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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

den beiden Nachbarglicdern sehr ähnlich ist, noch lange nicht folgt, daß eins
aus dem andern hervorgegangen sein müsse. Endlich haben wir noch einen
dritten Fehler hervorgehoben, den nicht Darwin, sondern Hcickel begeht, indem
er behauptet, es sei Aufgabe der Wissenschaft, zu erklären, wie die Welt ge¬
worden ist, und eine Lehre, die das nicht leiste, verdiene gar nicht den Namen
einer Wissenschaft. Wir behaupten dagegen, daß es keineswegs Aufgabe der
Wissenschaft sei, die Entstehung der Welt zu erklären, daß im Gegenteil der
wissenschaftliche Charakter einer Lehre gefährdet werde, wenn sie sich nicht
auf Aufgaben beschränkt, die innerhalb der Grenzen des dem menschlichen Ver¬
stände erreichbaren liegen. Jeder Welterklärungsversuch überschreitet diese
Grenzen und sührt in das Gebiet des Glaubens und der Phantasie. Solche
Überschreitungen sind durch kein Gesetz der Vernunft oder Moral verboten, sie
sind sogar unvermeidlich, weil sie unabweisbare Herzensbedürfnisse befriedigen,
aber sie richten Unheil an, wenn sie sich für Wissenschaft, sür exakte Wissen¬
schaft ausgeben.

Im Grunde genommen verdienen nur die exakten unter den Naturwissen-
schaften den Namen der Wissenschaft; die übrigen sind nur Sammlungen von inter¬
essantem und vielfach sehr brauchbarem Wissensstoff; exakt aber sind nur die be¬
schreibenden: Mineralogie, Geognosie, Botanik, Zoologie, Geographie, und die
drei, die den Zusammenhang der gegenwärtig vor unsern Augen sich ereignenden
Erscheinungen darlegen: Physik, Chemie, Astronomie. Zwischen der letzten und
den ersten beiden besteht ein merkwürdiger Unterschied. Die atomistische Hypo¬
these wird immer Hypothese bleiben und, so zuverlässig auch die auf sie gestützten
Berechnungen sind, so unentbehrlich sie ist, niemals Gewißheit werden, weil
es eben zum Wesen der angenommnen Atome gehört, daß sie sich der sinn¬
lichen Wahrnehmung entziehen. Dagegen bedarf die Astronomie heute keiner
Hypothese mehr. Ihre beiden Hypothesen: die kopernikanische und die An¬
nahme, daß die Himmelskörper aus irdischen Stoffen bestehen, haben aufgehört,
Hypothesen zu sein. Bei jener handelt es sich nicht um eine Annahme un¬
wahrnehmbarer Dinge, sondern nur um die Stellung und Bewegung deutlich
wahrgenommner Körper im Raume. Sobald die Erfahrung ergeben hatte,
daß sich bei der von Kopernikus angenommnen Stellung und Bewegung der
Gestirne alle ihre zukünftigen Stellungen unfehlbar vorausberechnen lassen,
war die Richtigkeit seiner Annahme jedem Zweifel entrückt.^) Die chemische



") Auch Weismann sucht den Kredit der Darminischen Hypothese dadurch zu erhöhen, daß
er sie mit der Koperuikanischcn auf eine Stufe stellt und von dieser behauptet, sie sei immer
noch eine Hypothese. ("Über die Berechtigung der Darwinischen Theorie," S. 6.) Eine wunder¬
liche Ansicht! Das einzige, was gegen die Annahme der Bewegung der Erde spricht, ist der
Augenschein, und von dem Augenschein weiß jedermann, daß er uns in Beziehung auf die
Bewegung tauscht, wenn wir selbst die Fortbewegten sind, und zwar immer und überall.
Werden wir fortbewegt, so ist es uns schlechthin unmöglich, diese unsre eigne Bewegung wahr-
Grenzbotcn II 1897 66
vom Neudarwinismus

den beiden Nachbarglicdern sehr ähnlich ist, noch lange nicht folgt, daß eins
aus dem andern hervorgegangen sein müsse. Endlich haben wir noch einen
dritten Fehler hervorgehoben, den nicht Darwin, sondern Hcickel begeht, indem
er behauptet, es sei Aufgabe der Wissenschaft, zu erklären, wie die Welt ge¬
worden ist, und eine Lehre, die das nicht leiste, verdiene gar nicht den Namen
einer Wissenschaft. Wir behaupten dagegen, daß es keineswegs Aufgabe der
Wissenschaft sei, die Entstehung der Welt zu erklären, daß im Gegenteil der
wissenschaftliche Charakter einer Lehre gefährdet werde, wenn sie sich nicht
auf Aufgaben beschränkt, die innerhalb der Grenzen des dem menschlichen Ver¬
stände erreichbaren liegen. Jeder Welterklärungsversuch überschreitet diese
Grenzen und sührt in das Gebiet des Glaubens und der Phantasie. Solche
Überschreitungen sind durch kein Gesetz der Vernunft oder Moral verboten, sie
sind sogar unvermeidlich, weil sie unabweisbare Herzensbedürfnisse befriedigen,
aber sie richten Unheil an, wenn sie sich für Wissenschaft, sür exakte Wissen¬
schaft ausgeben.

Im Grunde genommen verdienen nur die exakten unter den Naturwissen-
schaften den Namen der Wissenschaft; die übrigen sind nur Sammlungen von inter¬
essantem und vielfach sehr brauchbarem Wissensstoff; exakt aber sind nur die be¬
schreibenden: Mineralogie, Geognosie, Botanik, Zoologie, Geographie, und die
drei, die den Zusammenhang der gegenwärtig vor unsern Augen sich ereignenden
Erscheinungen darlegen: Physik, Chemie, Astronomie. Zwischen der letzten und
den ersten beiden besteht ein merkwürdiger Unterschied. Die atomistische Hypo¬
these wird immer Hypothese bleiben und, so zuverlässig auch die auf sie gestützten
Berechnungen sind, so unentbehrlich sie ist, niemals Gewißheit werden, weil
es eben zum Wesen der angenommnen Atome gehört, daß sie sich der sinn¬
lichen Wahrnehmung entziehen. Dagegen bedarf die Astronomie heute keiner
Hypothese mehr. Ihre beiden Hypothesen: die kopernikanische und die An¬
nahme, daß die Himmelskörper aus irdischen Stoffen bestehen, haben aufgehört,
Hypothesen zu sein. Bei jener handelt es sich nicht um eine Annahme un¬
wahrnehmbarer Dinge, sondern nur um die Stellung und Bewegung deutlich
wahrgenommner Körper im Raume. Sobald die Erfahrung ergeben hatte,
daß sich bei der von Kopernikus angenommnen Stellung und Bewegung der
Gestirne alle ihre zukünftigen Stellungen unfehlbar vorausberechnen lassen,
war die Richtigkeit seiner Annahme jedem Zweifel entrückt.^) Die chemische



") Auch Weismann sucht den Kredit der Darminischen Hypothese dadurch zu erhöhen, daß
er sie mit der Koperuikanischcn auf eine Stufe stellt und von dieser behauptet, sie sei immer
noch eine Hypothese. („Über die Berechtigung der Darwinischen Theorie," S. 6.) Eine wunder¬
liche Ansicht! Das einzige, was gegen die Annahme der Bewegung der Erde spricht, ist der
Augenschein, und von dem Augenschein weiß jedermann, daß er uns in Beziehung auf die
Bewegung tauscht, wenn wir selbst die Fortbewegten sind, und zwar immer und überall.
Werden wir fortbewegt, so ist es uns schlechthin unmöglich, diese unsre eigne Bewegung wahr-
Grenzbotcn II 1897 66
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[0529] vom Neudarwinismus den beiden Nachbarglicdern sehr ähnlich ist, noch lange nicht folgt, daß eins aus dem andern hervorgegangen sein müsse. Endlich haben wir noch einen dritten Fehler hervorgehoben, den nicht Darwin, sondern Hcickel begeht, indem er behauptet, es sei Aufgabe der Wissenschaft, zu erklären, wie die Welt ge¬ worden ist, und eine Lehre, die das nicht leiste, verdiene gar nicht den Namen einer Wissenschaft. Wir behaupten dagegen, daß es keineswegs Aufgabe der Wissenschaft sei, die Entstehung der Welt zu erklären, daß im Gegenteil der wissenschaftliche Charakter einer Lehre gefährdet werde, wenn sie sich nicht auf Aufgaben beschränkt, die innerhalb der Grenzen des dem menschlichen Ver¬ stände erreichbaren liegen. Jeder Welterklärungsversuch überschreitet diese Grenzen und sührt in das Gebiet des Glaubens und der Phantasie. Solche Überschreitungen sind durch kein Gesetz der Vernunft oder Moral verboten, sie sind sogar unvermeidlich, weil sie unabweisbare Herzensbedürfnisse befriedigen, aber sie richten Unheil an, wenn sie sich für Wissenschaft, sür exakte Wissen¬ schaft ausgeben. Im Grunde genommen verdienen nur die exakten unter den Naturwissen- schaften den Namen der Wissenschaft; die übrigen sind nur Sammlungen von inter¬ essantem und vielfach sehr brauchbarem Wissensstoff; exakt aber sind nur die be¬ schreibenden: Mineralogie, Geognosie, Botanik, Zoologie, Geographie, und die drei, die den Zusammenhang der gegenwärtig vor unsern Augen sich ereignenden Erscheinungen darlegen: Physik, Chemie, Astronomie. Zwischen der letzten und den ersten beiden besteht ein merkwürdiger Unterschied. Die atomistische Hypo¬ these wird immer Hypothese bleiben und, so zuverlässig auch die auf sie gestützten Berechnungen sind, so unentbehrlich sie ist, niemals Gewißheit werden, weil es eben zum Wesen der angenommnen Atome gehört, daß sie sich der sinn¬ lichen Wahrnehmung entziehen. Dagegen bedarf die Astronomie heute keiner Hypothese mehr. Ihre beiden Hypothesen: die kopernikanische und die An¬ nahme, daß die Himmelskörper aus irdischen Stoffen bestehen, haben aufgehört, Hypothesen zu sein. Bei jener handelt es sich nicht um eine Annahme un¬ wahrnehmbarer Dinge, sondern nur um die Stellung und Bewegung deutlich wahrgenommner Körper im Raume. Sobald die Erfahrung ergeben hatte, daß sich bei der von Kopernikus angenommnen Stellung und Bewegung der Gestirne alle ihre zukünftigen Stellungen unfehlbar vorausberechnen lassen, war die Richtigkeit seiner Annahme jedem Zweifel entrückt.^) Die chemische ") Auch Weismann sucht den Kredit der Darminischen Hypothese dadurch zu erhöhen, daß er sie mit der Koperuikanischcn auf eine Stufe stellt und von dieser behauptet, sie sei immer noch eine Hypothese. („Über die Berechtigung der Darwinischen Theorie," S. 6.) Eine wunder¬ liche Ansicht! Das einzige, was gegen die Annahme der Bewegung der Erde spricht, ist der Augenschein, und von dem Augenschein weiß jedermann, daß er uns in Beziehung auf die Bewegung tauscht, wenn wir selbst die Fortbewegten sind, und zwar immer und überall. Werden wir fortbewegt, so ist es uns schlechthin unmöglich, diese unsre eigne Bewegung wahr- Grenzbotcn II 1897 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/529>, abgerufen am 23.07.2024.