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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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JrrenLrztliche Zeitfragen

der Kranken und ihrer Angehörigen an diskreter Behandlung ihres Leidens
zu gering. Man bedenkt nicht, wie wichtig es für den Ruf des Kaufmanns,
des Politikers, des Beamten, aber auch für das Ansehen jeder Privatperson
sein kann, daß eine (vielleicht völlig heilbare) geistige Erkrankung nicht bekannt
wird. Die Welt hat nun einmal ein gewisses Mißtrauen gegen die, die
psychisch krank gewesen sind. Wieder andre meinen, es vergehe nicht selten
zuviel kostbare Zeit, ehe die zur Aufnahme in eine Staatsanstalt erforderlichen
Zeugnisse beigebracht werden. Sie fordern deshalb gerade das Gegenteil,
nümlich möglichste Vereinfachung des Abnahmeverfahrens: so rasch, wie man
einen körperlich Kranken in ein Krankenhaus bringen kann, so rasch soll man
auch einen hilfsbedürftigen Geisteskranken des Segens einer Irrenanstalt teil¬
haftig werden lassen. Thatsächlich wird auch an einzelnen Orten des Reichs
die sachgemäße Behandlung mancher Kranken durch allzu umständliche Auf-
uahmebestimmungen in bedauerlicher Weise verzögert. Das hat ost genug zur
Folge, daß ein heilbarer Kranker zu Grunde geht, oder daß er nicht vor Mi߬
handlung, seine Umgebung nicht vor gefährlichen Gewaltthaten geschützt wird.
Es giebt ferner kluge Leute, die wissen, daß die Kranken nach ihrer Genesung
viel zu lange in den Heilanstalten zurückgehalten werden. Mancher Geistes¬
kranke benimmt sich auch wirklich in den regelmäßigen, geordneten Verhältnissen
der Anstalt so tadellos, daß wir sofort in seine Entlassung willigen würden,
wenn jemand außerhalb der Anstalt für ihn sorgen könnte oder wollte. Aber
die Verwandten, die Freunde und der Vormund können oder wollen ihn in
der Regel nur daheim haben, wenn er vollständig gesund ist, wenn er wieder
arbeiten und verdienen kann; für vollständig gesund kann er aber oft nicht er¬
klärt werden. Den Kranken zuliebe befördert der Jrrenarzt manche Ent¬
lastung oder Beurlaubung Ungeteilter, er hindert sie wenigstens nicht. Zu
manchen Entlastungen, auch scheinbar harmloser Geisteskranker, darf er aber
sein Einverständnis nicht erklären, denn er weiß genau aus Erfahrung, daß
die Betreffenden außerhalb der Anstalt für andre höchst lästig werden, und
daß sich ihr Zustand in der Freiheit schnell wieder verschlimmert. Die Rücksicht,
die in der Irrenanstalt gegen die unglücklichsten aller Menschen nach Möglich¬
keit geübt wird, kann im freien Verkehr viel weniger genommen werden. Da
giebt es für den Kranken viel mehr Reibungen, viel mehr geistige und ge¬
mütliche Anstrengungen. Alles das zehrt an seinen Kräften. Die gesunde
Welt aber hat doch auch andre, bessere Geschäfte zu besorgen. Sie kann nicht
viel Federlesens mit den geistig Unfähigen machen. Sie denkt auch gar nicht
gern an die "Verrückten," ihr ists lieb, wenn sie hinter Schloß und Riegel
sind, das bringt der Kampf ums Dasein so mit sich. In der That werden
manche Kranke, die in der Anstalt ruhig, lenksam und fleißig waren, draußen
infolge von Widerspruch und Neckerei, infolge von Kummer, Not und Sorgen
zu gefährlichen Handlungen getrieben. Viele Leute warnen nun auch wieder


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der Kranken und ihrer Angehörigen an diskreter Behandlung ihres Leidens
zu gering. Man bedenkt nicht, wie wichtig es für den Ruf des Kaufmanns,
des Politikers, des Beamten, aber auch für das Ansehen jeder Privatperson
sein kann, daß eine (vielleicht völlig heilbare) geistige Erkrankung nicht bekannt
wird. Die Welt hat nun einmal ein gewisses Mißtrauen gegen die, die
psychisch krank gewesen sind. Wieder andre meinen, es vergehe nicht selten
zuviel kostbare Zeit, ehe die zur Aufnahme in eine Staatsanstalt erforderlichen
Zeugnisse beigebracht werden. Sie fordern deshalb gerade das Gegenteil,
nümlich möglichste Vereinfachung des Abnahmeverfahrens: so rasch, wie man
einen körperlich Kranken in ein Krankenhaus bringen kann, so rasch soll man
auch einen hilfsbedürftigen Geisteskranken des Segens einer Irrenanstalt teil¬
haftig werden lassen. Thatsächlich wird auch an einzelnen Orten des Reichs
die sachgemäße Behandlung mancher Kranken durch allzu umständliche Auf-
uahmebestimmungen in bedauerlicher Weise verzögert. Das hat ost genug zur
Folge, daß ein heilbarer Kranker zu Grunde geht, oder daß er nicht vor Mi߬
handlung, seine Umgebung nicht vor gefährlichen Gewaltthaten geschützt wird.
Es giebt ferner kluge Leute, die wissen, daß die Kranken nach ihrer Genesung
viel zu lange in den Heilanstalten zurückgehalten werden. Mancher Geistes¬
kranke benimmt sich auch wirklich in den regelmäßigen, geordneten Verhältnissen
der Anstalt so tadellos, daß wir sofort in seine Entlassung willigen würden,
wenn jemand außerhalb der Anstalt für ihn sorgen könnte oder wollte. Aber
die Verwandten, die Freunde und der Vormund können oder wollen ihn in
der Regel nur daheim haben, wenn er vollständig gesund ist, wenn er wieder
arbeiten und verdienen kann; für vollständig gesund kann er aber oft nicht er¬
klärt werden. Den Kranken zuliebe befördert der Jrrenarzt manche Ent¬
lastung oder Beurlaubung Ungeteilter, er hindert sie wenigstens nicht. Zu
manchen Entlastungen, auch scheinbar harmloser Geisteskranker, darf er aber
sein Einverständnis nicht erklären, denn er weiß genau aus Erfahrung, daß
die Betreffenden außerhalb der Anstalt für andre höchst lästig werden, und
daß sich ihr Zustand in der Freiheit schnell wieder verschlimmert. Die Rücksicht,
die in der Irrenanstalt gegen die unglücklichsten aller Menschen nach Möglich¬
keit geübt wird, kann im freien Verkehr viel weniger genommen werden. Da
giebt es für den Kranken viel mehr Reibungen, viel mehr geistige und ge¬
mütliche Anstrengungen. Alles das zehrt an seinen Kräften. Die gesunde
Welt aber hat doch auch andre, bessere Geschäfte zu besorgen. Sie kann nicht
viel Federlesens mit den geistig Unfähigen machen. Sie denkt auch gar nicht
gern an die „Verrückten," ihr ists lieb, wenn sie hinter Schloß und Riegel
sind, das bringt der Kampf ums Dasein so mit sich. In der That werden
manche Kranke, die in der Anstalt ruhig, lenksam und fleißig waren, draußen
infolge von Widerspruch und Neckerei, infolge von Kummer, Not und Sorgen
zu gefährlichen Handlungen getrieben. Viele Leute warnen nun auch wieder


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[0083] JrrenLrztliche Zeitfragen der Kranken und ihrer Angehörigen an diskreter Behandlung ihres Leidens zu gering. Man bedenkt nicht, wie wichtig es für den Ruf des Kaufmanns, des Politikers, des Beamten, aber auch für das Ansehen jeder Privatperson sein kann, daß eine (vielleicht völlig heilbare) geistige Erkrankung nicht bekannt wird. Die Welt hat nun einmal ein gewisses Mißtrauen gegen die, die psychisch krank gewesen sind. Wieder andre meinen, es vergehe nicht selten zuviel kostbare Zeit, ehe die zur Aufnahme in eine Staatsanstalt erforderlichen Zeugnisse beigebracht werden. Sie fordern deshalb gerade das Gegenteil, nümlich möglichste Vereinfachung des Abnahmeverfahrens: so rasch, wie man einen körperlich Kranken in ein Krankenhaus bringen kann, so rasch soll man auch einen hilfsbedürftigen Geisteskranken des Segens einer Irrenanstalt teil¬ haftig werden lassen. Thatsächlich wird auch an einzelnen Orten des Reichs die sachgemäße Behandlung mancher Kranken durch allzu umständliche Auf- uahmebestimmungen in bedauerlicher Weise verzögert. Das hat ost genug zur Folge, daß ein heilbarer Kranker zu Grunde geht, oder daß er nicht vor Mi߬ handlung, seine Umgebung nicht vor gefährlichen Gewaltthaten geschützt wird. Es giebt ferner kluge Leute, die wissen, daß die Kranken nach ihrer Genesung viel zu lange in den Heilanstalten zurückgehalten werden. Mancher Geistes¬ kranke benimmt sich auch wirklich in den regelmäßigen, geordneten Verhältnissen der Anstalt so tadellos, daß wir sofort in seine Entlassung willigen würden, wenn jemand außerhalb der Anstalt für ihn sorgen könnte oder wollte. Aber die Verwandten, die Freunde und der Vormund können oder wollen ihn in der Regel nur daheim haben, wenn er vollständig gesund ist, wenn er wieder arbeiten und verdienen kann; für vollständig gesund kann er aber oft nicht er¬ klärt werden. Den Kranken zuliebe befördert der Jrrenarzt manche Ent¬ lastung oder Beurlaubung Ungeteilter, er hindert sie wenigstens nicht. Zu manchen Entlastungen, auch scheinbar harmloser Geisteskranker, darf er aber sein Einverständnis nicht erklären, denn er weiß genau aus Erfahrung, daß die Betreffenden außerhalb der Anstalt für andre höchst lästig werden, und daß sich ihr Zustand in der Freiheit schnell wieder verschlimmert. Die Rücksicht, die in der Irrenanstalt gegen die unglücklichsten aller Menschen nach Möglich¬ keit geübt wird, kann im freien Verkehr viel weniger genommen werden. Da giebt es für den Kranken viel mehr Reibungen, viel mehr geistige und ge¬ mütliche Anstrengungen. Alles das zehrt an seinen Kräften. Die gesunde Welt aber hat doch auch andre, bessere Geschäfte zu besorgen. Sie kann nicht viel Federlesens mit den geistig Unfähigen machen. Sie denkt auch gar nicht gern an die „Verrückten," ihr ists lieb, wenn sie hinter Schloß und Riegel sind, das bringt der Kampf ums Dasein so mit sich. In der That werden manche Kranke, die in der Anstalt ruhig, lenksam und fleißig waren, draußen infolge von Widerspruch und Neckerei, infolge von Kummer, Not und Sorgen zu gefährlichen Handlungen getrieben. Viele Leute warnen nun auch wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/83>, abgerufen am 23.07.2024.