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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls

nur in der Meinung andrer über sie besteht, und andre, die sich an einer
unschuldig erlittnen Kränkung, gegen die ihnen keine Verteidigungswaffe zu
Gebote steht, wie an einer zehrenden Krankheit zu Grabe schleppen. Viele
tragen ein eignes Ehrengericht in der Brust, feiner, unfehlbarer und strenger
als alle Ehrengerichte der Welt. Der eine macht selbst die Ehre eines Toten
zu seiner eignen, und der andre findet das lächerlich und schließt mit dem
Sargdeckel selbst die Ehre seines Vaters ab. Man kann den modernen Menschen
unter jeden Zwang bringen, er wird sich vielleicht so weit schuriegeln lassen,
daß er jeden Mittag die vom Zukunftsstaat zugebilligte Volkssuppe auslöffelt
oder sich sein Maß von Arbeit, Vergnügungen und Schlaf zuleiten läßt; aber
keine Macht der Erde wird einen Mann, der persönlichen Mut hat, dahin
bringen, in Bezug auf die Verletzbarkeit seiner Ehre sich Mehrheitsbeschlüssen
zu beugen und durch solche Beschlüsse feststellen zu lassen, wo eine Beleidigung
oder Mißhandlung berechtigt sei, sein persönliches Ehrgefühl zu verletzen.
Und weil das nicht möglich ist, so erscheint es undenkbar, daß es je einer
Gesetzgebung gelingen werde, jeden Einzelnen in seiner Ehre zu schützen, und
deshalb werden, solange Menschen unter einander leben, nie die Fülle ver¬
schwinden, wo der Einzelne nach seinem Temperament zur Selbsthilfe greift,
um sich das intakt zu erhalten, was ihm keine staatliche Autorität gewähr¬
leisten kann.

Es ist ja zweifellos, daß die Ehrbegriffe gewisser Kreise, Stände oder
ganzer Völker der Veränderung und Umbildung unterliegen; aber den Puls¬
schlag eines Volkes und eines Zeitalters erkennt man, wie beim einzelnen
Menschen, daran, wie es sich zu den Thaten seiner Führer, seiner Vertreter,
zu Ehrungen oder Beleidigungen seiner Stammesangehörigen stellt.

Beide, sowohl der Einzelne wie ein Volk, bedürfen aber zur Wahrung
ihrer Ehre der Waffen, seien es geistige, moralische oder physische, der Waffen
gegen Gemeinheit, Nichtachtung und Verunglimpfung, und in letzter Instanz
tritt immer die drohend vorgehaltne Faust ein.

Hieraus ergiebt sich weiter, daß Menschen- und Mannesehre ohne ent¬
sprechenden Beisatz von persönlichem Mut und Kraftgefühl, ohne die Über¬
zeugung, daß alle andern Güter zur Wahrung des persönlichen Ehrgefühls
unter Umständen geopfert werden müssen, nicht denkbar ist. Ein Feigling ist
schon deshalb ehrlos, weil er darauf verzichtet, nötigenfalls für seine Ehre
bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, weil er dieses Heiligste des Mannes
jedem Schurken preisgiebt, ohne daß dieser zu befürchten hätte, hierfür mit
einer niedersausenden Faust in Berührung zu kommen.

Es ist nicht ganz inkonsequent, wenn Leute die Behauptung aufgestellt
haben, daß die Frau in diesem Sinne keine Ehre habe. Ihr fehlt in der
That das letzte Machtmittel, und es zeugt von dem gesunden, kräftigen Denken
und Fühlen eines Volkes und eines Standes, wenn die Männer bereit sind,
jedes Weibes Ehre zu ihrer eignen zu machen und das jeder Frau durch die


Der Schwund des Ehrgefühls

nur in der Meinung andrer über sie besteht, und andre, die sich an einer
unschuldig erlittnen Kränkung, gegen die ihnen keine Verteidigungswaffe zu
Gebote steht, wie an einer zehrenden Krankheit zu Grabe schleppen. Viele
tragen ein eignes Ehrengericht in der Brust, feiner, unfehlbarer und strenger
als alle Ehrengerichte der Welt. Der eine macht selbst die Ehre eines Toten
zu seiner eignen, und der andre findet das lächerlich und schließt mit dem
Sargdeckel selbst die Ehre seines Vaters ab. Man kann den modernen Menschen
unter jeden Zwang bringen, er wird sich vielleicht so weit schuriegeln lassen,
daß er jeden Mittag die vom Zukunftsstaat zugebilligte Volkssuppe auslöffelt
oder sich sein Maß von Arbeit, Vergnügungen und Schlaf zuleiten läßt; aber
keine Macht der Erde wird einen Mann, der persönlichen Mut hat, dahin
bringen, in Bezug auf die Verletzbarkeit seiner Ehre sich Mehrheitsbeschlüssen
zu beugen und durch solche Beschlüsse feststellen zu lassen, wo eine Beleidigung
oder Mißhandlung berechtigt sei, sein persönliches Ehrgefühl zu verletzen.
Und weil das nicht möglich ist, so erscheint es undenkbar, daß es je einer
Gesetzgebung gelingen werde, jeden Einzelnen in seiner Ehre zu schützen, und
deshalb werden, solange Menschen unter einander leben, nie die Fülle ver¬
schwinden, wo der Einzelne nach seinem Temperament zur Selbsthilfe greift,
um sich das intakt zu erhalten, was ihm keine staatliche Autorität gewähr¬
leisten kann.

Es ist ja zweifellos, daß die Ehrbegriffe gewisser Kreise, Stände oder
ganzer Völker der Veränderung und Umbildung unterliegen; aber den Puls¬
schlag eines Volkes und eines Zeitalters erkennt man, wie beim einzelnen
Menschen, daran, wie es sich zu den Thaten seiner Führer, seiner Vertreter,
zu Ehrungen oder Beleidigungen seiner Stammesangehörigen stellt.

Beide, sowohl der Einzelne wie ein Volk, bedürfen aber zur Wahrung
ihrer Ehre der Waffen, seien es geistige, moralische oder physische, der Waffen
gegen Gemeinheit, Nichtachtung und Verunglimpfung, und in letzter Instanz
tritt immer die drohend vorgehaltne Faust ein.

Hieraus ergiebt sich weiter, daß Menschen- und Mannesehre ohne ent¬
sprechenden Beisatz von persönlichem Mut und Kraftgefühl, ohne die Über¬
zeugung, daß alle andern Güter zur Wahrung des persönlichen Ehrgefühls
unter Umständen geopfert werden müssen, nicht denkbar ist. Ein Feigling ist
schon deshalb ehrlos, weil er darauf verzichtet, nötigenfalls für seine Ehre
bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, weil er dieses Heiligste des Mannes
jedem Schurken preisgiebt, ohne daß dieser zu befürchten hätte, hierfür mit
einer niedersausenden Faust in Berührung zu kommen.

Es ist nicht ganz inkonsequent, wenn Leute die Behauptung aufgestellt
haben, daß die Frau in diesem Sinne keine Ehre habe. Ihr fehlt in der
That das letzte Machtmittel, und es zeugt von dem gesunden, kräftigen Denken
und Fühlen eines Volkes und eines Standes, wenn die Männer bereit sind,
jedes Weibes Ehre zu ihrer eignen zu machen und das jeder Frau durch die


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[0602] Der Schwund des Ehrgefühls nur in der Meinung andrer über sie besteht, und andre, die sich an einer unschuldig erlittnen Kränkung, gegen die ihnen keine Verteidigungswaffe zu Gebote steht, wie an einer zehrenden Krankheit zu Grabe schleppen. Viele tragen ein eignes Ehrengericht in der Brust, feiner, unfehlbarer und strenger als alle Ehrengerichte der Welt. Der eine macht selbst die Ehre eines Toten zu seiner eignen, und der andre findet das lächerlich und schließt mit dem Sargdeckel selbst die Ehre seines Vaters ab. Man kann den modernen Menschen unter jeden Zwang bringen, er wird sich vielleicht so weit schuriegeln lassen, daß er jeden Mittag die vom Zukunftsstaat zugebilligte Volkssuppe auslöffelt oder sich sein Maß von Arbeit, Vergnügungen und Schlaf zuleiten läßt; aber keine Macht der Erde wird einen Mann, der persönlichen Mut hat, dahin bringen, in Bezug auf die Verletzbarkeit seiner Ehre sich Mehrheitsbeschlüssen zu beugen und durch solche Beschlüsse feststellen zu lassen, wo eine Beleidigung oder Mißhandlung berechtigt sei, sein persönliches Ehrgefühl zu verletzen. Und weil das nicht möglich ist, so erscheint es undenkbar, daß es je einer Gesetzgebung gelingen werde, jeden Einzelnen in seiner Ehre zu schützen, und deshalb werden, solange Menschen unter einander leben, nie die Fülle ver¬ schwinden, wo der Einzelne nach seinem Temperament zur Selbsthilfe greift, um sich das intakt zu erhalten, was ihm keine staatliche Autorität gewähr¬ leisten kann. Es ist ja zweifellos, daß die Ehrbegriffe gewisser Kreise, Stände oder ganzer Völker der Veränderung und Umbildung unterliegen; aber den Puls¬ schlag eines Volkes und eines Zeitalters erkennt man, wie beim einzelnen Menschen, daran, wie es sich zu den Thaten seiner Führer, seiner Vertreter, zu Ehrungen oder Beleidigungen seiner Stammesangehörigen stellt. Beide, sowohl der Einzelne wie ein Volk, bedürfen aber zur Wahrung ihrer Ehre der Waffen, seien es geistige, moralische oder physische, der Waffen gegen Gemeinheit, Nichtachtung und Verunglimpfung, und in letzter Instanz tritt immer die drohend vorgehaltne Faust ein. Hieraus ergiebt sich weiter, daß Menschen- und Mannesehre ohne ent¬ sprechenden Beisatz von persönlichem Mut und Kraftgefühl, ohne die Über¬ zeugung, daß alle andern Güter zur Wahrung des persönlichen Ehrgefühls unter Umständen geopfert werden müssen, nicht denkbar ist. Ein Feigling ist schon deshalb ehrlos, weil er darauf verzichtet, nötigenfalls für seine Ehre bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, weil er dieses Heiligste des Mannes jedem Schurken preisgiebt, ohne daß dieser zu befürchten hätte, hierfür mit einer niedersausenden Faust in Berührung zu kommen. Es ist nicht ganz inkonsequent, wenn Leute die Behauptung aufgestellt haben, daß die Frau in diesem Sinne keine Ehre habe. Ihr fehlt in der That das letzte Machtmittel, und es zeugt von dem gesunden, kräftigen Denken und Fühlen eines Volkes und eines Standes, wenn die Männer bereit sind, jedes Weibes Ehre zu ihrer eignen zu machen und das jeder Frau durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/602>, abgerufen am 23.07.2024.