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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls

Art ihres Benehmens gegen sie beweisen. Solche Denkungsart wird mit dem
Worte "ritterlich" bezeichnet, und es giebt zu denken, daß dieses Wort heut¬
zutage vielen, leider sehr vielen Leuten starkes Unbehagen bereitet, und daß
sie bereit sind, es lächelnd in die Rumpelkammer zu verrosteten Rüstungen
des Mittelalters zu werfen.

Ehre ohne persönlichen Mut ist schlechterdings undenkbar; wer den nicht
hat, hat keine Ehre, und wenn er sich trotzdem einbildet, Ehre zu haben, so
lügt er sich etwas vor. Oder glaubt man etwa, ein ideales Gut irgend welcher
Art besitzen zu können, ohne bereit zu sein, zu seiner Verteidigung jeden Augen¬
blick alle andern Güter als wertlos wegzuwerfen?

Es giebt zu denken, daß man jetzt so oft den Grundsatz aussprechen hört,
daß die beste Waffe gegen Verleumdung und Beleidigung die Verachtung sei.
Das ist eine hinter dem grünen Tisch oder im Lehnstuhl ausgeklügelte Redens¬
art. Das Mäntelchen der zur Schau getragnen Verachtung ist ein Kleidungs¬
stück, in das jeder Lump schlüpfen kann.

Wenn ich im folgenden versuche, an einzelnen Erscheinungen in und an
unserm Volksleben nachzuweisen, daß sich eine Verschiebung, Verflachung, Ver¬
rohung des Ehrgefühls breit zu machen beginnt, so geschieht es, weil die
Gefahr, die darin liegt, von vielen nicht gesehen, nicht gefühlt oder absichtlich
verkannt wird. Ohne Pessimist zu sein, erscheint einem ein Blick in die Zu¬
kunft eines Volkes, das beginnt, in Bezug auf die einfache Bethätigung von
Mannesmut und Nationalstolz lau zu fühlen und zu richten, grauenhaft genug,
um einen Warnungsruf erschallen zu lassen.

Die materielle Weltanschauung unsrer Tage, das Anwachsen des Egoismus,
das Schwinden der Fähigkeit, einen Beruf ideal aufzufassen, die wässerige
Art, Fragen von nationaler Bedeutung und von allgemeinem Interesse nur
vom Standpunkte des Parteiphilisters zu betrachten, alles das steht in innerm
Zusammenhange mit dem Schwinden des Ehrgefühls der Einzelnen und der
Massen. Die Zahl derer, die sich mit ihrem Mangel an Ehrgefühl und
Persönlichen Mut hinter philosophisch angekränkelten Schlagwörtern und
Phrasen, hinter Theorien von Menschenwürde und Menschenwert, höherer
Kulturentwicklung und Zivilisation verkriechen, wird immer größer.

Ich habe einmal irgendwo den Satz gelesen: Jeder Mensch trägt einen
wehr oder weniger großen Schweinehund mit sich herum. Satz und Ausdruck
sind häßlich, aber leider sehr drastisch wahr. Es sollte damit der stark ent¬
wickelte tierische Selbsterhaltungstrieb des Menschen bezeichnet werden, nebst
allen seinen wenig schönen Folgen. Dieser Trieb ist ein Himmelsgeschenk,
soweit er den Menschen zur Arbeit, zum Vorwärtsstreben, zur Pflicht anspornt,
dagegen ein Höllenköter, wenn er versucht, gegen die Selbstachtung zu heisern,
wenn er uns lehren will, daß das Leben um des Lebens willen, das heißt
des Fortbestehens des Organismus wegen, ein unersetzliches Gut sei. Jeder
ehrlich denkende Mann, wohlverstanden: ehrlich gegen sich selbst, wird zugeben,


Der Schwund des Ehrgefühls

Art ihres Benehmens gegen sie beweisen. Solche Denkungsart wird mit dem
Worte „ritterlich" bezeichnet, und es giebt zu denken, daß dieses Wort heut¬
zutage vielen, leider sehr vielen Leuten starkes Unbehagen bereitet, und daß
sie bereit sind, es lächelnd in die Rumpelkammer zu verrosteten Rüstungen
des Mittelalters zu werfen.

Ehre ohne persönlichen Mut ist schlechterdings undenkbar; wer den nicht
hat, hat keine Ehre, und wenn er sich trotzdem einbildet, Ehre zu haben, so
lügt er sich etwas vor. Oder glaubt man etwa, ein ideales Gut irgend welcher
Art besitzen zu können, ohne bereit zu sein, zu seiner Verteidigung jeden Augen¬
blick alle andern Güter als wertlos wegzuwerfen?

Es giebt zu denken, daß man jetzt so oft den Grundsatz aussprechen hört,
daß die beste Waffe gegen Verleumdung und Beleidigung die Verachtung sei.
Das ist eine hinter dem grünen Tisch oder im Lehnstuhl ausgeklügelte Redens¬
art. Das Mäntelchen der zur Schau getragnen Verachtung ist ein Kleidungs¬
stück, in das jeder Lump schlüpfen kann.

Wenn ich im folgenden versuche, an einzelnen Erscheinungen in und an
unserm Volksleben nachzuweisen, daß sich eine Verschiebung, Verflachung, Ver¬
rohung des Ehrgefühls breit zu machen beginnt, so geschieht es, weil die
Gefahr, die darin liegt, von vielen nicht gesehen, nicht gefühlt oder absichtlich
verkannt wird. Ohne Pessimist zu sein, erscheint einem ein Blick in die Zu¬
kunft eines Volkes, das beginnt, in Bezug auf die einfache Bethätigung von
Mannesmut und Nationalstolz lau zu fühlen und zu richten, grauenhaft genug,
um einen Warnungsruf erschallen zu lassen.

Die materielle Weltanschauung unsrer Tage, das Anwachsen des Egoismus,
das Schwinden der Fähigkeit, einen Beruf ideal aufzufassen, die wässerige
Art, Fragen von nationaler Bedeutung und von allgemeinem Interesse nur
vom Standpunkte des Parteiphilisters zu betrachten, alles das steht in innerm
Zusammenhange mit dem Schwinden des Ehrgefühls der Einzelnen und der
Massen. Die Zahl derer, die sich mit ihrem Mangel an Ehrgefühl und
Persönlichen Mut hinter philosophisch angekränkelten Schlagwörtern und
Phrasen, hinter Theorien von Menschenwürde und Menschenwert, höherer
Kulturentwicklung und Zivilisation verkriechen, wird immer größer.

Ich habe einmal irgendwo den Satz gelesen: Jeder Mensch trägt einen
wehr oder weniger großen Schweinehund mit sich herum. Satz und Ausdruck
sind häßlich, aber leider sehr drastisch wahr. Es sollte damit der stark ent¬
wickelte tierische Selbsterhaltungstrieb des Menschen bezeichnet werden, nebst
allen seinen wenig schönen Folgen. Dieser Trieb ist ein Himmelsgeschenk,
soweit er den Menschen zur Arbeit, zum Vorwärtsstreben, zur Pflicht anspornt,
dagegen ein Höllenköter, wenn er versucht, gegen die Selbstachtung zu heisern,
wenn er uns lehren will, daß das Leben um des Lebens willen, das heißt
des Fortbestehens des Organismus wegen, ein unersetzliches Gut sei. Jeder
ehrlich denkende Mann, wohlverstanden: ehrlich gegen sich selbst, wird zugeben,


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[0603] Der Schwund des Ehrgefühls Art ihres Benehmens gegen sie beweisen. Solche Denkungsart wird mit dem Worte „ritterlich" bezeichnet, und es giebt zu denken, daß dieses Wort heut¬ zutage vielen, leider sehr vielen Leuten starkes Unbehagen bereitet, und daß sie bereit sind, es lächelnd in die Rumpelkammer zu verrosteten Rüstungen des Mittelalters zu werfen. Ehre ohne persönlichen Mut ist schlechterdings undenkbar; wer den nicht hat, hat keine Ehre, und wenn er sich trotzdem einbildet, Ehre zu haben, so lügt er sich etwas vor. Oder glaubt man etwa, ein ideales Gut irgend welcher Art besitzen zu können, ohne bereit zu sein, zu seiner Verteidigung jeden Augen¬ blick alle andern Güter als wertlos wegzuwerfen? Es giebt zu denken, daß man jetzt so oft den Grundsatz aussprechen hört, daß die beste Waffe gegen Verleumdung und Beleidigung die Verachtung sei. Das ist eine hinter dem grünen Tisch oder im Lehnstuhl ausgeklügelte Redens¬ art. Das Mäntelchen der zur Schau getragnen Verachtung ist ein Kleidungs¬ stück, in das jeder Lump schlüpfen kann. Wenn ich im folgenden versuche, an einzelnen Erscheinungen in und an unserm Volksleben nachzuweisen, daß sich eine Verschiebung, Verflachung, Ver¬ rohung des Ehrgefühls breit zu machen beginnt, so geschieht es, weil die Gefahr, die darin liegt, von vielen nicht gesehen, nicht gefühlt oder absichtlich verkannt wird. Ohne Pessimist zu sein, erscheint einem ein Blick in die Zu¬ kunft eines Volkes, das beginnt, in Bezug auf die einfache Bethätigung von Mannesmut und Nationalstolz lau zu fühlen und zu richten, grauenhaft genug, um einen Warnungsruf erschallen zu lassen. Die materielle Weltanschauung unsrer Tage, das Anwachsen des Egoismus, das Schwinden der Fähigkeit, einen Beruf ideal aufzufassen, die wässerige Art, Fragen von nationaler Bedeutung und von allgemeinem Interesse nur vom Standpunkte des Parteiphilisters zu betrachten, alles das steht in innerm Zusammenhange mit dem Schwinden des Ehrgefühls der Einzelnen und der Massen. Die Zahl derer, die sich mit ihrem Mangel an Ehrgefühl und Persönlichen Mut hinter philosophisch angekränkelten Schlagwörtern und Phrasen, hinter Theorien von Menschenwürde und Menschenwert, höherer Kulturentwicklung und Zivilisation verkriechen, wird immer größer. Ich habe einmal irgendwo den Satz gelesen: Jeder Mensch trägt einen wehr oder weniger großen Schweinehund mit sich herum. Satz und Ausdruck sind häßlich, aber leider sehr drastisch wahr. Es sollte damit der stark ent¬ wickelte tierische Selbsterhaltungstrieb des Menschen bezeichnet werden, nebst allen seinen wenig schönen Folgen. Dieser Trieb ist ein Himmelsgeschenk, soweit er den Menschen zur Arbeit, zum Vorwärtsstreben, zur Pflicht anspornt, dagegen ein Höllenköter, wenn er versucht, gegen die Selbstachtung zu heisern, wenn er uns lehren will, daß das Leben um des Lebens willen, das heißt des Fortbestehens des Organismus wegen, ein unersetzliches Gut sei. Jeder ehrlich denkende Mann, wohlverstanden: ehrlich gegen sich selbst, wird zugeben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/603>, abgerufen am 23.07.2024.