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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

Augen von den abscheulich dummen, mit keinen Scheltworten der Welt genug
zu erniedrigenden Gegenständen wegkehren, und so geht es durchaus: man ist
immer auf der Anatomie, dem Nabensteine, dem Schindanger usw." Ebenso
schloß sich sein schönheitsdurstiges Auge beleidigt beim Aublick der Häßlichkeit
menschlichen Elends. Er wandelte auch in Italien stets auf den Höhen der
Menschheit oder wenigstens der Gesellschaft, und seine Berichte schweigen von
all dem vielen Menschenunwürdigen, das unsre Augen noch heute in Italien
neben dem vielen Schönen mit in den Kauf nehmen müssen. Heute beherrschen
sozial-politische Interessen das Geistesleben der Gebildeten. Die vielen un¬
würdigen Erscheinungen des italienischen Volkslebens in ihren unzähligen
Schattirungen, vom Lächerlichen bis zum Tieftraurigen, die wir in dem Begriff
"Lazzaronitum" zusammenfassen können, stören auch uns empfindlich in unserm
ästhetischen Genießen. Aber wir wenden uns nicht ab, die Eindrücke erregen
unser soziales und sittliches Interesse, wir suchen sie durch aufmerksame
Beobachtung zu verstehen und uns durch Studium allmählich in unserm
Innern eine feste Stellung gegenüber dieser Fülle aufregender Erscheinungen
zu schaffen.

Entsprechend den verschiednen Gegenden Italiens, ihren verschiednen
Lebensbedingungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung kommt das Lazzaroni¬
tum auf die mannichfaltigste Weise zur Erscheinung. Nirgends aber ist die
Geschichte der Hauptstadt so bedeutungsvoll für die Entwicklung des ganzen
Landes gewesen. Daher liegt es nahe, daß man zunächst aus der Geschichte
Roms den Grundcharakter des italienischen Lazzaronitnms zu verstehen sucht.

Schon am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. war der Mittelstand,
dessen kernige Söhne den Erdkreis überwunden und der stolzen Noma zu
Füßen gelegt hatten, dem Untergange nahe, und öffentliche Maueranschläge
flehten den Tiberius Gracchus, den Enkel des großen Scipio, an, des armen
Volkes und der Rettung Italiens zu gedenken. Ehrgeizig betraten die Gracchen
auch wirklich den Weg der sozialen Reform in ihren Ackergesetzen, sie sahen
sich aber bald auf den Weg der Revolution gedrängt. Mit ihrem Untergange
war der Untergang des Mittelstands besiegelt, und die Kluft zwischen der
Aristokratie und dem Großkapital einerseits und einem erschreckenden Bürger-
Proletariat andrerseits wurde immer größer. Die Plantagenwirtschaft im
großen Stil verbreitete sich von Sizilien aus über ganz Italien, und das
billige Sklavenkorn verdrängte die letzten Ackerbürger trotz zähester Arbeit von
der verschuldeten Scholle. In großen Scharen schlossen sich die enterbten
Bürger den Sklaven- und Baudenführern an und folgten verzweifelt der Fahne
der Empörung in furchtbaren Kriegen, die natürlich mit blutiger Unterwerfung
durch die Staatsgewalt endigten. Mehr und mehr fand sich die große Masse
des Proletariats in die Rolle des Almosenempfängers, beschränkte sich auf ihre
politische Thätigkeit als Stimmvieh bei den Wahlen und lernte es als ihr


Lazzaroni

Augen von den abscheulich dummen, mit keinen Scheltworten der Welt genug
zu erniedrigenden Gegenständen wegkehren, und so geht es durchaus: man ist
immer auf der Anatomie, dem Nabensteine, dem Schindanger usw." Ebenso
schloß sich sein schönheitsdurstiges Auge beleidigt beim Aublick der Häßlichkeit
menschlichen Elends. Er wandelte auch in Italien stets auf den Höhen der
Menschheit oder wenigstens der Gesellschaft, und seine Berichte schweigen von
all dem vielen Menschenunwürdigen, das unsre Augen noch heute in Italien
neben dem vielen Schönen mit in den Kauf nehmen müssen. Heute beherrschen
sozial-politische Interessen das Geistesleben der Gebildeten. Die vielen un¬
würdigen Erscheinungen des italienischen Volkslebens in ihren unzähligen
Schattirungen, vom Lächerlichen bis zum Tieftraurigen, die wir in dem Begriff
„Lazzaronitum" zusammenfassen können, stören auch uns empfindlich in unserm
ästhetischen Genießen. Aber wir wenden uns nicht ab, die Eindrücke erregen
unser soziales und sittliches Interesse, wir suchen sie durch aufmerksame
Beobachtung zu verstehen und uns durch Studium allmählich in unserm
Innern eine feste Stellung gegenüber dieser Fülle aufregender Erscheinungen
zu schaffen.

Entsprechend den verschiednen Gegenden Italiens, ihren verschiednen
Lebensbedingungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung kommt das Lazzaroni¬
tum auf die mannichfaltigste Weise zur Erscheinung. Nirgends aber ist die
Geschichte der Hauptstadt so bedeutungsvoll für die Entwicklung des ganzen
Landes gewesen. Daher liegt es nahe, daß man zunächst aus der Geschichte
Roms den Grundcharakter des italienischen Lazzaronitnms zu verstehen sucht.

Schon am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. war der Mittelstand,
dessen kernige Söhne den Erdkreis überwunden und der stolzen Noma zu
Füßen gelegt hatten, dem Untergange nahe, und öffentliche Maueranschläge
flehten den Tiberius Gracchus, den Enkel des großen Scipio, an, des armen
Volkes und der Rettung Italiens zu gedenken. Ehrgeizig betraten die Gracchen
auch wirklich den Weg der sozialen Reform in ihren Ackergesetzen, sie sahen
sich aber bald auf den Weg der Revolution gedrängt. Mit ihrem Untergange
war der Untergang des Mittelstands besiegelt, und die Kluft zwischen der
Aristokratie und dem Großkapital einerseits und einem erschreckenden Bürger-
Proletariat andrerseits wurde immer größer. Die Plantagenwirtschaft im
großen Stil verbreitete sich von Sizilien aus über ganz Italien, und das
billige Sklavenkorn verdrängte die letzten Ackerbürger trotz zähester Arbeit von
der verschuldeten Scholle. In großen Scharen schlossen sich die enterbten
Bürger den Sklaven- und Baudenführern an und folgten verzweifelt der Fahne
der Empörung in furchtbaren Kriegen, die natürlich mit blutiger Unterwerfung
durch die Staatsgewalt endigten. Mehr und mehr fand sich die große Masse
des Proletariats in die Rolle des Almosenempfängers, beschränkte sich auf ihre
politische Thätigkeit als Stimmvieh bei den Wahlen und lernte es als ihr


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[0116] Lazzaroni Augen von den abscheulich dummen, mit keinen Scheltworten der Welt genug zu erniedrigenden Gegenständen wegkehren, und so geht es durchaus: man ist immer auf der Anatomie, dem Nabensteine, dem Schindanger usw." Ebenso schloß sich sein schönheitsdurstiges Auge beleidigt beim Aublick der Häßlichkeit menschlichen Elends. Er wandelte auch in Italien stets auf den Höhen der Menschheit oder wenigstens der Gesellschaft, und seine Berichte schweigen von all dem vielen Menschenunwürdigen, das unsre Augen noch heute in Italien neben dem vielen Schönen mit in den Kauf nehmen müssen. Heute beherrschen sozial-politische Interessen das Geistesleben der Gebildeten. Die vielen un¬ würdigen Erscheinungen des italienischen Volkslebens in ihren unzähligen Schattirungen, vom Lächerlichen bis zum Tieftraurigen, die wir in dem Begriff „Lazzaronitum" zusammenfassen können, stören auch uns empfindlich in unserm ästhetischen Genießen. Aber wir wenden uns nicht ab, die Eindrücke erregen unser soziales und sittliches Interesse, wir suchen sie durch aufmerksame Beobachtung zu verstehen und uns durch Studium allmählich in unserm Innern eine feste Stellung gegenüber dieser Fülle aufregender Erscheinungen zu schaffen. Entsprechend den verschiednen Gegenden Italiens, ihren verschiednen Lebensbedingungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung kommt das Lazzaroni¬ tum auf die mannichfaltigste Weise zur Erscheinung. Nirgends aber ist die Geschichte der Hauptstadt so bedeutungsvoll für die Entwicklung des ganzen Landes gewesen. Daher liegt es nahe, daß man zunächst aus der Geschichte Roms den Grundcharakter des italienischen Lazzaronitnms zu verstehen sucht. Schon am Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. war der Mittelstand, dessen kernige Söhne den Erdkreis überwunden und der stolzen Noma zu Füßen gelegt hatten, dem Untergange nahe, und öffentliche Maueranschläge flehten den Tiberius Gracchus, den Enkel des großen Scipio, an, des armen Volkes und der Rettung Italiens zu gedenken. Ehrgeizig betraten die Gracchen auch wirklich den Weg der sozialen Reform in ihren Ackergesetzen, sie sahen sich aber bald auf den Weg der Revolution gedrängt. Mit ihrem Untergange war der Untergang des Mittelstands besiegelt, und die Kluft zwischen der Aristokratie und dem Großkapital einerseits und einem erschreckenden Bürger- Proletariat andrerseits wurde immer größer. Die Plantagenwirtschaft im großen Stil verbreitete sich von Sizilien aus über ganz Italien, und das billige Sklavenkorn verdrängte die letzten Ackerbürger trotz zähester Arbeit von der verschuldeten Scholle. In großen Scharen schlossen sich die enterbten Bürger den Sklaven- und Baudenführern an und folgten verzweifelt der Fahne der Empörung in furchtbaren Kriegen, die natürlich mit blutiger Unterwerfung durch die Staatsgewalt endigten. Mehr und mehr fand sich die große Masse des Proletariats in die Rolle des Almosenempfängers, beschränkte sich auf ihre politische Thätigkeit als Stimmvieh bei den Wahlen und lernte es als ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/116>, abgerufen am 23.06.2024.