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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

vollkommen gleich lang sein. Aber der Unterschied in der Länge der Hülse
wird bei den Geschwistern so unbedeutend sein, daß auch den Langhalsigsten
unter ihnen ihre Langhalsigkeit keinen Vorteil vor ihren Geschwistern sichert;
samt diesen werden sie bei großer Dürre Hungers sterben. Der Ausleseprozeß
könnte nur dann in Gang kommen, wenn ein Rehpaar einen Sprößling
zeugte, der mit dem Maule die Blätter einer Palme erreichte, aber das wäre
eine Monstrosität, und auf Monstrositäten kann doch die Entstehung der Arten
nicht gegründet werden. Überdies ist es keineswegs gewiß, daß es unter den
Nachkommen der überlebenden langhalsigen Individuen einige geben werde, die
noch langhalsiger wären als ihre Eltern. Alle zufälligen Verschiedenheiten der
Kinder und Enkel bewegen sich innerhalb des Gattungscharakters. Es giebt
auch Menschen mit auffällig langen Hälsen. Aber selbst wenn langhalsige
Männer viele Geschlechtsfolgen hindurch immer nur langhalsige Frauen heira¬
teten, würde es niemals dahin kommen, daß ein vergeßlicher Professor einen
Knoten in seinen Hals knüpfen könnte. Die Kinder der Langhalsigsten würden
endlich wieder kürzere Hälse bekommen, und das Geschlecht der Langhalsiger
würde den menschlichen Gattungscharakter nicht verlieren. Überdies ist es un¬
begreiflich, warum zufällig angeborne Eigenschaften vererbbarer sein sollten
als die erworbnen. Auch jene eingebornen Eigenschaften sind, soweit sie eine
Abweichung von den Eltern begründen, erworben, erworben durch Einflüsse,
die entweder bei der Zeugung oder während der Schwangerschaft gewirkt
haben. Wenn man nicht annimmt, daß sich der Hals einer Wiederkäuerart
durch das immerwährende Strecken nach Baumkronen verlängert hat, und daß
sich diese Verlängerungen durch Vererbung summirt haben, dann konnten
niemals auf dem Wege der Zuchtwahl aus rehartigen Wiederkäuern Giraffen
werden. Nimmt man die Vererbung erworbner Langhalsigkeit an, dann be¬
schleunigt selbstverständlich die auslesende Zuchtwahl den Prozeß, da bei jeder
Dürre alle kurzhalsigen Individuen zu Grunde gehen und zuletzt gar keine
Kurzhalsigkeit mehr vererbt werden kann. Leugnet man dagegen die Vererbung
der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften, dann nützt auch die Zuchtwahl
nichts. Es giebt dann nur eine Auslese innerhalb jeder Generation, aber nicht
eine über die gegenwärtige Generation hinauswirkende; ein Zuchtwahlprozeß
kann gar nicht in Gang kommen, und der so verstandne Darwinismus ist zur
Erklärung der Entstehung der Arten untauglich.

(Fortsetzung folgt)




vom Neudarwinismus

vollkommen gleich lang sein. Aber der Unterschied in der Länge der Hülse
wird bei den Geschwistern so unbedeutend sein, daß auch den Langhalsigsten
unter ihnen ihre Langhalsigkeit keinen Vorteil vor ihren Geschwistern sichert;
samt diesen werden sie bei großer Dürre Hungers sterben. Der Ausleseprozeß
könnte nur dann in Gang kommen, wenn ein Rehpaar einen Sprößling
zeugte, der mit dem Maule die Blätter einer Palme erreichte, aber das wäre
eine Monstrosität, und auf Monstrositäten kann doch die Entstehung der Arten
nicht gegründet werden. Überdies ist es keineswegs gewiß, daß es unter den
Nachkommen der überlebenden langhalsigen Individuen einige geben werde, die
noch langhalsiger wären als ihre Eltern. Alle zufälligen Verschiedenheiten der
Kinder und Enkel bewegen sich innerhalb des Gattungscharakters. Es giebt
auch Menschen mit auffällig langen Hälsen. Aber selbst wenn langhalsige
Männer viele Geschlechtsfolgen hindurch immer nur langhalsige Frauen heira¬
teten, würde es niemals dahin kommen, daß ein vergeßlicher Professor einen
Knoten in seinen Hals knüpfen könnte. Die Kinder der Langhalsigsten würden
endlich wieder kürzere Hälse bekommen, und das Geschlecht der Langhalsiger
würde den menschlichen Gattungscharakter nicht verlieren. Überdies ist es un¬
begreiflich, warum zufällig angeborne Eigenschaften vererbbarer sein sollten
als die erworbnen. Auch jene eingebornen Eigenschaften sind, soweit sie eine
Abweichung von den Eltern begründen, erworben, erworben durch Einflüsse,
die entweder bei der Zeugung oder während der Schwangerschaft gewirkt
haben. Wenn man nicht annimmt, daß sich der Hals einer Wiederkäuerart
durch das immerwährende Strecken nach Baumkronen verlängert hat, und daß
sich diese Verlängerungen durch Vererbung summirt haben, dann konnten
niemals auf dem Wege der Zuchtwahl aus rehartigen Wiederkäuern Giraffen
werden. Nimmt man die Vererbung erworbner Langhalsigkeit an, dann be¬
schleunigt selbstverständlich die auslesende Zuchtwahl den Prozeß, da bei jeder
Dürre alle kurzhalsigen Individuen zu Grunde gehen und zuletzt gar keine
Kurzhalsigkeit mehr vererbt werden kann. Leugnet man dagegen die Vererbung
der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften, dann nützt auch die Zuchtwahl
nichts. Es giebt dann nur eine Auslese innerhalb jeder Generation, aber nicht
eine über die gegenwärtige Generation hinauswirkende; ein Zuchtwahlprozeß
kann gar nicht in Gang kommen, und der so verstandne Darwinismus ist zur
Erklärung der Entstehung der Arten untauglich.

(Fortsetzung folgt)




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[0538] vom Neudarwinismus vollkommen gleich lang sein. Aber der Unterschied in der Länge der Hülse wird bei den Geschwistern so unbedeutend sein, daß auch den Langhalsigsten unter ihnen ihre Langhalsigkeit keinen Vorteil vor ihren Geschwistern sichert; samt diesen werden sie bei großer Dürre Hungers sterben. Der Ausleseprozeß könnte nur dann in Gang kommen, wenn ein Rehpaar einen Sprößling zeugte, der mit dem Maule die Blätter einer Palme erreichte, aber das wäre eine Monstrosität, und auf Monstrositäten kann doch die Entstehung der Arten nicht gegründet werden. Überdies ist es keineswegs gewiß, daß es unter den Nachkommen der überlebenden langhalsigen Individuen einige geben werde, die noch langhalsiger wären als ihre Eltern. Alle zufälligen Verschiedenheiten der Kinder und Enkel bewegen sich innerhalb des Gattungscharakters. Es giebt auch Menschen mit auffällig langen Hälsen. Aber selbst wenn langhalsige Männer viele Geschlechtsfolgen hindurch immer nur langhalsige Frauen heira¬ teten, würde es niemals dahin kommen, daß ein vergeßlicher Professor einen Knoten in seinen Hals knüpfen könnte. Die Kinder der Langhalsigsten würden endlich wieder kürzere Hälse bekommen, und das Geschlecht der Langhalsiger würde den menschlichen Gattungscharakter nicht verlieren. Überdies ist es un¬ begreiflich, warum zufällig angeborne Eigenschaften vererbbarer sein sollten als die erworbnen. Auch jene eingebornen Eigenschaften sind, soweit sie eine Abweichung von den Eltern begründen, erworben, erworben durch Einflüsse, die entweder bei der Zeugung oder während der Schwangerschaft gewirkt haben. Wenn man nicht annimmt, daß sich der Hals einer Wiederkäuerart durch das immerwährende Strecken nach Baumkronen verlängert hat, und daß sich diese Verlängerungen durch Vererbung summirt haben, dann konnten niemals auf dem Wege der Zuchtwahl aus rehartigen Wiederkäuern Giraffen werden. Nimmt man die Vererbung erworbner Langhalsigkeit an, dann be¬ schleunigt selbstverständlich die auslesende Zuchtwahl den Prozeß, da bei jeder Dürre alle kurzhalsigen Individuen zu Grunde gehen und zuletzt gar keine Kurzhalsigkeit mehr vererbt werden kann. Leugnet man dagegen die Vererbung der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften, dann nützt auch die Zuchtwahl nichts. Es giebt dann nur eine Auslese innerhalb jeder Generation, aber nicht eine über die gegenwärtige Generation hinauswirkende; ein Zuchtwahlprozeß kann gar nicht in Gang kommen, und der so verstandne Darwinismus ist zur Erklärung der Entstehung der Arten untauglich. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/538>, abgerufen am 23.07.2024.