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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Jrrenärztliche Zeitfragen

mcinuichfacher Widerstände Vernunft und Wissenschaft dennoch den Sieg über
Aberglauben und Vorurteil davontragen werden, begrüßen wir zwei Erschei¬
nungen aus neuerer Zeit: erstens eine theologische Kundgebung, eine Bekannt¬
machung des evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums zu Dresden "die
Seelsorge an Geisteskranken betreffend," und zweitens ein vor kurzem er¬
schienenes juristisches Buch, das ein zunehmendes Interesse juristischer Kreise
an den Fragen des Jrrenwesens bekundet: "Vorschläge zur Reform des
Jrrenwesens auf Grund einer Vergleichung des italienischen mit dem in
Preußen geltenden Recht" von Laudgerichtsrat C. Schnitze zu Berlin (Berlin,
I. Gnttentag).

Die Bekanntmachung des evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums zu
Dresden (siehe das Verordnungsblatt dieser Behörde vom 31. Dezember 1896)
hat den Zweck, die Geistlichen, namentlich die auf dem Lande, zu belehren,
in welcher Weise sie unsern Kranken in geistlicher und praktischer Hinsicht
Hilfe gewähren können. Das Konsistorium schließt sich der Lehre an, daß die
Geisteskrankheiten Krankheiten des Gehirns sind. Es pflichtet der medizinischen
Erkenntnis bei, daß Charaktermängel, unmoralische Neigungen, Hingebung an
Gefühle und dergleichen bei Geisteskranken in der Regel nicht von deren Willen
abhängig sind. Es erkennt an, daß nur in einer beschränkten Anzahl von
Fällen ein Zusammenhang zwischen schlechtem Lebenswandel und pshchischer
Erkrankung besteht. So können z. B. Gemütskranke, die infolge von Schwer¬
mut an trauriger Verstimmung, Energielosigkeit, Lebensüberdruß und Ver¬
sündigungsideen leiden, früher die gewissenhaftesten und aufopferungsfähigsten
Menschen gewesen sein, die ihre Krankheit weder unmittelbar noch mittelbar
irgendwie verschuldet haben. Das Konsistorium warnt dringend davor, krank¬
hafte Empfindungen und Vorstellungen "ausreden," Wahnideen mit logischen
Gründen bekämpfen zu wollen. Natürlich kann ein tröstender, aufrichtender,
beruhigender Zuspruch nur segensreich wirken, doch soll er bei ängstlichen,
überhaupt bei erregten Geisteskranken nur auf wenige freundliche und teil¬
nehmende Worte beschränkt werden. Namentlich bei frisch Erkrankten nützt
der Geistliche, wie hervorgehoben wird, am meisten, wenn er auf möglichst
rasche Zuziehung eines Arztes dringt, wenn er seinen Einfluß dahin geltend
macht, daß der Kranke ungesäumt einer Irrenanstalt anvertraut wird. Aus
der ganzen Kundgebung des Konsistoriums leuchtet neben warmen?, freund¬
lichem Interesse für die Irren in wohlthuender Weise die Absicht hervor, die
durch irrenärztliche Wissenschaft und Praxis gewonnenen Erfahrungen auf
theologischen Gebiete zu verwerten. Wie hell hebt sich ein solch lichtvoller
Kirchenregimentsbefehl, der in allen Punkten mit den Errungenschaften der
Naturwissenschaft übereinstimmt und den praktischen Bedürfnissen vollauf ge¬
recht wird, von der Pastoralpshchiatrie jener Dunkelmänner ab, die vor wenig
Jahren aus den angeblich Besessenen den Teufel austreiben wollten, die ganz


Jrrenärztliche Zeitfragen

mcinuichfacher Widerstände Vernunft und Wissenschaft dennoch den Sieg über
Aberglauben und Vorurteil davontragen werden, begrüßen wir zwei Erschei¬
nungen aus neuerer Zeit: erstens eine theologische Kundgebung, eine Bekannt¬
machung des evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums zu Dresden „die
Seelsorge an Geisteskranken betreffend," und zweitens ein vor kurzem er¬
schienenes juristisches Buch, das ein zunehmendes Interesse juristischer Kreise
an den Fragen des Jrrenwesens bekundet: „Vorschläge zur Reform des
Jrrenwesens auf Grund einer Vergleichung des italienischen mit dem in
Preußen geltenden Recht" von Laudgerichtsrat C. Schnitze zu Berlin (Berlin,
I. Gnttentag).

Die Bekanntmachung des evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums zu
Dresden (siehe das Verordnungsblatt dieser Behörde vom 31. Dezember 1896)
hat den Zweck, die Geistlichen, namentlich die auf dem Lande, zu belehren,
in welcher Weise sie unsern Kranken in geistlicher und praktischer Hinsicht
Hilfe gewähren können. Das Konsistorium schließt sich der Lehre an, daß die
Geisteskrankheiten Krankheiten des Gehirns sind. Es pflichtet der medizinischen
Erkenntnis bei, daß Charaktermängel, unmoralische Neigungen, Hingebung an
Gefühle und dergleichen bei Geisteskranken in der Regel nicht von deren Willen
abhängig sind. Es erkennt an, daß nur in einer beschränkten Anzahl von
Fällen ein Zusammenhang zwischen schlechtem Lebenswandel und pshchischer
Erkrankung besteht. So können z. B. Gemütskranke, die infolge von Schwer¬
mut an trauriger Verstimmung, Energielosigkeit, Lebensüberdruß und Ver¬
sündigungsideen leiden, früher die gewissenhaftesten und aufopferungsfähigsten
Menschen gewesen sein, die ihre Krankheit weder unmittelbar noch mittelbar
irgendwie verschuldet haben. Das Konsistorium warnt dringend davor, krank¬
hafte Empfindungen und Vorstellungen „ausreden," Wahnideen mit logischen
Gründen bekämpfen zu wollen. Natürlich kann ein tröstender, aufrichtender,
beruhigender Zuspruch nur segensreich wirken, doch soll er bei ängstlichen,
überhaupt bei erregten Geisteskranken nur auf wenige freundliche und teil¬
nehmende Worte beschränkt werden. Namentlich bei frisch Erkrankten nützt
der Geistliche, wie hervorgehoben wird, am meisten, wenn er auf möglichst
rasche Zuziehung eines Arztes dringt, wenn er seinen Einfluß dahin geltend
macht, daß der Kranke ungesäumt einer Irrenanstalt anvertraut wird. Aus
der ganzen Kundgebung des Konsistoriums leuchtet neben warmen?, freund¬
lichem Interesse für die Irren in wohlthuender Weise die Absicht hervor, die
durch irrenärztliche Wissenschaft und Praxis gewonnenen Erfahrungen auf
theologischen Gebiete zu verwerten. Wie hell hebt sich ein solch lichtvoller
Kirchenregimentsbefehl, der in allen Punkten mit den Errungenschaften der
Naturwissenschaft übereinstimmt und den praktischen Bedürfnissen vollauf ge¬
recht wird, von der Pastoralpshchiatrie jener Dunkelmänner ab, die vor wenig
Jahren aus den angeblich Besessenen den Teufel austreiben wollten, die ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/86>, abgerufen am 23.07.2024.