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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

Mit graziöser Verbeugung stellt er sich nun dem Fremden sür die Dauer
seines Aufenthalts zur Verfügung. Morgens erhebt er sich von dem Prell¬
stein, auf dem er ihn schon lange erwartet hat, und erfüllt treulich alle
kleinen Besorgungen, durch die der Fremde seine kostbare Zeit verschwenden
würde. In der ganzen Haltung und in seinen Reden giebt und fühlt sich
diese Lumpengestalt als ein Mann mit Standesbewußtsein, der seinen Beruf
ernst nimmt.

Wer von den Lazzaroni irgend etwas einzusetzen hat, irgend welche Ware
oder Arbeit, und sei es noch so wenig, sühlt sich als wohlberechtigtes und
wichtiges Glied der menschlichen Gesellschaft und sucht durch größte Rücksichts¬
losigkeit gegen die Masse der Mitbewerber und durch laute Reklame und Zu¬
dringlichkeit seine Ware an den Mann zu bringen. Wenn abends in den
größern Städten die Zeitungsdruckcreien ihre Thore öffnen, ergießt sich ein
Haufe vou Lazzaroni beider Geschlechter, jeder mit eiuer Hand voll Exemplare,
im Wettlauf und unter Wettgeschrei durch die Straßen. In Rom wurden
die schnellfüßigsten Jungen von einem langen Weibe überholt, der wie einer
Erinhe das Haar schlangenförmig um die Schultern wallte, und die in
heulendem Ton ihr: 1a. rrlduna! über den Corso erschallen ließ. Burschen,
die nach stundenlangen Luugern eine Hand voll Gründlinge aus dem Arno
oder am Meeresgestade gefangen haben, verkünden, die Hosen bis zum Knie
aufgestreift, in den Straßen den frischen Zustand ihrer Ware, die in einem
Siebe zappelt und von Zeit zu Zeit aus einem Kübel mit Wasser begossen
wird. In der heißen Zeit ertönt in allen Städten der gleichmäßige lang¬
gezogne Ruf der Wasserverküufer. Die größte Mannichfaltigkeit und Zudring¬
lichkeit dieses Kleinbetriebs herrscht in Neapel. Nach Sonnenuntergang drängt
sich das Lazzaronitum von den Straßen und Märkten in die Galleria Umberto.
Nur der elendeste Betrieb, der auf die Armen berechnet ist, bleibt fern, so der
Handel mit Speiseresten aus den Hotels, mit gebacknen Kürbisscheiben und
dergleichen. Die mit Glas gedeckte, elektrisch erleuchtete Galerie, ein riesiges
modernes Prachtgebäude, wird von dem Lazzaroni mit ohrenbetäubendem
Lurn beherrscht. Selbst das Fortissimo der Kapellen, die vor den offnen
Cafvs spielen, wird von den Rufen der Verkäufer und dem Geschrei der
raufenden Burschen übertönt. In langsamem Strome wogt eine Menschen¬
masse aller Stände hin und her. Hier ist das Eldorado des Lcizzaronitums.
Wer dort am Kaffeetisch Platz genommen hat, wird fort und fort durch An¬
preisung von Blumen, Nadeln, Bürsten, Spazierstöcken und dergleichen mehr
belästigt. Hier herrscht die Arbeitsteilung in schrecklichster Form. Die Cerini-
händler bewaffnen Scharen zerlumpter Kinder mit je einem halben Dutzend
Streichholzschachteln, sodaß allein schon dieses Angebot zur Plage wird. Selbst
auf die offnen Wagen der Maultierbahn folgen die Lazzaroni. Mit Eleganz
schwingen sich die zerlumpten Burschen auf das Trittbrett und bieten ihre


Lazzaroni

Mit graziöser Verbeugung stellt er sich nun dem Fremden sür die Dauer
seines Aufenthalts zur Verfügung. Morgens erhebt er sich von dem Prell¬
stein, auf dem er ihn schon lange erwartet hat, und erfüllt treulich alle
kleinen Besorgungen, durch die der Fremde seine kostbare Zeit verschwenden
würde. In der ganzen Haltung und in seinen Reden giebt und fühlt sich
diese Lumpengestalt als ein Mann mit Standesbewußtsein, der seinen Beruf
ernst nimmt.

Wer von den Lazzaroni irgend etwas einzusetzen hat, irgend welche Ware
oder Arbeit, und sei es noch so wenig, sühlt sich als wohlberechtigtes und
wichtiges Glied der menschlichen Gesellschaft und sucht durch größte Rücksichts¬
losigkeit gegen die Masse der Mitbewerber und durch laute Reklame und Zu¬
dringlichkeit seine Ware an den Mann zu bringen. Wenn abends in den
größern Städten die Zeitungsdruckcreien ihre Thore öffnen, ergießt sich ein
Haufe vou Lazzaroni beider Geschlechter, jeder mit eiuer Hand voll Exemplare,
im Wettlauf und unter Wettgeschrei durch die Straßen. In Rom wurden
die schnellfüßigsten Jungen von einem langen Weibe überholt, der wie einer
Erinhe das Haar schlangenförmig um die Schultern wallte, und die in
heulendem Ton ihr: 1a. rrlduna! über den Corso erschallen ließ. Burschen,
die nach stundenlangen Luugern eine Hand voll Gründlinge aus dem Arno
oder am Meeresgestade gefangen haben, verkünden, die Hosen bis zum Knie
aufgestreift, in den Straßen den frischen Zustand ihrer Ware, die in einem
Siebe zappelt und von Zeit zu Zeit aus einem Kübel mit Wasser begossen
wird. In der heißen Zeit ertönt in allen Städten der gleichmäßige lang¬
gezogne Ruf der Wasserverküufer. Die größte Mannichfaltigkeit und Zudring¬
lichkeit dieses Kleinbetriebs herrscht in Neapel. Nach Sonnenuntergang drängt
sich das Lazzaronitum von den Straßen und Märkten in die Galleria Umberto.
Nur der elendeste Betrieb, der auf die Armen berechnet ist, bleibt fern, so der
Handel mit Speiseresten aus den Hotels, mit gebacknen Kürbisscheiben und
dergleichen. Die mit Glas gedeckte, elektrisch erleuchtete Galerie, ein riesiges
modernes Prachtgebäude, wird von dem Lazzaroni mit ohrenbetäubendem
Lurn beherrscht. Selbst das Fortissimo der Kapellen, die vor den offnen
Cafvs spielen, wird von den Rufen der Verkäufer und dem Geschrei der
raufenden Burschen übertönt. In langsamem Strome wogt eine Menschen¬
masse aller Stände hin und her. Hier ist das Eldorado des Lcizzaronitums.
Wer dort am Kaffeetisch Platz genommen hat, wird fort und fort durch An¬
preisung von Blumen, Nadeln, Bürsten, Spazierstöcken und dergleichen mehr
belästigt. Hier herrscht die Arbeitsteilung in schrecklichster Form. Die Cerini-
händler bewaffnen Scharen zerlumpter Kinder mit je einem halben Dutzend
Streichholzschachteln, sodaß allein schon dieses Angebot zur Plage wird. Selbst
auf die offnen Wagen der Maultierbahn folgen die Lazzaroni. Mit Eleganz
schwingen sich die zerlumpten Burschen auf das Trittbrett und bieten ihre


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[0119] Lazzaroni Mit graziöser Verbeugung stellt er sich nun dem Fremden sür die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung. Morgens erhebt er sich von dem Prell¬ stein, auf dem er ihn schon lange erwartet hat, und erfüllt treulich alle kleinen Besorgungen, durch die der Fremde seine kostbare Zeit verschwenden würde. In der ganzen Haltung und in seinen Reden giebt und fühlt sich diese Lumpengestalt als ein Mann mit Standesbewußtsein, der seinen Beruf ernst nimmt. Wer von den Lazzaroni irgend etwas einzusetzen hat, irgend welche Ware oder Arbeit, und sei es noch so wenig, sühlt sich als wohlberechtigtes und wichtiges Glied der menschlichen Gesellschaft und sucht durch größte Rücksichts¬ losigkeit gegen die Masse der Mitbewerber und durch laute Reklame und Zu¬ dringlichkeit seine Ware an den Mann zu bringen. Wenn abends in den größern Städten die Zeitungsdruckcreien ihre Thore öffnen, ergießt sich ein Haufe vou Lazzaroni beider Geschlechter, jeder mit eiuer Hand voll Exemplare, im Wettlauf und unter Wettgeschrei durch die Straßen. In Rom wurden die schnellfüßigsten Jungen von einem langen Weibe überholt, der wie einer Erinhe das Haar schlangenförmig um die Schultern wallte, und die in heulendem Ton ihr: 1a. rrlduna! über den Corso erschallen ließ. Burschen, die nach stundenlangen Luugern eine Hand voll Gründlinge aus dem Arno oder am Meeresgestade gefangen haben, verkünden, die Hosen bis zum Knie aufgestreift, in den Straßen den frischen Zustand ihrer Ware, die in einem Siebe zappelt und von Zeit zu Zeit aus einem Kübel mit Wasser begossen wird. In der heißen Zeit ertönt in allen Städten der gleichmäßige lang¬ gezogne Ruf der Wasserverküufer. Die größte Mannichfaltigkeit und Zudring¬ lichkeit dieses Kleinbetriebs herrscht in Neapel. Nach Sonnenuntergang drängt sich das Lazzaronitum von den Straßen und Märkten in die Galleria Umberto. Nur der elendeste Betrieb, der auf die Armen berechnet ist, bleibt fern, so der Handel mit Speiseresten aus den Hotels, mit gebacknen Kürbisscheiben und dergleichen. Die mit Glas gedeckte, elektrisch erleuchtete Galerie, ein riesiges modernes Prachtgebäude, wird von dem Lazzaroni mit ohrenbetäubendem Lurn beherrscht. Selbst das Fortissimo der Kapellen, die vor den offnen Cafvs spielen, wird von den Rufen der Verkäufer und dem Geschrei der raufenden Burschen übertönt. In langsamem Strome wogt eine Menschen¬ masse aller Stände hin und her. Hier ist das Eldorado des Lcizzaronitums. Wer dort am Kaffeetisch Platz genommen hat, wird fort und fort durch An¬ preisung von Blumen, Nadeln, Bürsten, Spazierstöcken und dergleichen mehr belästigt. Hier herrscht die Arbeitsteilung in schrecklichster Form. Die Cerini- händler bewaffnen Scharen zerlumpter Kinder mit je einem halben Dutzend Streichholzschachteln, sodaß allein schon dieses Angebot zur Plage wird. Selbst auf die offnen Wagen der Maultierbahn folgen die Lazzaroni. Mit Eleganz schwingen sich die zerlumpten Burschen auf das Trittbrett und bieten ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/119>, abgerufen am 02.07.2024.