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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

angewiesen. Dieses Menschenelend aber meidet ängstlich die Hospitäler, es
drängt sich, von der Sonne grell beleuchtet, an den belebtesten Punkten zwischen
die Reisenden und die Herrlichkeiten der Natur und Kunst. Das ist dann
erst der echte Lazarus. Der nordische Wandrer sieht noch heute in der
Wirklichkeit dasselbe soziale Elend, das vor zwei Jahrtausenden im Orient
Jesum mit Trauer erfüllte. Unter dem herrlichen Bogengang, der von
Palladios reichgeschmückter Stadt Vieenza hinauf zum Monte Berico führt,
oder unter den 635 Bogen des Portikus von Bologna mit seinem prächtigen
Aufstieg zur Wallfahrtskirche Madonna ti S. Luca erheben sich fort und fort
Trauergestalten von den steinernen Stufen. Der Anblick ihrer erloschnen
Augen, ihrer von furchtbaren Krankheiten entstellten Gesichter und Glieder
macht schließlich aus der freudig begonnenen Wanderung eine Wallfahrt in
Büßerstimmung. An manchen Straßenecken siecht ein Menschenkind, willenlos
in sein Schicksal ergeben, das Gesicht schon zur unkenntlichen Masse entstellt,
langsam dem Tode entgegen. Alle Morgen wird es von den Angehörigen
dorthin getragen und abends zurückgeholt, und dabei ist dieses Wesen der Er¬
nährer der Familie! Denn sein Leiden füllt den tagüber danebenliegenden Hut
mit Kupferstücken. Am betrttbendsten aber ist die Beobachtung, daß dem Lazza-
ronitum sogar seine Wunden und Gebrechen keineswegs als ein Übel erscheinen,
auf deren Beseitigung oder Linderung man Bedacht nehmen müsse. Viele
schneiden die Lumpen herunter und halten die künstlich offen gehaltnen Wunden
den Vorübergehenden als Reklameschild entgegen. Der kräftigste Bursche, der
einen Fuß verloren hat, fühlt sich nun jeder Verpflichtung überhoben, sein
Betteln dnrch die geringste Arbeitsleistung zu verhüllen oder gar den Schneider¬
tisch oder Schusterschemel zu besteigen. Er verfolgt den Fremden auf Krücken
und schwingt ihm das verstümmelte Bein entgegen.

Aber die günstigen äußern Bedingungen, der Sonnenschein, die warmen
Nächte und die reiche Vegetation würden die große Masse von Schmarotzern
und Nichtsthuern nicht vor dem Untergange bewahren, wenn sich nicht Gaumen
und Magen des Volkes der unwürdigen Lebensweise angepaßt hätten. Um
den Hunger der großen Masse zu stillen, muß so ziemlich alles, was da sprießt,
und alles, was da kreucht und fleucht, durch den Magen des Proletariats
wandern. Wenn die Früchte zu mangeln beginnen, sammeln Weiber ganze
Säcke voll grüner Triebe des jahrein jahraus an den Wegen wuchernden Un¬
krauts und kochen sie in Salzwasser ab zu einer wohlfeilen Mahlzeit. Im
Herbst sind die widerlichsüßen Früchte des Opuntienkaktus dem niedern Volke
ein billiger Ersatz für das teure Brot. Wenn die Zugvögel in dichten Scharen
in die Netze fallen, kann auch der Lazzarone Fleisch genießen. Aber die
Wachteln, Drosseln und Lerchen sind noch zu teuer, er hält sich an die billigern
Fleischfresser, die Rotkehlchen, Eichelhäher und Pirole. Außer der Wanderzeit
wird der Krieg gegen die Vogelwelt mit Pulver und Blei geführt. In der


Lazzaroni

angewiesen. Dieses Menschenelend aber meidet ängstlich die Hospitäler, es
drängt sich, von der Sonne grell beleuchtet, an den belebtesten Punkten zwischen
die Reisenden und die Herrlichkeiten der Natur und Kunst. Das ist dann
erst der echte Lazarus. Der nordische Wandrer sieht noch heute in der
Wirklichkeit dasselbe soziale Elend, das vor zwei Jahrtausenden im Orient
Jesum mit Trauer erfüllte. Unter dem herrlichen Bogengang, der von
Palladios reichgeschmückter Stadt Vieenza hinauf zum Monte Berico führt,
oder unter den 635 Bogen des Portikus von Bologna mit seinem prächtigen
Aufstieg zur Wallfahrtskirche Madonna ti S. Luca erheben sich fort und fort
Trauergestalten von den steinernen Stufen. Der Anblick ihrer erloschnen
Augen, ihrer von furchtbaren Krankheiten entstellten Gesichter und Glieder
macht schließlich aus der freudig begonnenen Wanderung eine Wallfahrt in
Büßerstimmung. An manchen Straßenecken siecht ein Menschenkind, willenlos
in sein Schicksal ergeben, das Gesicht schon zur unkenntlichen Masse entstellt,
langsam dem Tode entgegen. Alle Morgen wird es von den Angehörigen
dorthin getragen und abends zurückgeholt, und dabei ist dieses Wesen der Er¬
nährer der Familie! Denn sein Leiden füllt den tagüber danebenliegenden Hut
mit Kupferstücken. Am betrttbendsten aber ist die Beobachtung, daß dem Lazza-
ronitum sogar seine Wunden und Gebrechen keineswegs als ein Übel erscheinen,
auf deren Beseitigung oder Linderung man Bedacht nehmen müsse. Viele
schneiden die Lumpen herunter und halten die künstlich offen gehaltnen Wunden
den Vorübergehenden als Reklameschild entgegen. Der kräftigste Bursche, der
einen Fuß verloren hat, fühlt sich nun jeder Verpflichtung überhoben, sein
Betteln dnrch die geringste Arbeitsleistung zu verhüllen oder gar den Schneider¬
tisch oder Schusterschemel zu besteigen. Er verfolgt den Fremden auf Krücken
und schwingt ihm das verstümmelte Bein entgegen.

Aber die günstigen äußern Bedingungen, der Sonnenschein, die warmen
Nächte und die reiche Vegetation würden die große Masse von Schmarotzern
und Nichtsthuern nicht vor dem Untergange bewahren, wenn sich nicht Gaumen
und Magen des Volkes der unwürdigen Lebensweise angepaßt hätten. Um
den Hunger der großen Masse zu stillen, muß so ziemlich alles, was da sprießt,
und alles, was da kreucht und fleucht, durch den Magen des Proletariats
wandern. Wenn die Früchte zu mangeln beginnen, sammeln Weiber ganze
Säcke voll grüner Triebe des jahrein jahraus an den Wegen wuchernden Un¬
krauts und kochen sie in Salzwasser ab zu einer wohlfeilen Mahlzeit. Im
Herbst sind die widerlichsüßen Früchte des Opuntienkaktus dem niedern Volke
ein billiger Ersatz für das teure Brot. Wenn die Zugvögel in dichten Scharen
in die Netze fallen, kann auch der Lazzarone Fleisch genießen. Aber die
Wachteln, Drosseln und Lerchen sind noch zu teuer, er hält sich an die billigern
Fleischfresser, die Rotkehlchen, Eichelhäher und Pirole. Außer der Wanderzeit
wird der Krieg gegen die Vogelwelt mit Pulver und Blei geführt. In der


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[0125] Lazzaroni angewiesen. Dieses Menschenelend aber meidet ängstlich die Hospitäler, es drängt sich, von der Sonne grell beleuchtet, an den belebtesten Punkten zwischen die Reisenden und die Herrlichkeiten der Natur und Kunst. Das ist dann erst der echte Lazarus. Der nordische Wandrer sieht noch heute in der Wirklichkeit dasselbe soziale Elend, das vor zwei Jahrtausenden im Orient Jesum mit Trauer erfüllte. Unter dem herrlichen Bogengang, der von Palladios reichgeschmückter Stadt Vieenza hinauf zum Monte Berico führt, oder unter den 635 Bogen des Portikus von Bologna mit seinem prächtigen Aufstieg zur Wallfahrtskirche Madonna ti S. Luca erheben sich fort und fort Trauergestalten von den steinernen Stufen. Der Anblick ihrer erloschnen Augen, ihrer von furchtbaren Krankheiten entstellten Gesichter und Glieder macht schließlich aus der freudig begonnenen Wanderung eine Wallfahrt in Büßerstimmung. An manchen Straßenecken siecht ein Menschenkind, willenlos in sein Schicksal ergeben, das Gesicht schon zur unkenntlichen Masse entstellt, langsam dem Tode entgegen. Alle Morgen wird es von den Angehörigen dorthin getragen und abends zurückgeholt, und dabei ist dieses Wesen der Er¬ nährer der Familie! Denn sein Leiden füllt den tagüber danebenliegenden Hut mit Kupferstücken. Am betrttbendsten aber ist die Beobachtung, daß dem Lazza- ronitum sogar seine Wunden und Gebrechen keineswegs als ein Übel erscheinen, auf deren Beseitigung oder Linderung man Bedacht nehmen müsse. Viele schneiden die Lumpen herunter und halten die künstlich offen gehaltnen Wunden den Vorübergehenden als Reklameschild entgegen. Der kräftigste Bursche, der einen Fuß verloren hat, fühlt sich nun jeder Verpflichtung überhoben, sein Betteln dnrch die geringste Arbeitsleistung zu verhüllen oder gar den Schneider¬ tisch oder Schusterschemel zu besteigen. Er verfolgt den Fremden auf Krücken und schwingt ihm das verstümmelte Bein entgegen. Aber die günstigen äußern Bedingungen, der Sonnenschein, die warmen Nächte und die reiche Vegetation würden die große Masse von Schmarotzern und Nichtsthuern nicht vor dem Untergange bewahren, wenn sich nicht Gaumen und Magen des Volkes der unwürdigen Lebensweise angepaßt hätten. Um den Hunger der großen Masse zu stillen, muß so ziemlich alles, was da sprießt, und alles, was da kreucht und fleucht, durch den Magen des Proletariats wandern. Wenn die Früchte zu mangeln beginnen, sammeln Weiber ganze Säcke voll grüner Triebe des jahrein jahraus an den Wegen wuchernden Un¬ krauts und kochen sie in Salzwasser ab zu einer wohlfeilen Mahlzeit. Im Herbst sind die widerlichsüßen Früchte des Opuntienkaktus dem niedern Volke ein billiger Ersatz für das teure Brot. Wenn die Zugvögel in dichten Scharen in die Netze fallen, kann auch der Lazzarone Fleisch genießen. Aber die Wachteln, Drosseln und Lerchen sind noch zu teuer, er hält sich an die billigern Fleischfresser, die Rotkehlchen, Eichelhäher und Pirole. Außer der Wanderzeit wird der Krieg gegen die Vogelwelt mit Pulver und Blei geführt. In der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/125>, abgerufen am 04.07.2024.