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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Jrrenärztliche Aeitfragen

ängstlich davor, umgebende Geisteskranke überhaupt aus den Anstalten zu
nehmen. Sie machen den Irrenärzten die größten Vorwürfe für jedes Un¬
glück, das ein aus der Anstalt Entlassener anrichtet. In vielen Fällen können
wir aber auch die Entlassung Ungeheilter mit bestem Willen anraten. Viele
Geisteskranke leiden in der Anstalt fürchterlich an Heimweh und sind in guter
Familienpflege ungefährliche, dankbare Geschöpfe. Manche von ihnen sind recht
gut fähig, sich durch mechanische Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen. Manche
arbeiten viel fleißiger, viel genauer als mancher Gesunde, und manche leiden
in der Anstalt viel schwerer an Verstimmungen als in der Freiheit; sie grübeln
in der kleinen, einförmigen Welt der Irrenanstalt viel mehr über ihre Wahn¬
ideen nach, als es draußen in dem abwechslungsreichen, frisch pulsirenden
Leben der Fall ist. Es wäre eine Grausamkeit, die Entlassung derer nicht
anzustreben, von denen zu erwarten ist, daß sie auch draußen harmlos sein
werden, oder die Entlassung solcher nicht zu fördern, deren äußere Verhältnisse
es gestatten, daß sie höchstens einen Teil ihres Unterhalts selbst verdienen.

Aus alledem wird wohl ersichtlich werden, daß die ins Jrrenfach gehörenden
praktischen Fragen ziemlich verwickelt sind. Nirgends ist es unangebrachter
als in der praktischen Psychiatrie, nach der Schablone zu urteilen, nach einem
Schema zu regieren. Es gehören theoretisches Wissen und praktische Erfahrung,
Menschen- und Weltkenntnis dazu, irrenärztliche Verantwortung zu tragen.
Es gehört aber jetzt infolge der vielen gehässigen Anfeindungen auch sehr viel
Lust und Liebe zu dem Berufe dazu. Dem Unverstand Widerstand zu leisten,
ist ja leicht. Unerfreulicher aber ist der Kampf gegen die Gebildeten. Was
die Tagesblätter über uns, unsre Thätigkeit und die Rechtsverhältnisse unsrer
Kranken schreiben, beruht meist auf ganz mangelhafter Sachkenntnis. Auch
über die jüngsten Reden einzelner Reichstagsabgeordneten können wir mir
achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Aber lebhaft bedauern wir, daß
uns am 16. Januar d. I. in der 151. Sitzung des deutschen Reichstags auch
der Vertreter der Regierung auf unbewiesene Redensarten hin fallen ließ.
Der Herr Staatssekretär von Bötticher thäte gut, sich einmal über die amtlich
festgestellten Unthaten der wirklichen Irrenärzte amtlich berichten zu lassen.
Vielleicht würde er dann finden, daß er uns Unrecht gethan hat, wenn er
schlankweg behauptete, "auf dem Gebiete des Jrrenwesens sei in der That viel
gesündigt worden." Wir Ärzte sind doch für die Alexianerwirtschaft nicht
verantwortlich gewesen. Wir haben im Gegenteil vor diesen, von der Regie¬
rung geduldeten Verhältnissen zeitig genug gewarnt. Gerade weil unser Stand
unter manchem Vorurteil zu leiden hat, müssen wir von der Regierung, in
deren Auftrag die meisten von uns arbeiten, Gerechtigkeit und besondern Schutz,
von den Gebildeten Verständnis und besondres Vertrauen fordern.

Unsern Kranken zuliebe werden wir die leider bestehenden Vorurteile
gegen unsre Anstalten bekämpfen. Und zwar gilt es zur Zeit, noch zu kämpfen


Jrrenärztliche Aeitfragen

ängstlich davor, umgebende Geisteskranke überhaupt aus den Anstalten zu
nehmen. Sie machen den Irrenärzten die größten Vorwürfe für jedes Un¬
glück, das ein aus der Anstalt Entlassener anrichtet. In vielen Fällen können
wir aber auch die Entlassung Ungeheilter mit bestem Willen anraten. Viele
Geisteskranke leiden in der Anstalt fürchterlich an Heimweh und sind in guter
Familienpflege ungefährliche, dankbare Geschöpfe. Manche von ihnen sind recht
gut fähig, sich durch mechanische Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen. Manche
arbeiten viel fleißiger, viel genauer als mancher Gesunde, und manche leiden
in der Anstalt viel schwerer an Verstimmungen als in der Freiheit; sie grübeln
in der kleinen, einförmigen Welt der Irrenanstalt viel mehr über ihre Wahn¬
ideen nach, als es draußen in dem abwechslungsreichen, frisch pulsirenden
Leben der Fall ist. Es wäre eine Grausamkeit, die Entlassung derer nicht
anzustreben, von denen zu erwarten ist, daß sie auch draußen harmlos sein
werden, oder die Entlassung solcher nicht zu fördern, deren äußere Verhältnisse
es gestatten, daß sie höchstens einen Teil ihres Unterhalts selbst verdienen.

Aus alledem wird wohl ersichtlich werden, daß die ins Jrrenfach gehörenden
praktischen Fragen ziemlich verwickelt sind. Nirgends ist es unangebrachter
als in der praktischen Psychiatrie, nach der Schablone zu urteilen, nach einem
Schema zu regieren. Es gehören theoretisches Wissen und praktische Erfahrung,
Menschen- und Weltkenntnis dazu, irrenärztliche Verantwortung zu tragen.
Es gehört aber jetzt infolge der vielen gehässigen Anfeindungen auch sehr viel
Lust und Liebe zu dem Berufe dazu. Dem Unverstand Widerstand zu leisten,
ist ja leicht. Unerfreulicher aber ist der Kampf gegen die Gebildeten. Was
die Tagesblätter über uns, unsre Thätigkeit und die Rechtsverhältnisse unsrer
Kranken schreiben, beruht meist auf ganz mangelhafter Sachkenntnis. Auch
über die jüngsten Reden einzelner Reichstagsabgeordneten können wir mir
achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Aber lebhaft bedauern wir, daß
uns am 16. Januar d. I. in der 151. Sitzung des deutschen Reichstags auch
der Vertreter der Regierung auf unbewiesene Redensarten hin fallen ließ.
Der Herr Staatssekretär von Bötticher thäte gut, sich einmal über die amtlich
festgestellten Unthaten der wirklichen Irrenärzte amtlich berichten zu lassen.
Vielleicht würde er dann finden, daß er uns Unrecht gethan hat, wenn er
schlankweg behauptete, „auf dem Gebiete des Jrrenwesens sei in der That viel
gesündigt worden." Wir Ärzte sind doch für die Alexianerwirtschaft nicht
verantwortlich gewesen. Wir haben im Gegenteil vor diesen, von der Regie¬
rung geduldeten Verhältnissen zeitig genug gewarnt. Gerade weil unser Stand
unter manchem Vorurteil zu leiden hat, müssen wir von der Regierung, in
deren Auftrag die meisten von uns arbeiten, Gerechtigkeit und besondern Schutz,
von den Gebildeten Verständnis und besondres Vertrauen fordern.

Unsern Kranken zuliebe werden wir die leider bestehenden Vorurteile
gegen unsre Anstalten bekämpfen. Und zwar gilt es zur Zeit, noch zu kämpfen


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[0084] Jrrenärztliche Aeitfragen ängstlich davor, umgebende Geisteskranke überhaupt aus den Anstalten zu nehmen. Sie machen den Irrenärzten die größten Vorwürfe für jedes Un¬ glück, das ein aus der Anstalt Entlassener anrichtet. In vielen Fällen können wir aber auch die Entlassung Ungeheilter mit bestem Willen anraten. Viele Geisteskranke leiden in der Anstalt fürchterlich an Heimweh und sind in guter Familienpflege ungefährliche, dankbare Geschöpfe. Manche von ihnen sind recht gut fähig, sich durch mechanische Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen. Manche arbeiten viel fleißiger, viel genauer als mancher Gesunde, und manche leiden in der Anstalt viel schwerer an Verstimmungen als in der Freiheit; sie grübeln in der kleinen, einförmigen Welt der Irrenanstalt viel mehr über ihre Wahn¬ ideen nach, als es draußen in dem abwechslungsreichen, frisch pulsirenden Leben der Fall ist. Es wäre eine Grausamkeit, die Entlassung derer nicht anzustreben, von denen zu erwarten ist, daß sie auch draußen harmlos sein werden, oder die Entlassung solcher nicht zu fördern, deren äußere Verhältnisse es gestatten, daß sie höchstens einen Teil ihres Unterhalts selbst verdienen. Aus alledem wird wohl ersichtlich werden, daß die ins Jrrenfach gehörenden praktischen Fragen ziemlich verwickelt sind. Nirgends ist es unangebrachter als in der praktischen Psychiatrie, nach der Schablone zu urteilen, nach einem Schema zu regieren. Es gehören theoretisches Wissen und praktische Erfahrung, Menschen- und Weltkenntnis dazu, irrenärztliche Verantwortung zu tragen. Es gehört aber jetzt infolge der vielen gehässigen Anfeindungen auch sehr viel Lust und Liebe zu dem Berufe dazu. Dem Unverstand Widerstand zu leisten, ist ja leicht. Unerfreulicher aber ist der Kampf gegen die Gebildeten. Was die Tagesblätter über uns, unsre Thätigkeit und die Rechtsverhältnisse unsrer Kranken schreiben, beruht meist auf ganz mangelhafter Sachkenntnis. Auch über die jüngsten Reden einzelner Reichstagsabgeordneten können wir mir achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Aber lebhaft bedauern wir, daß uns am 16. Januar d. I. in der 151. Sitzung des deutschen Reichstags auch der Vertreter der Regierung auf unbewiesene Redensarten hin fallen ließ. Der Herr Staatssekretär von Bötticher thäte gut, sich einmal über die amtlich festgestellten Unthaten der wirklichen Irrenärzte amtlich berichten zu lassen. Vielleicht würde er dann finden, daß er uns Unrecht gethan hat, wenn er schlankweg behauptete, „auf dem Gebiete des Jrrenwesens sei in der That viel gesündigt worden." Wir Ärzte sind doch für die Alexianerwirtschaft nicht verantwortlich gewesen. Wir haben im Gegenteil vor diesen, von der Regie¬ rung geduldeten Verhältnissen zeitig genug gewarnt. Gerade weil unser Stand unter manchem Vorurteil zu leiden hat, müssen wir von der Regierung, in deren Auftrag die meisten von uns arbeiten, Gerechtigkeit und besondern Schutz, von den Gebildeten Verständnis und besondres Vertrauen fordern. Unsern Kranken zuliebe werden wir die leider bestehenden Vorurteile gegen unsre Anstalten bekämpfen. Und zwar gilt es zur Zeit, noch zu kämpfen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/84>, abgerufen am 23.07.2024.