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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

Wiedergewinnen, der dnrch die kleinlichen Verhältnisse, die Ohnmacht und Armut
des Vaterlandes seit dem Beginn der neuen Zeit verdorben worden ist, seit sich
das Reich von seinen äußern Aufgaben zurückgezogen hatte, und das politische
Leben von keinen allgemeinen Ideen mehr bewegt war. Friedrich Schlegel
hat diesen Zusammenhang schon hervorgehoben: statt des turor teelpsoo, der
in den italienischen Dichtern so oft erwähnt wird, ist nun die Geduld unsre
erste Nationaltugend geworden, und nebst dieser die Demut im Gegensatz
zu einer ehedem herrschenden Gesinnung, wegen der noch zur Zeit Karls V.
ein Spanier, der mit ihm Deutschland bereiste, die Deutschen los üsros
wltN68 nennt.

Der kranke Mann scheint jetzt wirklich auf den Tod erkrankt zu sein, und
bei aller Teilnahme für ihn wird es wohl erlaubt sein, seine Erbschaft anch
unsrerseits zu mustern, damit wir genau wissen, was wir wollen, wenn die
Liquidation eintritt. Wenn wir uns darauf beschränken, immer nur für
Frieden um jeden Preis und für die Integrität der Türkei einzutreten, so
werden wir, wie schon L. Roß 1845 prophezeit hat, den Orient eines Tages
vor unsern Augen teilen sehen, ohne daß wir auch nur einen dürren Mandel¬
baum davon bekommen. Da sind die Engländer andre Praktiker; ohne den
geringsten Aufwand an Streitkräften zu machen, konnte Beaconsfield den
Berliner Kongreß mit der Nachricht überraschen, daß durch Privatvertrag mit
der Türkei England in den Besitz von Chpern gelangt sei. Versünmen wir
es, unsre Ansprüche kräftig geltend zu machen, so wird der Rest der Welt
ohne uns vergeben, und wie wir uns später nnter viel ungünstigern Umstünden
Luft macheu sollen, ist schwer abzusehen.

Was wir als die erwünschteste deutsche Erwerbung betrachten, das ist die
Südküste Kleinasiens bis zu deu Landschaften, die einst Barbarossa ans seinem
Kreuzzuge durchzogen hat, das ist weiter Syrien, Assyrien und Babylonien bis
zum Persischen Golf. In Übereinstimmung mit den in der Flugschrift des Alt¬
deutschen Verbandes: "Deutschlands Ansprüche an das türkische Erbe" würden
wir als die glücklichste Lösung des Problems betrachten, wenn die asiatische
Türkei, soweit sie nicht in der derzeitigen Machtsphäre Rußlands liegt, in die
Verwaltung Deutschlands überginge. Wir würden hierdurch einen Machtzuwachs
und eine Zukunft für Deutschland gewinnen, wie sie uns kein andrer Kolonial¬
besitz auf dem Erdball geben kann, und wir glauben, daß dieser Besitz gegen
mißgünstige Mitbewerber leichter von uns zu verteidigen wäre, als jeder
andre Kolonialbesitz.

Über die leider noch ziemlich unbekannten Verhältnisse dieser Länder
bringen wir einige Angaben aus den Reiseberichten von L. Roß*) über Klein-



^ L, Roß, Kleinasien und Deutschland. Neisebriefe und Aufsätze mit Bezugnahme auf
die Möglichkeit deutscher Niederlassungen in Kleinasien. Halle, Pfeffer, I8S0.
Deutsche Kolonisation

Wiedergewinnen, der dnrch die kleinlichen Verhältnisse, die Ohnmacht und Armut
des Vaterlandes seit dem Beginn der neuen Zeit verdorben worden ist, seit sich
das Reich von seinen äußern Aufgaben zurückgezogen hatte, und das politische
Leben von keinen allgemeinen Ideen mehr bewegt war. Friedrich Schlegel
hat diesen Zusammenhang schon hervorgehoben: statt des turor teelpsoo, der
in den italienischen Dichtern so oft erwähnt wird, ist nun die Geduld unsre
erste Nationaltugend geworden, und nebst dieser die Demut im Gegensatz
zu einer ehedem herrschenden Gesinnung, wegen der noch zur Zeit Karls V.
ein Spanier, der mit ihm Deutschland bereiste, die Deutschen los üsros
wltN68 nennt.

Der kranke Mann scheint jetzt wirklich auf den Tod erkrankt zu sein, und
bei aller Teilnahme für ihn wird es wohl erlaubt sein, seine Erbschaft anch
unsrerseits zu mustern, damit wir genau wissen, was wir wollen, wenn die
Liquidation eintritt. Wenn wir uns darauf beschränken, immer nur für
Frieden um jeden Preis und für die Integrität der Türkei einzutreten, so
werden wir, wie schon L. Roß 1845 prophezeit hat, den Orient eines Tages
vor unsern Augen teilen sehen, ohne daß wir auch nur einen dürren Mandel¬
baum davon bekommen. Da sind die Engländer andre Praktiker; ohne den
geringsten Aufwand an Streitkräften zu machen, konnte Beaconsfield den
Berliner Kongreß mit der Nachricht überraschen, daß durch Privatvertrag mit
der Türkei England in den Besitz von Chpern gelangt sei. Versünmen wir
es, unsre Ansprüche kräftig geltend zu machen, so wird der Rest der Welt
ohne uns vergeben, und wie wir uns später nnter viel ungünstigern Umstünden
Luft macheu sollen, ist schwer abzusehen.

Was wir als die erwünschteste deutsche Erwerbung betrachten, das ist die
Südküste Kleinasiens bis zu deu Landschaften, die einst Barbarossa ans seinem
Kreuzzuge durchzogen hat, das ist weiter Syrien, Assyrien und Babylonien bis
zum Persischen Golf. In Übereinstimmung mit den in der Flugschrift des Alt¬
deutschen Verbandes: „Deutschlands Ansprüche an das türkische Erbe" würden
wir als die glücklichste Lösung des Problems betrachten, wenn die asiatische
Türkei, soweit sie nicht in der derzeitigen Machtsphäre Rußlands liegt, in die
Verwaltung Deutschlands überginge. Wir würden hierdurch einen Machtzuwachs
und eine Zukunft für Deutschland gewinnen, wie sie uns kein andrer Kolonial¬
besitz auf dem Erdball geben kann, und wir glauben, daß dieser Besitz gegen
mißgünstige Mitbewerber leichter von uns zu verteidigen wäre, als jeder
andre Kolonialbesitz.

Über die leider noch ziemlich unbekannten Verhältnisse dieser Länder
bringen wir einige Angaben aus den Reiseberichten von L. Roß*) über Klein-



^ L, Roß, Kleinasien und Deutschland. Neisebriefe und Aufsätze mit Bezugnahme auf
die Möglichkeit deutscher Niederlassungen in Kleinasien. Halle, Pfeffer, I8S0.
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[0076] Deutsche Kolonisation Wiedergewinnen, der dnrch die kleinlichen Verhältnisse, die Ohnmacht und Armut des Vaterlandes seit dem Beginn der neuen Zeit verdorben worden ist, seit sich das Reich von seinen äußern Aufgaben zurückgezogen hatte, und das politische Leben von keinen allgemeinen Ideen mehr bewegt war. Friedrich Schlegel hat diesen Zusammenhang schon hervorgehoben: statt des turor teelpsoo, der in den italienischen Dichtern so oft erwähnt wird, ist nun die Geduld unsre erste Nationaltugend geworden, und nebst dieser die Demut im Gegensatz zu einer ehedem herrschenden Gesinnung, wegen der noch zur Zeit Karls V. ein Spanier, der mit ihm Deutschland bereiste, die Deutschen los üsros wltN68 nennt. Der kranke Mann scheint jetzt wirklich auf den Tod erkrankt zu sein, und bei aller Teilnahme für ihn wird es wohl erlaubt sein, seine Erbschaft anch unsrerseits zu mustern, damit wir genau wissen, was wir wollen, wenn die Liquidation eintritt. Wenn wir uns darauf beschränken, immer nur für Frieden um jeden Preis und für die Integrität der Türkei einzutreten, so werden wir, wie schon L. Roß 1845 prophezeit hat, den Orient eines Tages vor unsern Augen teilen sehen, ohne daß wir auch nur einen dürren Mandel¬ baum davon bekommen. Da sind die Engländer andre Praktiker; ohne den geringsten Aufwand an Streitkräften zu machen, konnte Beaconsfield den Berliner Kongreß mit der Nachricht überraschen, daß durch Privatvertrag mit der Türkei England in den Besitz von Chpern gelangt sei. Versünmen wir es, unsre Ansprüche kräftig geltend zu machen, so wird der Rest der Welt ohne uns vergeben, und wie wir uns später nnter viel ungünstigern Umstünden Luft macheu sollen, ist schwer abzusehen. Was wir als die erwünschteste deutsche Erwerbung betrachten, das ist die Südküste Kleinasiens bis zu deu Landschaften, die einst Barbarossa ans seinem Kreuzzuge durchzogen hat, das ist weiter Syrien, Assyrien und Babylonien bis zum Persischen Golf. In Übereinstimmung mit den in der Flugschrift des Alt¬ deutschen Verbandes: „Deutschlands Ansprüche an das türkische Erbe" würden wir als die glücklichste Lösung des Problems betrachten, wenn die asiatische Türkei, soweit sie nicht in der derzeitigen Machtsphäre Rußlands liegt, in die Verwaltung Deutschlands überginge. Wir würden hierdurch einen Machtzuwachs und eine Zukunft für Deutschland gewinnen, wie sie uns kein andrer Kolonial¬ besitz auf dem Erdball geben kann, und wir glauben, daß dieser Besitz gegen mißgünstige Mitbewerber leichter von uns zu verteidigen wäre, als jeder andre Kolonialbesitz. Über die leider noch ziemlich unbekannten Verhältnisse dieser Länder bringen wir einige Angaben aus den Reiseberichten von L. Roß*) über Klein- ^ L, Roß, Kleinasien und Deutschland. Neisebriefe und Aufsätze mit Bezugnahme auf die Möglichkeit deutscher Niederlassungen in Kleinasien. Halle, Pfeffer, I8S0.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/76>, abgerufen am 23.07.2024.