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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

Deutschen, der eins völkerverbindenden Schienenpfade dem gelobten Lande der
reichsten geschichtlichen Überlieferung voll Begeisterung entgegeneile. Und doch
ist gerade für die allerersten und für die modernen Nömerfuhrten der Ger¬
manen die treibende Kraft dieselbe: die Sehnsucht nach Genüssen, die die
nordische Heimat versagt. Allerdings hat sich jene Sehnsucht sehr geläutert
und veredelt. Jene hungrigen Barbaren lockte die Kunde von dem reichen
Sonnenlande: wie gierige Wölfe stürzten sie sich auf die fette Beute. Dem
modernen Schwärmer könnte es beleidigend erscheinen, sein verfeinertes, durch¬
geistigtes Bedürfnis nach ästhetischem Genuß mit jenem barbarischen Hunger
nach materiellen Genüssen verglichen zu sehen. Aber das elementare Wonne¬
gefühl, aus Nebel und Frost in das Land des ewigblauen Himmels, des
Sonnenscheins und der nimmer müden Vegetation mit ihrer berauschenden
Fülle von Blüten und Früchten entrückt zu sein, bleibt selbst in dem gebildeten
modernen Germanen der Grundakkord der Seelenstimmung in Italien, und
dieses Gefühl verschönt mit ewig-junger Zauberkraft alles, was uns Italien
an ästhetischen Genüssen bietet.

Wer nach Italien reist mit dem ernsten Streben nach innern: Gewinn,
verehrt noch heute in Goethe das unerreichbare Vorbild, wie man Italien ge¬
nießen soll. Und das mit Recht, trotz aller neuern gelehrten Schilderungen.
Nie ist je wieder ein Menschenkind durch Italien gewandert, in dessen Jnnern
auf die unendlich vielen Eindrücke und Reize so unendlich viele Saiten har¬
monisch erklangen. Die Gebildeten seines Volks, die nach ihm diese Straße
zogen, hat er seit mehr denn einem Jahrhundert gelehrt, Italien unter dem
Gesichtspunkt einer historisch geschulten Ästhetik zu betrachten und den Schön¬
heitsgenuß der Gegenwart in Licht und Land mit dem Schönheitsgenuß der
Vergangenheit in Malerei, Plastik und Architektur zu vereinen. Wer aber
heute nach der Rückkehr aus Italien Goethes Reiseberichte von neuem liest,
fühlt doch den gewaltigen Abstand der Zeiten und ihrer Denk- und Em¬
pfindungsweise.

Goethe schließt zwar einen seiner Briefe mit den Worten: "Ich werde
das nächste Blatt einmal ganz von Unheil, Mord, Erdbeben und Unglück an¬
füllen, daß doch auch Schatten in meine Gemälde kommen" -- aber er thut
es nicht. Auch sind ja das Versprechen und der naiv angegebne Zweck schon
bezeichnend genug. Es lag in seiner Apollonatur, wie in dein gesamten
Bildungsideal jener Zeit, sich den Schönheitsgenuß in Natur und Kunst durch
das Häßliche und Gemeine möglichst wenig stören zu lassen. Im Anfang
seiner Reise beherrschte ihn der ästhetische Gesichtspunkt so einseitig, daß Häßlich¬
keit des Gegenstands ihn völlig unfähig machte, ein Bild geschichtlich zu wür¬
digen. Aus Bologna mit seiner reichen Sammlung von Meisterwerken schrieb
er über die Heiligenbilder von Reni, Domenichino und den Carracci, wie er
selbst später sagt, unmutig und cmmaßlich gestimmt: "Du möchtest gleich die


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Deutschen, der eins völkerverbindenden Schienenpfade dem gelobten Lande der
reichsten geschichtlichen Überlieferung voll Begeisterung entgegeneile. Und doch
ist gerade für die allerersten und für die modernen Nömerfuhrten der Ger¬
manen die treibende Kraft dieselbe: die Sehnsucht nach Genüssen, die die
nordische Heimat versagt. Allerdings hat sich jene Sehnsucht sehr geläutert
und veredelt. Jene hungrigen Barbaren lockte die Kunde von dem reichen
Sonnenlande: wie gierige Wölfe stürzten sie sich auf die fette Beute. Dem
modernen Schwärmer könnte es beleidigend erscheinen, sein verfeinertes, durch¬
geistigtes Bedürfnis nach ästhetischem Genuß mit jenem barbarischen Hunger
nach materiellen Genüssen verglichen zu sehen. Aber das elementare Wonne¬
gefühl, aus Nebel und Frost in das Land des ewigblauen Himmels, des
Sonnenscheins und der nimmer müden Vegetation mit ihrer berauschenden
Fülle von Blüten und Früchten entrückt zu sein, bleibt selbst in dem gebildeten
modernen Germanen der Grundakkord der Seelenstimmung in Italien, und
dieses Gefühl verschönt mit ewig-junger Zauberkraft alles, was uns Italien
an ästhetischen Genüssen bietet.

Wer nach Italien reist mit dem ernsten Streben nach innern: Gewinn,
verehrt noch heute in Goethe das unerreichbare Vorbild, wie man Italien ge¬
nießen soll. Und das mit Recht, trotz aller neuern gelehrten Schilderungen.
Nie ist je wieder ein Menschenkind durch Italien gewandert, in dessen Jnnern
auf die unendlich vielen Eindrücke und Reize so unendlich viele Saiten har¬
monisch erklangen. Die Gebildeten seines Volks, die nach ihm diese Straße
zogen, hat er seit mehr denn einem Jahrhundert gelehrt, Italien unter dem
Gesichtspunkt einer historisch geschulten Ästhetik zu betrachten und den Schön¬
heitsgenuß der Gegenwart in Licht und Land mit dem Schönheitsgenuß der
Vergangenheit in Malerei, Plastik und Architektur zu vereinen. Wer aber
heute nach der Rückkehr aus Italien Goethes Reiseberichte von neuem liest,
fühlt doch den gewaltigen Abstand der Zeiten und ihrer Denk- und Em¬
pfindungsweise.

Goethe schließt zwar einen seiner Briefe mit den Worten: „Ich werde
das nächste Blatt einmal ganz von Unheil, Mord, Erdbeben und Unglück an¬
füllen, daß doch auch Schatten in meine Gemälde kommen" — aber er thut
es nicht. Auch sind ja das Versprechen und der naiv angegebne Zweck schon
bezeichnend genug. Es lag in seiner Apollonatur, wie in dein gesamten
Bildungsideal jener Zeit, sich den Schönheitsgenuß in Natur und Kunst durch
das Häßliche und Gemeine möglichst wenig stören zu lassen. Im Anfang
seiner Reise beherrschte ihn der ästhetische Gesichtspunkt so einseitig, daß Häßlich¬
keit des Gegenstands ihn völlig unfähig machte, ein Bild geschichtlich zu wür¬
digen. Aus Bologna mit seiner reichen Sammlung von Meisterwerken schrieb
er über die Heiligenbilder von Reni, Domenichino und den Carracci, wie er
selbst später sagt, unmutig und cmmaßlich gestimmt: „Du möchtest gleich die


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[0115] Lazzaroni Deutschen, der eins völkerverbindenden Schienenpfade dem gelobten Lande der reichsten geschichtlichen Überlieferung voll Begeisterung entgegeneile. Und doch ist gerade für die allerersten und für die modernen Nömerfuhrten der Ger¬ manen die treibende Kraft dieselbe: die Sehnsucht nach Genüssen, die die nordische Heimat versagt. Allerdings hat sich jene Sehnsucht sehr geläutert und veredelt. Jene hungrigen Barbaren lockte die Kunde von dem reichen Sonnenlande: wie gierige Wölfe stürzten sie sich auf die fette Beute. Dem modernen Schwärmer könnte es beleidigend erscheinen, sein verfeinertes, durch¬ geistigtes Bedürfnis nach ästhetischem Genuß mit jenem barbarischen Hunger nach materiellen Genüssen verglichen zu sehen. Aber das elementare Wonne¬ gefühl, aus Nebel und Frost in das Land des ewigblauen Himmels, des Sonnenscheins und der nimmer müden Vegetation mit ihrer berauschenden Fülle von Blüten und Früchten entrückt zu sein, bleibt selbst in dem gebildeten modernen Germanen der Grundakkord der Seelenstimmung in Italien, und dieses Gefühl verschönt mit ewig-junger Zauberkraft alles, was uns Italien an ästhetischen Genüssen bietet. Wer nach Italien reist mit dem ernsten Streben nach innern: Gewinn, verehrt noch heute in Goethe das unerreichbare Vorbild, wie man Italien ge¬ nießen soll. Und das mit Recht, trotz aller neuern gelehrten Schilderungen. Nie ist je wieder ein Menschenkind durch Italien gewandert, in dessen Jnnern auf die unendlich vielen Eindrücke und Reize so unendlich viele Saiten har¬ monisch erklangen. Die Gebildeten seines Volks, die nach ihm diese Straße zogen, hat er seit mehr denn einem Jahrhundert gelehrt, Italien unter dem Gesichtspunkt einer historisch geschulten Ästhetik zu betrachten und den Schön¬ heitsgenuß der Gegenwart in Licht und Land mit dem Schönheitsgenuß der Vergangenheit in Malerei, Plastik und Architektur zu vereinen. Wer aber heute nach der Rückkehr aus Italien Goethes Reiseberichte von neuem liest, fühlt doch den gewaltigen Abstand der Zeiten und ihrer Denk- und Em¬ pfindungsweise. Goethe schließt zwar einen seiner Briefe mit den Worten: „Ich werde das nächste Blatt einmal ganz von Unheil, Mord, Erdbeben und Unglück an¬ füllen, daß doch auch Schatten in meine Gemälde kommen" — aber er thut es nicht. Auch sind ja das Versprechen und der naiv angegebne Zweck schon bezeichnend genug. Es lag in seiner Apollonatur, wie in dein gesamten Bildungsideal jener Zeit, sich den Schönheitsgenuß in Natur und Kunst durch das Häßliche und Gemeine möglichst wenig stören zu lassen. Im Anfang seiner Reise beherrschte ihn der ästhetische Gesichtspunkt so einseitig, daß Häßlich¬ keit des Gegenstands ihn völlig unfähig machte, ein Bild geschichtlich zu wür¬ digen. Aus Bologna mit seiner reichen Sammlung von Meisterwerken schrieb er über die Heiligenbilder von Reni, Domenichino und den Carracci, wie er selbst später sagt, unmutig und cmmaßlich gestimmt: „Du möchtest gleich die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/115>, abgerufen am 28.12.2024.