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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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IrrenÄrztliche Aeitfragen

erstens gegen eine Anzahl von Theologen, die noch immer nicht begreifen
können, daß die Seelenstörungen Gehirnkrankheiten sind und in das Gebiet der
Medizin gehören. Zweitens aber müssen wir suchen, bei den Juristen immer
mehr Gehör zu finden. Noch giebt es viele Richter, die unsre Kranken in die
Strafanstalten stecken, noch giebt es viele Strafanstaltsdirektoren, in deren
Anstalten Geisteskranke, die nicht als solche erkannt werden, ein trauriges
Dasein fristen. Viel notwendiger als Revisionen der Irrenanstalten daraufhin,
ob geistig Gesunde darinnen zurückgehalten werden, scheinen mir Revisionen
der Arbeitsanstalten, der Gefängnisse und der Zuchthäuser. Ganz sicherlich
befindet sich in vielen dieser Anstalten eine Anzahl Geisteskranker. Eine leichte
Arbeit freilich ist es nicht, sie herauszufinden. Fabig zu dieser Arbeit ist nur
ein Fachmann. Der praktische Arzt versteht heutzutage leider uoch viel zu
wenig von der Psychiatrie. Das liegt freilich oft nicht an ihm. Das Gebiet
der Medizin ist so groß geworden, daß der Einzelne nicht mehr alle Wissens¬
zweige beherrschen kann. Aber der praktische Arzt dürfte nur dann psychia¬
trische Gutachten abgeben, wenn er Jrrenheilkunde gelernt hat. Eigentlich ist
das selbstverständlich, und doch wird sehr oft gegen diesen Grundsatz verstoßen.

Im Kampf gegen widerstrebende Richter und Verwaltungsbeamte sind
unsre besten Waffen das deutsche Neichsstrnfgesetzbuch und die deutsche Straf¬
prozeßordnung. Nach deu einsichtsvollen Bestimmungen dieser Gesetzbücher
liegt bei psychisch Kranken eine Handlung im Rechtssinne gar nicht vor, da
sie sich zu der fragliche" Zeit in einem Zustande krankhafter Störung der
Geistesthütigkeit befunden haben, dnrch den ihre freie Willensbestimmung aus¬
geschlossen war. Die Richter dürfen also Geisteskranke nicht verurteilen, die
Gesängnisbeamten dürften sie nicht aufnehmen und verwahren. Ferner darf
auf der Strafabteilung des Gefängnisses ein erst dort geistig Erkrankter nicht
verbleiben, denn § 487 der Strafprozeßordnung bestimmt ausdrücklich, daß die
Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aufzuschieben sei, wenn der Verurteilte in
Geisteskrankheit verfüllt. Richter und Gefünguisbeamte kennen die Gesetze.
Sie vor allem sind zu ihrer Handhabung berufen. Möchten sie sich doch
immer mehr dessen bewußt werden, welche Verantwortlichkeit auch in dieser
Richtung auf ihren Schultern richt. Wie peinlich das Reichsgericht die Gesetze
auch in diesen Fragen gehandhabt wissen will, beweist sein Urteil vom
23. Oktober 1890 (Entscheidungen in Strafsachen 21. Band. Seite 131 ff.).
Darnach genügen schon Zweifel an der Willensfreiheit des Thäters zur Frei¬
sprechung auf Grund von § 51 des Strafgesetzbuchs. Die Zurechnungsfähig-
keit muß uach dem Wortlaut dieser Entscheidung in zweifelhaften Fällen dem
Angeklagten nachgewiesen werden. Bleibt sie zweifelhaft, so hat Freisprechung
zu erfolgen.

Aber unser guter Kampf hat doch auch einige Erfolge aufzuweisen. Als
erfreuliche Zeichen dafür, daß es vorwärts geht, daß es scheint, als ob trotz


IrrenÄrztliche Aeitfragen

erstens gegen eine Anzahl von Theologen, die noch immer nicht begreifen
können, daß die Seelenstörungen Gehirnkrankheiten sind und in das Gebiet der
Medizin gehören. Zweitens aber müssen wir suchen, bei den Juristen immer
mehr Gehör zu finden. Noch giebt es viele Richter, die unsre Kranken in die
Strafanstalten stecken, noch giebt es viele Strafanstaltsdirektoren, in deren
Anstalten Geisteskranke, die nicht als solche erkannt werden, ein trauriges
Dasein fristen. Viel notwendiger als Revisionen der Irrenanstalten daraufhin,
ob geistig Gesunde darinnen zurückgehalten werden, scheinen mir Revisionen
der Arbeitsanstalten, der Gefängnisse und der Zuchthäuser. Ganz sicherlich
befindet sich in vielen dieser Anstalten eine Anzahl Geisteskranker. Eine leichte
Arbeit freilich ist es nicht, sie herauszufinden. Fabig zu dieser Arbeit ist nur
ein Fachmann. Der praktische Arzt versteht heutzutage leider uoch viel zu
wenig von der Psychiatrie. Das liegt freilich oft nicht an ihm. Das Gebiet
der Medizin ist so groß geworden, daß der Einzelne nicht mehr alle Wissens¬
zweige beherrschen kann. Aber der praktische Arzt dürfte nur dann psychia¬
trische Gutachten abgeben, wenn er Jrrenheilkunde gelernt hat. Eigentlich ist
das selbstverständlich, und doch wird sehr oft gegen diesen Grundsatz verstoßen.

Im Kampf gegen widerstrebende Richter und Verwaltungsbeamte sind
unsre besten Waffen das deutsche Neichsstrnfgesetzbuch und die deutsche Straf¬
prozeßordnung. Nach deu einsichtsvollen Bestimmungen dieser Gesetzbücher
liegt bei psychisch Kranken eine Handlung im Rechtssinne gar nicht vor, da
sie sich zu der fragliche» Zeit in einem Zustande krankhafter Störung der
Geistesthütigkeit befunden haben, dnrch den ihre freie Willensbestimmung aus¬
geschlossen war. Die Richter dürfen also Geisteskranke nicht verurteilen, die
Gesängnisbeamten dürften sie nicht aufnehmen und verwahren. Ferner darf
auf der Strafabteilung des Gefängnisses ein erst dort geistig Erkrankter nicht
verbleiben, denn § 487 der Strafprozeßordnung bestimmt ausdrücklich, daß die
Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aufzuschieben sei, wenn der Verurteilte in
Geisteskrankheit verfüllt. Richter und Gefünguisbeamte kennen die Gesetze.
Sie vor allem sind zu ihrer Handhabung berufen. Möchten sie sich doch
immer mehr dessen bewußt werden, welche Verantwortlichkeit auch in dieser
Richtung auf ihren Schultern richt. Wie peinlich das Reichsgericht die Gesetze
auch in diesen Fragen gehandhabt wissen will, beweist sein Urteil vom
23. Oktober 1890 (Entscheidungen in Strafsachen 21. Band. Seite 131 ff.).
Darnach genügen schon Zweifel an der Willensfreiheit des Thäters zur Frei¬
sprechung auf Grund von § 51 des Strafgesetzbuchs. Die Zurechnungsfähig-
keit muß uach dem Wortlaut dieser Entscheidung in zweifelhaften Fällen dem
Angeklagten nachgewiesen werden. Bleibt sie zweifelhaft, so hat Freisprechung
zu erfolgen.

Aber unser guter Kampf hat doch auch einige Erfolge aufzuweisen. Als
erfreuliche Zeichen dafür, daß es vorwärts geht, daß es scheint, als ob trotz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/85>, abgerufen am 23.07.2024.