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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Tazzaroni

festen, den Heiligcnfeiern, Festzügen und all den Sinnenreizen ihres Kultus.
Dem gegenüber ist wenig von Belang, was in Oberitalien ruhmvolle
Fürstengeschlechter und mächtige Republiken durch vielseitige Kraftentfaltung
für die soziale und sittliche Hebung ihrer Unterthanen geleistet haben, es ver¬
schwindet im Vergleich zu der Verwahrlosung, unter der Unteritalien und
Sizilien bis hinab zur bourbonischen Mißwirtschaft zu leiden hatten.

In zweitausendjähriger Geschichte ist durch die Unterlassungssünden der
frühern Regierungen, durch Gewöhnung und Vererbung das Lazzaronitum zu
einem chronischen Leiden des Volkskörpers geworden. Ein großer Teil des Volkes
ist gar nicht imstande, sein Leben unter dem Gesichtspunkt moderner Menschenpflicht
und Menschenwürde zu betrachten. Selbst der bessere Teil des Volkes sieht im
Lazzaronitum nicht wie wir eine unwürdige, sondern eine durch die Tradition ge¬
heiligte und berechtigte Form des Volkslebens. In der Beurteilung jener Masse
von Gestalten, deren Lumpen die sengende Sonne jenen gleichförmigen, stein- und
erdfarbnen Ton verleiht, macht der Italiener viel größere Unterschiede als wir.
Wir lernen erst allmählich beobachten und verstehen, daß sich mancher dieser
fragwürdigen Gesellen als Signore geberdet und als Signore vom Volke
anerkannt wird, der nach unsern Begriffen von Menschenwürde unbedingt zum
Lazzaronitum gehört. Derartige Lazzaroni sind gleichsam die Elite ihres
Standes, es ist der Teil des niedern Volkes, der sich wenigstens zu soviel
Arbeit und Erwerb aufrafft, daß er von der Hand in den Mund leben kann.

Auf den Fremden, der als einziger Ankömmling in vorgerückter Jahres¬
zeit die Bahnstation Girgenti verläßt, stürmt eine Schar von Trügern, Bettlern,
Krüppeln und Kutschern mit Bitten und Angebot ein. Er vertraut sich und
sein Gepäck einem klug dreinschauenden Lazzarone an, der sich nicht ohne
Grandezza dem Fremden zur Verfügung gestellt hat und mit kräftigen Armen
die übrigen zurückdrängt, belohnt ihn für seine Bemühung, und in schnellem
Trabe jagt der Kutscher bergauf zu dem eine halbe Stunde entfernten Gebirgs-
städtchen Girgenti. Nach einiger Zeit sieht der Reisende voller Staunen den¬
selben Lazzarone hinter dem Wagen hertraben. In der Annahme, ihm seine
Dienste nicht genügend bezahlt zu haben, wirft er ihm noch einen Soldo zu.
Der Lazzarone winkt freundlich Dank und setzt seinen Trab fort. In der
Stadt, in die allerlei Volk zur Feier eines Heiligenfestes zusammengeströmt
ist, führt der Kutscher knallend und johlend durch die Menge, schweißtriefend
keucht der Lazzarone hinter der Karosse her. Der Reisende ist erstaunt, daß
man seinen sonderbaren Aufzug mit dem Trabanten ganz natürlich findet.
Vor dem Gasthofe eilt der Lazzarone an den Bock, erfaßt schneller als der
Hausdiener den Koffer, fragt nach dem Zimmer, schreitet dem Wirt, dem
Kellner und dem Gast voran, öffnet die Fenster und erklärt dem Fremden die
schöne Aussicht. Offenbar hat er sich durch den anstrengenden Lauf ein Recht
auf den Reisenden erworben, das der Wirt und seine Diener willig anerkennen.


Tazzaroni

festen, den Heiligcnfeiern, Festzügen und all den Sinnenreizen ihres Kultus.
Dem gegenüber ist wenig von Belang, was in Oberitalien ruhmvolle
Fürstengeschlechter und mächtige Republiken durch vielseitige Kraftentfaltung
für die soziale und sittliche Hebung ihrer Unterthanen geleistet haben, es ver¬
schwindet im Vergleich zu der Verwahrlosung, unter der Unteritalien und
Sizilien bis hinab zur bourbonischen Mißwirtschaft zu leiden hatten.

In zweitausendjähriger Geschichte ist durch die Unterlassungssünden der
frühern Regierungen, durch Gewöhnung und Vererbung das Lazzaronitum zu
einem chronischen Leiden des Volkskörpers geworden. Ein großer Teil des Volkes
ist gar nicht imstande, sein Leben unter dem Gesichtspunkt moderner Menschenpflicht
und Menschenwürde zu betrachten. Selbst der bessere Teil des Volkes sieht im
Lazzaronitum nicht wie wir eine unwürdige, sondern eine durch die Tradition ge¬
heiligte und berechtigte Form des Volkslebens. In der Beurteilung jener Masse
von Gestalten, deren Lumpen die sengende Sonne jenen gleichförmigen, stein- und
erdfarbnen Ton verleiht, macht der Italiener viel größere Unterschiede als wir.
Wir lernen erst allmählich beobachten und verstehen, daß sich mancher dieser
fragwürdigen Gesellen als Signore geberdet und als Signore vom Volke
anerkannt wird, der nach unsern Begriffen von Menschenwürde unbedingt zum
Lazzaronitum gehört. Derartige Lazzaroni sind gleichsam die Elite ihres
Standes, es ist der Teil des niedern Volkes, der sich wenigstens zu soviel
Arbeit und Erwerb aufrafft, daß er von der Hand in den Mund leben kann.

Auf den Fremden, der als einziger Ankömmling in vorgerückter Jahres¬
zeit die Bahnstation Girgenti verläßt, stürmt eine Schar von Trügern, Bettlern,
Krüppeln und Kutschern mit Bitten und Angebot ein. Er vertraut sich und
sein Gepäck einem klug dreinschauenden Lazzarone an, der sich nicht ohne
Grandezza dem Fremden zur Verfügung gestellt hat und mit kräftigen Armen
die übrigen zurückdrängt, belohnt ihn für seine Bemühung, und in schnellem
Trabe jagt der Kutscher bergauf zu dem eine halbe Stunde entfernten Gebirgs-
städtchen Girgenti. Nach einiger Zeit sieht der Reisende voller Staunen den¬
selben Lazzarone hinter dem Wagen hertraben. In der Annahme, ihm seine
Dienste nicht genügend bezahlt zu haben, wirft er ihm noch einen Soldo zu.
Der Lazzarone winkt freundlich Dank und setzt seinen Trab fort. In der
Stadt, in die allerlei Volk zur Feier eines Heiligenfestes zusammengeströmt
ist, führt der Kutscher knallend und johlend durch die Menge, schweißtriefend
keucht der Lazzarone hinter der Karosse her. Der Reisende ist erstaunt, daß
man seinen sonderbaren Aufzug mit dem Trabanten ganz natürlich findet.
Vor dem Gasthofe eilt der Lazzarone an den Bock, erfaßt schneller als der
Hausdiener den Koffer, fragt nach dem Zimmer, schreitet dem Wirt, dem
Kellner und dem Gast voran, öffnet die Fenster und erklärt dem Fremden die
schöne Aussicht. Offenbar hat er sich durch den anstrengenden Lauf ein Recht
auf den Reisenden erworben, das der Wirt und seine Diener willig anerkennen.


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[0118] Tazzaroni festen, den Heiligcnfeiern, Festzügen und all den Sinnenreizen ihres Kultus. Dem gegenüber ist wenig von Belang, was in Oberitalien ruhmvolle Fürstengeschlechter und mächtige Republiken durch vielseitige Kraftentfaltung für die soziale und sittliche Hebung ihrer Unterthanen geleistet haben, es ver¬ schwindet im Vergleich zu der Verwahrlosung, unter der Unteritalien und Sizilien bis hinab zur bourbonischen Mißwirtschaft zu leiden hatten. In zweitausendjähriger Geschichte ist durch die Unterlassungssünden der frühern Regierungen, durch Gewöhnung und Vererbung das Lazzaronitum zu einem chronischen Leiden des Volkskörpers geworden. Ein großer Teil des Volkes ist gar nicht imstande, sein Leben unter dem Gesichtspunkt moderner Menschenpflicht und Menschenwürde zu betrachten. Selbst der bessere Teil des Volkes sieht im Lazzaronitum nicht wie wir eine unwürdige, sondern eine durch die Tradition ge¬ heiligte und berechtigte Form des Volkslebens. In der Beurteilung jener Masse von Gestalten, deren Lumpen die sengende Sonne jenen gleichförmigen, stein- und erdfarbnen Ton verleiht, macht der Italiener viel größere Unterschiede als wir. Wir lernen erst allmählich beobachten und verstehen, daß sich mancher dieser fragwürdigen Gesellen als Signore geberdet und als Signore vom Volke anerkannt wird, der nach unsern Begriffen von Menschenwürde unbedingt zum Lazzaronitum gehört. Derartige Lazzaroni sind gleichsam die Elite ihres Standes, es ist der Teil des niedern Volkes, der sich wenigstens zu soviel Arbeit und Erwerb aufrafft, daß er von der Hand in den Mund leben kann. Auf den Fremden, der als einziger Ankömmling in vorgerückter Jahres¬ zeit die Bahnstation Girgenti verläßt, stürmt eine Schar von Trügern, Bettlern, Krüppeln und Kutschern mit Bitten und Angebot ein. Er vertraut sich und sein Gepäck einem klug dreinschauenden Lazzarone an, der sich nicht ohne Grandezza dem Fremden zur Verfügung gestellt hat und mit kräftigen Armen die übrigen zurückdrängt, belohnt ihn für seine Bemühung, und in schnellem Trabe jagt der Kutscher bergauf zu dem eine halbe Stunde entfernten Gebirgs- städtchen Girgenti. Nach einiger Zeit sieht der Reisende voller Staunen den¬ selben Lazzarone hinter dem Wagen hertraben. In der Annahme, ihm seine Dienste nicht genügend bezahlt zu haben, wirft er ihm noch einen Soldo zu. Der Lazzarone winkt freundlich Dank und setzt seinen Trab fort. In der Stadt, in die allerlei Volk zur Feier eines Heiligenfestes zusammengeströmt ist, führt der Kutscher knallend und johlend durch die Menge, schweißtriefend keucht der Lazzarone hinter der Karosse her. Der Reisende ist erstaunt, daß man seinen sonderbaren Aufzug mit dem Trabanten ganz natürlich findet. Vor dem Gasthofe eilt der Lazzarone an den Bock, erfaßt schneller als der Hausdiener den Koffer, fragt nach dem Zimmer, schreitet dem Wirt, dem Kellner und dem Gast voran, öffnet die Fenster und erklärt dem Fremden die schöne Aussicht. Offenbar hat er sich durch den anstrengenden Lauf ein Recht auf den Reisenden erworben, das der Wirt und seine Diener willig anerkennen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/118>, abgerufen am 30.06.2024.