Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Umgebung der Städte streifen fragwürdige Gestalten mit einem alten Vorder¬
lader bewaffnet umher. Zur Rechten und Linken der Via Appia hört man
oft eine wahre Kanonade auf der Campagna. Mit Bedauern sieht der Fremde
sechs armselige Vogelleichen in dem Ranzen des Weidmanns und denkt: Viel
Lärm um nichts! Aber der Tagedieb ist ganz zufrieden mit dem Erfolg, denn
um diese Zeit werden ihm die Lerchen als Leckerbissen gut bezahlt. Auf den
Märkten der Seestädte, wie Venedig, Neapel, Palermo, bewundert man die
reiche Fülle schmackhafter Seefische. Für die Ernährung des niedern Volks
sind aber nur die wohlfeilen, für uns ungenießbaren von Bedeutung, z. B. die
Katzenhaie mit ihrem thranigen, lederartigen Fleisch und vor allem der Thun¬
fisch. Wenn im Frühjahr die Thüre, Niesensische von zehn und mehr Zentnern
Gewicht, in Scharen aus der Tiefe des Meeres steigen, um in den Buchten
der Inseln zu laichen, strömt das Lazzaronitum des Binnenlandes an die
Stätten, wo die Unternehmer ihre Tonnaren für den Empfang der Fische zu¬
richten und auf zwei Kilometer hinaus die hundertsechzig Fuß hohen Netze in
die Tiefe senken. Das Justandhalten der Netze, das Zerlegen, Einsalzen, Ver¬
packen und Versenden der Fische giebt einer Masse von Lazzaroni Verdienst und
Beschäftigung. Und diese Beschäftigung ist ganz nach dem Geschmack des
niedern Volkes; die Spannung, ob der Fisch wohl kommt, das Treiben der
wandernden Scharen in den innersten Teil des Netzes, die "Totenkammer,"
schließlich das jedesmalige niedermetzeln der Riesentiere, wobei sich rings das
Meer rötet, das sind Dinge, bei denen selbst der trägste Lazzarone keine Er¬
müdung kennt. Ein Hauptnahrungsmittel sür das Proletariat der Küstenstädte
sind die lrutti al maro, die das Meer täglich liefert, jene Fülle von Muscheln,
Seesternen, Sepien und Polypen. Wenn die Fischer den Fang einbringen,
füllen die Zwischenhändler ihre thönerne Schüssel mit den achtarmigen moschus¬
duftenden Polypen und stellen sie auf einem primitiven hölzernen Dreifuß an
den Straßenecken auf. Eine Menge von Lazzaroni umsteht die Schüssel, in
deren Seewasser die dichtgedrängten Polypen mit einander ringen. Alles
durchsucht die Taschen nach einem Kupferstück, während die Augen auf die
Schüssel gerichtet sind, um das größte Tier zu erspähen, und bald sieht man
einen glücklichen Käufer davon schlendern, der ein solches Tier mit Behagen
wie einen Apfel roh verspeist.

Die Grausamkeit des Volkes, die sich in der Vernichtung der Vögel zeigt,
beruht ja zum Teil auf dem Hunger. Aber die antike Gefühlsroheit, durch
die Tradition geheiligt, erstreckt sich in Italien auf alle Verhältnisse, die
zwischen Mensch und Tier bestehen. Wie der Römer den Sklaven und das
Vieh, so betrachtet der Italiener noch heute das Tier als Sache, die man
dem Bedürfnis, dem Augenblick, der Bequemlichkeit und Laune entsprechend
behandeln dürfe. Auf den Bahnstationen liegen oft im heißen Sonnenbrand
lebende Lämmer mit zusammengekoppelten Beinen, und auf allen italienischen


Umgebung der Städte streifen fragwürdige Gestalten mit einem alten Vorder¬
lader bewaffnet umher. Zur Rechten und Linken der Via Appia hört man
oft eine wahre Kanonade auf der Campagna. Mit Bedauern sieht der Fremde
sechs armselige Vogelleichen in dem Ranzen des Weidmanns und denkt: Viel
Lärm um nichts! Aber der Tagedieb ist ganz zufrieden mit dem Erfolg, denn
um diese Zeit werden ihm die Lerchen als Leckerbissen gut bezahlt. Auf den
Märkten der Seestädte, wie Venedig, Neapel, Palermo, bewundert man die
reiche Fülle schmackhafter Seefische. Für die Ernährung des niedern Volks
sind aber nur die wohlfeilen, für uns ungenießbaren von Bedeutung, z. B. die
Katzenhaie mit ihrem thranigen, lederartigen Fleisch und vor allem der Thun¬
fisch. Wenn im Frühjahr die Thüre, Niesensische von zehn und mehr Zentnern
Gewicht, in Scharen aus der Tiefe des Meeres steigen, um in den Buchten
der Inseln zu laichen, strömt das Lazzaronitum des Binnenlandes an die
Stätten, wo die Unternehmer ihre Tonnaren für den Empfang der Fische zu¬
richten und auf zwei Kilometer hinaus die hundertsechzig Fuß hohen Netze in
die Tiefe senken. Das Justandhalten der Netze, das Zerlegen, Einsalzen, Ver¬
packen und Versenden der Fische giebt einer Masse von Lazzaroni Verdienst und
Beschäftigung. Und diese Beschäftigung ist ganz nach dem Geschmack des
niedern Volkes; die Spannung, ob der Fisch wohl kommt, das Treiben der
wandernden Scharen in den innersten Teil des Netzes, die „Totenkammer,"
schließlich das jedesmalige niedermetzeln der Riesentiere, wobei sich rings das
Meer rötet, das sind Dinge, bei denen selbst der trägste Lazzarone keine Er¬
müdung kennt. Ein Hauptnahrungsmittel sür das Proletariat der Küstenstädte
sind die lrutti al maro, die das Meer täglich liefert, jene Fülle von Muscheln,
Seesternen, Sepien und Polypen. Wenn die Fischer den Fang einbringen,
füllen die Zwischenhändler ihre thönerne Schüssel mit den achtarmigen moschus¬
duftenden Polypen und stellen sie auf einem primitiven hölzernen Dreifuß an
den Straßenecken auf. Eine Menge von Lazzaroni umsteht die Schüssel, in
deren Seewasser die dichtgedrängten Polypen mit einander ringen. Alles
durchsucht die Taschen nach einem Kupferstück, während die Augen auf die
Schüssel gerichtet sind, um das größte Tier zu erspähen, und bald sieht man
einen glücklichen Käufer davon schlendern, der ein solches Tier mit Behagen
wie einen Apfel roh verspeist.

Die Grausamkeit des Volkes, die sich in der Vernichtung der Vögel zeigt,
beruht ja zum Teil auf dem Hunger. Aber die antike Gefühlsroheit, durch
die Tradition geheiligt, erstreckt sich in Italien auf alle Verhältnisse, die
zwischen Mensch und Tier bestehen. Wie der Römer den Sklaven und das
Vieh, so betrachtet der Italiener noch heute das Tier als Sache, die man
dem Bedürfnis, dem Augenblick, der Bequemlichkeit und Laune entsprechend
behandeln dürfe. Auf den Bahnstationen liegen oft im heißen Sonnenbrand
lebende Lämmer mit zusammengekoppelten Beinen, und auf allen italienischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0126" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225712"/>
          <p xml:id="ID_302" prev="#ID_301"> Umgebung der Städte streifen fragwürdige Gestalten mit einem alten Vorder¬<lb/>
lader bewaffnet umher. Zur Rechten und Linken der Via Appia hört man<lb/>
oft eine wahre Kanonade auf der Campagna. Mit Bedauern sieht der Fremde<lb/>
sechs armselige Vogelleichen in dem Ranzen des Weidmanns und denkt: Viel<lb/>
Lärm um nichts! Aber der Tagedieb ist ganz zufrieden mit dem Erfolg, denn<lb/>
um diese Zeit werden ihm die Lerchen als Leckerbissen gut bezahlt. Auf den<lb/>
Märkten der Seestädte, wie Venedig, Neapel, Palermo, bewundert man die<lb/>
reiche Fülle schmackhafter Seefische. Für die Ernährung des niedern Volks<lb/>
sind aber nur die wohlfeilen, für uns ungenießbaren von Bedeutung, z. B. die<lb/>
Katzenhaie mit ihrem thranigen, lederartigen Fleisch und vor allem der Thun¬<lb/>
fisch. Wenn im Frühjahr die Thüre, Niesensische von zehn und mehr Zentnern<lb/>
Gewicht, in Scharen aus der Tiefe des Meeres steigen, um in den Buchten<lb/>
der Inseln zu laichen, strömt das Lazzaronitum des Binnenlandes an die<lb/>
Stätten, wo die Unternehmer ihre Tonnaren für den Empfang der Fische zu¬<lb/>
richten und auf zwei Kilometer hinaus die hundertsechzig Fuß hohen Netze in<lb/>
die Tiefe senken. Das Justandhalten der Netze, das Zerlegen, Einsalzen, Ver¬<lb/>
packen und Versenden der Fische giebt einer Masse von Lazzaroni Verdienst und<lb/>
Beschäftigung. Und diese Beschäftigung ist ganz nach dem Geschmack des<lb/>
niedern Volkes; die Spannung, ob der Fisch wohl kommt, das Treiben der<lb/>
wandernden Scharen in den innersten Teil des Netzes, die &#x201E;Totenkammer,"<lb/>
schließlich das jedesmalige niedermetzeln der Riesentiere, wobei sich rings das<lb/>
Meer rötet, das sind Dinge, bei denen selbst der trägste Lazzarone keine Er¬<lb/>
müdung kennt. Ein Hauptnahrungsmittel sür das Proletariat der Küstenstädte<lb/>
sind die lrutti al maro, die das Meer täglich liefert, jene Fülle von Muscheln,<lb/>
Seesternen, Sepien und Polypen. Wenn die Fischer den Fang einbringen,<lb/>
füllen die Zwischenhändler ihre thönerne Schüssel mit den achtarmigen moschus¬<lb/>
duftenden Polypen und stellen sie auf einem primitiven hölzernen Dreifuß an<lb/>
den Straßenecken auf. Eine Menge von Lazzaroni umsteht die Schüssel, in<lb/>
deren Seewasser die dichtgedrängten Polypen mit einander ringen. Alles<lb/>
durchsucht die Taschen nach einem Kupferstück, während die Augen auf die<lb/>
Schüssel gerichtet sind, um das größte Tier zu erspähen, und bald sieht man<lb/>
einen glücklichen Käufer davon schlendern, der ein solches Tier mit Behagen<lb/>
wie einen Apfel roh verspeist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_303" next="#ID_304"> Die Grausamkeit des Volkes, die sich in der Vernichtung der Vögel zeigt,<lb/>
beruht ja zum Teil auf dem Hunger. Aber die antike Gefühlsroheit, durch<lb/>
die Tradition geheiligt, erstreckt sich in Italien auf alle Verhältnisse, die<lb/>
zwischen Mensch und Tier bestehen. Wie der Römer den Sklaven und das<lb/>
Vieh, so betrachtet der Italiener noch heute das Tier als Sache, die man<lb/>
dem Bedürfnis, dem Augenblick, der Bequemlichkeit und Laune entsprechend<lb/>
behandeln dürfe. Auf den Bahnstationen liegen oft im heißen Sonnenbrand<lb/>
lebende Lämmer mit zusammengekoppelten Beinen, und auf allen italienischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0126] Umgebung der Städte streifen fragwürdige Gestalten mit einem alten Vorder¬ lader bewaffnet umher. Zur Rechten und Linken der Via Appia hört man oft eine wahre Kanonade auf der Campagna. Mit Bedauern sieht der Fremde sechs armselige Vogelleichen in dem Ranzen des Weidmanns und denkt: Viel Lärm um nichts! Aber der Tagedieb ist ganz zufrieden mit dem Erfolg, denn um diese Zeit werden ihm die Lerchen als Leckerbissen gut bezahlt. Auf den Märkten der Seestädte, wie Venedig, Neapel, Palermo, bewundert man die reiche Fülle schmackhafter Seefische. Für die Ernährung des niedern Volks sind aber nur die wohlfeilen, für uns ungenießbaren von Bedeutung, z. B. die Katzenhaie mit ihrem thranigen, lederartigen Fleisch und vor allem der Thun¬ fisch. Wenn im Frühjahr die Thüre, Niesensische von zehn und mehr Zentnern Gewicht, in Scharen aus der Tiefe des Meeres steigen, um in den Buchten der Inseln zu laichen, strömt das Lazzaronitum des Binnenlandes an die Stätten, wo die Unternehmer ihre Tonnaren für den Empfang der Fische zu¬ richten und auf zwei Kilometer hinaus die hundertsechzig Fuß hohen Netze in die Tiefe senken. Das Justandhalten der Netze, das Zerlegen, Einsalzen, Ver¬ packen und Versenden der Fische giebt einer Masse von Lazzaroni Verdienst und Beschäftigung. Und diese Beschäftigung ist ganz nach dem Geschmack des niedern Volkes; die Spannung, ob der Fisch wohl kommt, das Treiben der wandernden Scharen in den innersten Teil des Netzes, die „Totenkammer," schließlich das jedesmalige niedermetzeln der Riesentiere, wobei sich rings das Meer rötet, das sind Dinge, bei denen selbst der trägste Lazzarone keine Er¬ müdung kennt. Ein Hauptnahrungsmittel sür das Proletariat der Küstenstädte sind die lrutti al maro, die das Meer täglich liefert, jene Fülle von Muscheln, Seesternen, Sepien und Polypen. Wenn die Fischer den Fang einbringen, füllen die Zwischenhändler ihre thönerne Schüssel mit den achtarmigen moschus¬ duftenden Polypen und stellen sie auf einem primitiven hölzernen Dreifuß an den Straßenecken auf. Eine Menge von Lazzaroni umsteht die Schüssel, in deren Seewasser die dichtgedrängten Polypen mit einander ringen. Alles durchsucht die Taschen nach einem Kupferstück, während die Augen auf die Schüssel gerichtet sind, um das größte Tier zu erspähen, und bald sieht man einen glücklichen Käufer davon schlendern, der ein solches Tier mit Behagen wie einen Apfel roh verspeist. Die Grausamkeit des Volkes, die sich in der Vernichtung der Vögel zeigt, beruht ja zum Teil auf dem Hunger. Aber die antike Gefühlsroheit, durch die Tradition geheiligt, erstreckt sich in Italien auf alle Verhältnisse, die zwischen Mensch und Tier bestehen. Wie der Römer den Sklaven und das Vieh, so betrachtet der Italiener noch heute das Tier als Sache, die man dem Bedürfnis, dem Augenblick, der Bequemlichkeit und Laune entsprechend behandeln dürfe. Auf den Bahnstationen liegen oft im heißen Sonnenbrand lebende Lämmer mit zusammengekoppelten Beinen, und auf allen italienischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/126
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/126>, abgerufen am 04.07.2024.