prügelt das Tier zur Stadt. Da durch die
starke Konkurrenz bei den Kutschern die Unsitte entstanden ist. den Fremden
vor die Füße zu fcchreu, um sie zum Einsteigen zu drängen, so achtet die
Polizei streng darauf, daß wenigstens vor den Bahnstationen die Wagenreihe
in einer Linie neben einander still hält. Daher kommt es jedem Kutscher darauf
an, die Gunst des Ankömmlings schon von weitem auf sich zu lenken, und so
peitschen beim Erscheinen eines Fremden sämtliche Kutscher um die Wette und
unter einladenden Wettgeschrei so aus ihre Pferde, daß sie sich bäumen. Trotz
solcher Mißhandlung bleibt das Tier leicht in der Gewalt des Kutschers, weil
die Nüstern meist durch einen Messingbügel mit Hebelstangen, an denen die
Zügel befestigt sind, zusammengeschnürt werden. Vor einem hochbeladnen zwei-
rüdrigen Karren ist das Maultier erschöpft niedergebrochen. Der Kutscher
und das Straßenpublikum schlagen unter Geschrei auf das arme Tier. Der
Fremde sieht, es ist dem Maultier ganz unmöglich, sich zu erheben, da sich
die Ladung durch den Fall des Tieres nach vorn geschoben hat, und der
Scherenbaum es mit verstärktem Druck am Boden festhält. Empört fordert
er den ruhig danebenstehenden Stadtpolizisten auf, den Fuhrmann die Last um¬
packen zu lassen. I^a, is^go 0 ugual" per well (das Gesetz ist sür alle gleich),
lautet die Antwort. Das soll heißen: Jeder kann mit dem Seinen machen,
was er will; der Beamte weist entrüstet die Zumutung zurück, sich zu einem
Eingriff in fremdes Recht verleiten zu lassen. Auf der Bahnstation Calatafimi
auf Sizilien peinigten die dort lungernden Lazzaroni einen an einen Baum
gefesselten Pavian durch Hiebe und Steinwürfe. Die ohnmächtigen Wutans¬
brüche des gequälten Tieres fanden allgemeinen Beifall, sodciß sich schließlich
sogar die Carabinieri und das Bahnpersonal an dem Unfug beteiligten, bis
endlich die Rückkehr des Besitzers das Tier erlöste. Unser deutsches Gefühl
stößt hier auf einen toten Punkt.

Bei öffentlichen Lustbarkeiten, bei Festen und Aufzügen bezeugt das Lazza-
rvnitum den Einfluß der Tradition nach einer bessern Seite. Schon in
Verona während der allabendlichen öffentlichen Konzerte kann man die Schulung
in dem Benehmen des gesamten Volkes beobachten. Im Schritt und ohne
Signale fährt die Pferdebahn vorüber, jeder Solovortrag findet besondre
Würdigung, und die beiden Stadtpolizisten mit Cylinder und Spazierstock
wirken ausschließlich dekorativ. Das sonst so lürmlustige Lazzaronitum kommt
gar nicht auf den Gedanken, solche öffentlichen Abendkonzerte auf den oft nur


Lazzaroni

Märkten findet man lebende Hühner und Enten in Bündeln zusammengeschnürt
und aufgetürmt, noch ganz so wie auf den Frcskogcmülden der Eßzimmer in
Pompeji. Die Kraft der Pferde und Maultiere wird ausgenutzt, wie mau
eine Citrone auspreßt. Der deutsche Bauer behandelt sein Pferd oft liebevoller
als seine Familie. Der italienische Landmann belade sein Maultier mit zwei
zu den Seiten herabhängenden Körben Broccoli, setzt oben auf die schwere
Last noch Weib und Kind und prügelt das Tier zur Stadt. Da durch die
starke Konkurrenz bei den Kutschern die Unsitte entstanden ist. den Fremden
vor die Füße zu fcchreu, um sie zum Einsteigen zu drängen, so achtet die
Polizei streng darauf, daß wenigstens vor den Bahnstationen die Wagenreihe
in einer Linie neben einander still hält. Daher kommt es jedem Kutscher darauf
an, die Gunst des Ankömmlings schon von weitem auf sich zu lenken, und so
peitschen beim Erscheinen eines Fremden sämtliche Kutscher um die Wette und
unter einladenden Wettgeschrei so aus ihre Pferde, daß sie sich bäumen. Trotz
solcher Mißhandlung bleibt das Tier leicht in der Gewalt des Kutschers, weil
die Nüstern meist durch einen Messingbügel mit Hebelstangen, an denen die
Zügel befestigt sind, zusammengeschnürt werden. Vor einem hochbeladnen zwei-
rüdrigen Karren ist das Maultier erschöpft niedergebrochen. Der Kutscher
und das Straßenpublikum schlagen unter Geschrei auf das arme Tier. Der
Fremde sieht, es ist dem Maultier ganz unmöglich, sich zu erheben, da sich
die Ladung durch den Fall des Tieres nach vorn geschoben hat, und der
Scherenbaum es mit verstärktem Druck am Boden festhält. Empört fordert
er den ruhig danebenstehenden Stadtpolizisten auf, den Fuhrmann die Last um¬
packen zu lassen. I^a, is^go 0 ugual» per well (das Gesetz ist sür alle gleich),
lautet die Antwort. Das soll heißen: Jeder kann mit dem Seinen machen,
was er will; der Beamte weist entrüstet die Zumutung zurück, sich zu einem
Eingriff in fremdes Recht verleiten zu lassen. Auf der Bahnstation Calatafimi
auf Sizilien peinigten die dort lungernden Lazzaroni einen an einen Baum
gefesselten Pavian durch Hiebe und Steinwürfe. Die ohnmächtigen Wutans¬
brüche des gequälten Tieres fanden allgemeinen Beifall, sodciß sich schließlich
sogar die Carabinieri und das Bahnpersonal an dem Unfug beteiligten, bis
endlich die Rückkehr des Besitzers das Tier erlöste. Unser deutsches Gefühl
stößt hier auf einen toten Punkt.

Bei öffentlichen Lustbarkeiten, bei Festen und Aufzügen bezeugt das Lazza-
rvnitum den Einfluß der Tradition nach einer bessern Seite. Schon in
Verona während der allabendlichen öffentlichen Konzerte kann man die Schulung
in dem Benehmen des gesamten Volkes beobachten. Im Schritt und ohne
Signale fährt die Pferdebahn vorüber, jeder Solovortrag findet besondre
Würdigung, und die beiden Stadtpolizisten mit Cylinder und Spazierstock
wirken ausschließlich dekorativ. Das sonst so lürmlustige Lazzaronitum kommt
gar nicht auf den Gedanken, solche öffentlichen Abendkonzerte auf den oft nur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0127" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225713"/>
          <fw type="header" place="top"> Lazzaroni</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_304" prev="#ID_303"> Märkten findet man lebende Hühner und Enten in Bündeln zusammengeschnürt<lb/>
und aufgetürmt, noch ganz so wie auf den Frcskogcmülden der Eßzimmer in<lb/>
Pompeji. Die Kraft der Pferde und Maultiere wird ausgenutzt, wie mau<lb/>
eine Citrone auspreßt. Der deutsche Bauer behandelt sein Pferd oft liebevoller<lb/>
als seine Familie. Der italienische Landmann belade sein Maultier mit zwei<lb/>
zu den Seiten herabhängenden Körben Broccoli, setzt oben auf die schwere<lb/>
Last noch Weib und Kind und prügelt das Tier zur Stadt. Da durch die<lb/>
starke Konkurrenz bei den Kutschern die Unsitte entstanden ist. den Fremden<lb/>
vor die Füße zu fcchreu, um sie zum Einsteigen zu drängen, so achtet die<lb/>
Polizei streng darauf, daß wenigstens vor den Bahnstationen die Wagenreihe<lb/>
in einer Linie neben einander still hält. Daher kommt es jedem Kutscher darauf<lb/>
an, die Gunst des Ankömmlings schon von weitem auf sich zu lenken, und so<lb/>
peitschen beim Erscheinen eines Fremden sämtliche Kutscher um die Wette und<lb/>
unter einladenden Wettgeschrei so aus ihre Pferde, daß sie sich bäumen. Trotz<lb/>
solcher Mißhandlung bleibt das Tier leicht in der Gewalt des Kutschers, weil<lb/>
die Nüstern meist durch einen Messingbügel mit Hebelstangen, an denen die<lb/>
Zügel befestigt sind, zusammengeschnürt werden. Vor einem hochbeladnen zwei-<lb/>
rüdrigen Karren ist das Maultier erschöpft niedergebrochen. Der Kutscher<lb/>
und das Straßenpublikum schlagen unter Geschrei auf das arme Tier. Der<lb/>
Fremde sieht, es ist dem Maultier ganz unmöglich, sich zu erheben, da sich<lb/>
die Ladung durch den Fall des Tieres nach vorn geschoben hat, und der<lb/>
Scherenbaum es mit verstärktem Druck am Boden festhält. Empört fordert<lb/>
er den ruhig danebenstehenden Stadtpolizisten auf, den Fuhrmann die Last um¬<lb/>
packen zu lassen. I^a, is^go 0 ugual» per well (das Gesetz ist sür alle gleich),<lb/>
lautet die Antwort. Das soll heißen: Jeder kann mit dem Seinen machen,<lb/>
was er will; der Beamte weist entrüstet die Zumutung zurück, sich zu einem<lb/>
Eingriff in fremdes Recht verleiten zu lassen. Auf der Bahnstation Calatafimi<lb/>
auf Sizilien peinigten die dort lungernden Lazzaroni einen an einen Baum<lb/>
gefesselten Pavian durch Hiebe und Steinwürfe. Die ohnmächtigen Wutans¬<lb/>
brüche des gequälten Tieres fanden allgemeinen Beifall, sodciß sich schließlich<lb/>
sogar die Carabinieri und das Bahnpersonal an dem Unfug beteiligten, bis<lb/>
endlich die Rückkehr des Besitzers das Tier erlöste. Unser deutsches Gefühl<lb/>
stößt hier auf einen toten Punkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Bei öffentlichen Lustbarkeiten, bei Festen und Aufzügen bezeugt das Lazza-<lb/>
rvnitum den Einfluß der Tradition nach einer bessern Seite. Schon in<lb/>
Verona während der allabendlichen öffentlichen Konzerte kann man die Schulung<lb/>
in dem Benehmen des gesamten Volkes beobachten. Im Schritt und ohne<lb/>
Signale fährt die Pferdebahn vorüber, jeder Solovortrag findet besondre<lb/>
Würdigung, und die beiden Stadtpolizisten mit Cylinder und Spazierstock<lb/>
wirken ausschließlich dekorativ. Das sonst so lürmlustige Lazzaronitum kommt<lb/>
gar nicht auf den Gedanken, solche öffentlichen Abendkonzerte auf den oft nur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0127] Lazzaroni Märkten findet man lebende Hühner und Enten in Bündeln zusammengeschnürt und aufgetürmt, noch ganz so wie auf den Frcskogcmülden der Eßzimmer in Pompeji. Die Kraft der Pferde und Maultiere wird ausgenutzt, wie mau eine Citrone auspreßt. Der deutsche Bauer behandelt sein Pferd oft liebevoller als seine Familie. Der italienische Landmann belade sein Maultier mit zwei zu den Seiten herabhängenden Körben Broccoli, setzt oben auf die schwere Last noch Weib und Kind und prügelt das Tier zur Stadt. Da durch die starke Konkurrenz bei den Kutschern die Unsitte entstanden ist. den Fremden vor die Füße zu fcchreu, um sie zum Einsteigen zu drängen, so achtet die Polizei streng darauf, daß wenigstens vor den Bahnstationen die Wagenreihe in einer Linie neben einander still hält. Daher kommt es jedem Kutscher darauf an, die Gunst des Ankömmlings schon von weitem auf sich zu lenken, und so peitschen beim Erscheinen eines Fremden sämtliche Kutscher um die Wette und unter einladenden Wettgeschrei so aus ihre Pferde, daß sie sich bäumen. Trotz solcher Mißhandlung bleibt das Tier leicht in der Gewalt des Kutschers, weil die Nüstern meist durch einen Messingbügel mit Hebelstangen, an denen die Zügel befestigt sind, zusammengeschnürt werden. Vor einem hochbeladnen zwei- rüdrigen Karren ist das Maultier erschöpft niedergebrochen. Der Kutscher und das Straßenpublikum schlagen unter Geschrei auf das arme Tier. Der Fremde sieht, es ist dem Maultier ganz unmöglich, sich zu erheben, da sich die Ladung durch den Fall des Tieres nach vorn geschoben hat, und der Scherenbaum es mit verstärktem Druck am Boden festhält. Empört fordert er den ruhig danebenstehenden Stadtpolizisten auf, den Fuhrmann die Last um¬ packen zu lassen. I^a, is^go 0 ugual» per well (das Gesetz ist sür alle gleich), lautet die Antwort. Das soll heißen: Jeder kann mit dem Seinen machen, was er will; der Beamte weist entrüstet die Zumutung zurück, sich zu einem Eingriff in fremdes Recht verleiten zu lassen. Auf der Bahnstation Calatafimi auf Sizilien peinigten die dort lungernden Lazzaroni einen an einen Baum gefesselten Pavian durch Hiebe und Steinwürfe. Die ohnmächtigen Wutans¬ brüche des gequälten Tieres fanden allgemeinen Beifall, sodciß sich schließlich sogar die Carabinieri und das Bahnpersonal an dem Unfug beteiligten, bis endlich die Rückkehr des Besitzers das Tier erlöste. Unser deutsches Gefühl stößt hier auf einen toten Punkt. Bei öffentlichen Lustbarkeiten, bei Festen und Aufzügen bezeugt das Lazza- rvnitum den Einfluß der Tradition nach einer bessern Seite. Schon in Verona während der allabendlichen öffentlichen Konzerte kann man die Schulung in dem Benehmen des gesamten Volkes beobachten. Im Schritt und ohne Signale fährt die Pferdebahn vorüber, jeder Solovortrag findet besondre Würdigung, und die beiden Stadtpolizisten mit Cylinder und Spazierstock wirken ausschließlich dekorativ. Das sonst so lürmlustige Lazzaronitum kommt gar nicht auf den Gedanken, solche öffentlichen Abendkonzerte auf den oft nur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/127
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/127>, abgerufen am 03.07.2024.