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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

Ware ein, bis der nächste entgegenkommende Wagen die Fahrgäste auf kurze
Zeit erlöst. Dem Schaffner liegt es ganz fern, ihnen zu wehren.

Oft schwankt man, ob man diesen Kleinbetrieb eine mehr oder minder
verschleierte Bettelei oder nicht doch einen bettelhafter Handel nennen soll.
Wer in der Galleria Umberto beim Kaffee seine Cigarre raucht, lenkt bald
die Aufmerksamkeit irgend eines der Betteljungen auf sich. Allmählich sammelt
sich eine Gruppe, und es läßt sich beobachten, daß mit dem Abnehmen der
Cigarre die Zahl der Knaben zunimmt. Im Hintergründe steht ein Greis,
blickt ebenfalls sehnsüchtig nach der Cigarre, und wenn der Raucher die Cigarre
wieder zum Munde führt, schüttelt er enttäuscht den Kopf unter traurigen
Selbstgesprächen. Wird der Cigarrenrest endlich weggeworfen, so kämpft um
ihn ein Knäuel von Jungen uuter wütendem Geschrei. Doch ehe es zur Ent¬
scheidung kommt, schlüge der Alte mit seinem Krückstock dazwischen, und heulend'
verlassen die Buben das Schlachtfeld. Wer nun aber diese zudringliche Schar,
die zwischen den Stühlen und den Beinen der Gäste kriechend die Cigarrenreste
sammelt, für junge Feinschmecker halten wollte, würde den Ernst dieses Be¬
triebes ganz verkennen. Auf den Märkten werden die nach Größe und Sorte
geordneten Cigarrenreste von Händlern an die Proletarier verkauft, und die
Buben sind sür diese Großhändler die Lieferanten. In einigen Städten ist
dieser Zweig des Kleinhandels in raffinirter Weise vervollkommnet. In
Florenz sieht man abends nach Beendigung des Militärkouzerts auf der Piazza
Vittoriv Emcmuele eine Menge Glühwürmchen dicht über den Boden des
weiten Platzes dahinhuschen. Eine Schar armseliger Buben sucht mit Laternen,
die sie an einem Riemen vor sich hin und her pendeln lassen, den Platz nach
Cigarrenresten ab. Bald darauf findet man eine ganze Gruppe dieser Glüh¬
würmchen in einem Straßenwinkel vereinigt. Einige Buben vergleichen dort
beim Licht der zusammengestellten Laternen ihre Beute und haben sich zum
Lohn für ihren Fleiß als gemütlich schmauchendes Tabakskollegium etablirt.

Eine bedenklichere Form dieses Kleinhandels ist der Schmuggel an den
Stadtthoren. Die wenigen Beamten der Douane haben in den Morgen¬
stunden alle Hände voll zu thun. Eine Reihe von Karren, bepackten Maul¬
tieren und Eseln und eine Menge des niedern Volks mit Körben und Säcken
harrt der Abfertigung. Hunderte von Ziegen, die in Gruppen von Vnder
gehütet innerhalb der Thore lagern, müssen abgezählt werden, ehe sie zur
Weide in die Berge entlassen werden; denn für jede Ziege haben die Besitzer
einen bestimmten Weidepacht zu zahlen. Diese Arbeitslast der Beamten benutzt
das Lazzaronitum, um sich mit unversteuerter Eßware durch den Trubel
hindurchzuwinden. Ein Kutscher, der eben einen Fremden von einem Wagen¬
ausflug zurückfährt, will in vollem Trabe durchs Thor fahren und verweist
die Halt gebietenden Beamten auf den fremden Signore, der nicht aufgehalten
sein wolle. Aber die Beamten kennen diesen Kniff schon und holen aus dem


Lazzaroni

Ware ein, bis der nächste entgegenkommende Wagen die Fahrgäste auf kurze
Zeit erlöst. Dem Schaffner liegt es ganz fern, ihnen zu wehren.

Oft schwankt man, ob man diesen Kleinbetrieb eine mehr oder minder
verschleierte Bettelei oder nicht doch einen bettelhafter Handel nennen soll.
Wer in der Galleria Umberto beim Kaffee seine Cigarre raucht, lenkt bald
die Aufmerksamkeit irgend eines der Betteljungen auf sich. Allmählich sammelt
sich eine Gruppe, und es läßt sich beobachten, daß mit dem Abnehmen der
Cigarre die Zahl der Knaben zunimmt. Im Hintergründe steht ein Greis,
blickt ebenfalls sehnsüchtig nach der Cigarre, und wenn der Raucher die Cigarre
wieder zum Munde führt, schüttelt er enttäuscht den Kopf unter traurigen
Selbstgesprächen. Wird der Cigarrenrest endlich weggeworfen, so kämpft um
ihn ein Knäuel von Jungen uuter wütendem Geschrei. Doch ehe es zur Ent¬
scheidung kommt, schlüge der Alte mit seinem Krückstock dazwischen, und heulend'
verlassen die Buben das Schlachtfeld. Wer nun aber diese zudringliche Schar,
die zwischen den Stühlen und den Beinen der Gäste kriechend die Cigarrenreste
sammelt, für junge Feinschmecker halten wollte, würde den Ernst dieses Be¬
triebes ganz verkennen. Auf den Märkten werden die nach Größe und Sorte
geordneten Cigarrenreste von Händlern an die Proletarier verkauft, und die
Buben sind sür diese Großhändler die Lieferanten. In einigen Städten ist
dieser Zweig des Kleinhandels in raffinirter Weise vervollkommnet. In
Florenz sieht man abends nach Beendigung des Militärkouzerts auf der Piazza
Vittoriv Emcmuele eine Menge Glühwürmchen dicht über den Boden des
weiten Platzes dahinhuschen. Eine Schar armseliger Buben sucht mit Laternen,
die sie an einem Riemen vor sich hin und her pendeln lassen, den Platz nach
Cigarrenresten ab. Bald darauf findet man eine ganze Gruppe dieser Glüh¬
würmchen in einem Straßenwinkel vereinigt. Einige Buben vergleichen dort
beim Licht der zusammengestellten Laternen ihre Beute und haben sich zum
Lohn für ihren Fleiß als gemütlich schmauchendes Tabakskollegium etablirt.

Eine bedenklichere Form dieses Kleinhandels ist der Schmuggel an den
Stadtthoren. Die wenigen Beamten der Douane haben in den Morgen¬
stunden alle Hände voll zu thun. Eine Reihe von Karren, bepackten Maul¬
tieren und Eseln und eine Menge des niedern Volks mit Körben und Säcken
harrt der Abfertigung. Hunderte von Ziegen, die in Gruppen von Vnder
gehütet innerhalb der Thore lagern, müssen abgezählt werden, ehe sie zur
Weide in die Berge entlassen werden; denn für jede Ziege haben die Besitzer
einen bestimmten Weidepacht zu zahlen. Diese Arbeitslast der Beamten benutzt
das Lazzaronitum, um sich mit unversteuerter Eßware durch den Trubel
hindurchzuwinden. Ein Kutscher, der eben einen Fremden von einem Wagen¬
ausflug zurückfährt, will in vollem Trabe durchs Thor fahren und verweist
die Halt gebietenden Beamten auf den fremden Signore, der nicht aufgehalten
sein wolle. Aber die Beamten kennen diesen Kniff schon und holen aus dem


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[0120] Lazzaroni Ware ein, bis der nächste entgegenkommende Wagen die Fahrgäste auf kurze Zeit erlöst. Dem Schaffner liegt es ganz fern, ihnen zu wehren. Oft schwankt man, ob man diesen Kleinbetrieb eine mehr oder minder verschleierte Bettelei oder nicht doch einen bettelhafter Handel nennen soll. Wer in der Galleria Umberto beim Kaffee seine Cigarre raucht, lenkt bald die Aufmerksamkeit irgend eines der Betteljungen auf sich. Allmählich sammelt sich eine Gruppe, und es läßt sich beobachten, daß mit dem Abnehmen der Cigarre die Zahl der Knaben zunimmt. Im Hintergründe steht ein Greis, blickt ebenfalls sehnsüchtig nach der Cigarre, und wenn der Raucher die Cigarre wieder zum Munde führt, schüttelt er enttäuscht den Kopf unter traurigen Selbstgesprächen. Wird der Cigarrenrest endlich weggeworfen, so kämpft um ihn ein Knäuel von Jungen uuter wütendem Geschrei. Doch ehe es zur Ent¬ scheidung kommt, schlüge der Alte mit seinem Krückstock dazwischen, und heulend' verlassen die Buben das Schlachtfeld. Wer nun aber diese zudringliche Schar, die zwischen den Stühlen und den Beinen der Gäste kriechend die Cigarrenreste sammelt, für junge Feinschmecker halten wollte, würde den Ernst dieses Be¬ triebes ganz verkennen. Auf den Märkten werden die nach Größe und Sorte geordneten Cigarrenreste von Händlern an die Proletarier verkauft, und die Buben sind sür diese Großhändler die Lieferanten. In einigen Städten ist dieser Zweig des Kleinhandels in raffinirter Weise vervollkommnet. In Florenz sieht man abends nach Beendigung des Militärkouzerts auf der Piazza Vittoriv Emcmuele eine Menge Glühwürmchen dicht über den Boden des weiten Platzes dahinhuschen. Eine Schar armseliger Buben sucht mit Laternen, die sie an einem Riemen vor sich hin und her pendeln lassen, den Platz nach Cigarrenresten ab. Bald darauf findet man eine ganze Gruppe dieser Glüh¬ würmchen in einem Straßenwinkel vereinigt. Einige Buben vergleichen dort beim Licht der zusammengestellten Laternen ihre Beute und haben sich zum Lohn für ihren Fleiß als gemütlich schmauchendes Tabakskollegium etablirt. Eine bedenklichere Form dieses Kleinhandels ist der Schmuggel an den Stadtthoren. Die wenigen Beamten der Douane haben in den Morgen¬ stunden alle Hände voll zu thun. Eine Reihe von Karren, bepackten Maul¬ tieren und Eseln und eine Menge des niedern Volks mit Körben und Säcken harrt der Abfertigung. Hunderte von Ziegen, die in Gruppen von Vnder gehütet innerhalb der Thore lagern, müssen abgezählt werden, ehe sie zur Weide in die Berge entlassen werden; denn für jede Ziege haben die Besitzer einen bestimmten Weidepacht zu zahlen. Diese Arbeitslast der Beamten benutzt das Lazzaronitum, um sich mit unversteuerter Eßware durch den Trubel hindurchzuwinden. Ein Kutscher, der eben einen Fremden von einem Wagen¬ ausflug zurückfährt, will in vollem Trabe durchs Thor fahren und verweist die Halt gebietenden Beamten auf den fremden Signore, der nicht aufgehalten sein wolle. Aber die Beamten kennen diesen Kniff schon und holen aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/120>, abgerufen am 02.10.2024.