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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Auch ihn hatte ein Zug in dieser Überlieferung berührt, und in seinem regen,
scharfen Geiste hatte dann das Wort "Midnstiuder" ein Helles Licht über eine ganze
Reihe von Erscheinungen geworfen. Es reizte ihn etwas in diesem Titelblatt und
in dem Anblick des jungen Mannes, den er schon gestern flüchtig auf der Galerie
gegenüber gesehen hatte, dem hier anfgegangnen Problem nachzugehen, und während
drüben Viktor mit dem Gefühle aufgestanden war, eben jetzt gelinge es mit dem
Anfange gar nicht, er solle ein wenig in die frische Morgenluft und dann neu
angeregt zurückkehren, ergriff der Architekt die Feder und beschrieb ein Blatt mit
dem, was ihm gerade in das helle Licht der Midassnge gerückt war.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Verschiebungen.

Nicht etwa eine Verschiebung im europäischen Konzert
meinen wir. Hier ist alles von Anfang an so verschoben wie bei einem Knäuel
ineinander verfahruer Droschken und Straßenbahnwagen, nur daß einen solchen
Knäuel Kutscher zu lösen bemüht sind, während die europäische" Staatskarren nicht
so glücklich sind, gleich dem Wagen Israels (2. Könige 2, 12) einen Lenker zu
haben und nach dem Gesetz der Trägheit in ihrer Verheddernng dahin treiben,
bis ein untowm'ä event, vielleicht ein Massacre, bei dem grvßmächtliche Gesandten
oder Gesaudtenfrauen umgebracht werden, deu Knäuel lösen wird. Wir meinen
das österreichische Abgeordnetenhaus, wo der Zusammenschluß aller staatserhaltenden
Parteien untereinander und mit dem Kabinett Badeni gleich in der ersten Sitzung
in die Brüche gegangen ist. Der Hecht im Karpfenteich, der Leben in die träge
Masse gebracht hat, der polnische Sozialist Daszynski, ist von Jugend auf ein
Schreckenskind aller Ordnnngsmenschen gewesen. Er wurde 1866 als Sohn eines
adlichen Bezirkskommissars geboren, als sekundärer wegen Geheimbündelei vom
Gymnasium fortgejagt, hat dann ein andres Gymnasium vollends absolvirt, Philo¬
sophie, Rechtswissenschaft und Chemie studirt, diese in Zürich, hat dann in Ru߬
land wegen revolutionärer Umtriebe sieben Monate gesessen und hat sich endlich
seit sieben Jahren der Bauernbewegung in Galizien gewidmet, wo er in siebzehn
von zwanzig politischen Prozessen freigesprochen und in dreien verurteilt worden ist.
Solche Leute sind imstande, den Wurstlern Beine zu machen, und Graf Gleispach
geht auch schon. Wie es offiziell heißt, wegen der für Böhme" und Mähren er¬
lassenen Sprachenverordnung, wie andre Leute verbreiten, weil Badenis Verhand¬
lungen mit den Liberalen ohne Erfolg geblieben seien/') aber der eigentliche Grund
wird wohl der Satz sein, den Lueger bei der Verhandlung über die Freilassung
Szajers dem Grafen ins Gesicht geschleudert hat: "Der Justizminister darf aller¬
dings auf die Richter keinen Einfluß ausüben, wohl aber auf seine Beamten, zu



*) Beides wußte der Justizminister schon vor Eröffnung des Reichstags; was brauchte er
sich, wenn dies der Krund seines Rücktritts war, erst noch einer drohenden Niederlage aus¬
zusetzen?
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Auch ihn hatte ein Zug in dieser Überlieferung berührt, und in seinem regen,
scharfen Geiste hatte dann das Wort „Midnstiuder" ein Helles Licht über eine ganze
Reihe von Erscheinungen geworfen. Es reizte ihn etwas in diesem Titelblatt und
in dem Anblick des jungen Mannes, den er schon gestern flüchtig auf der Galerie
gegenüber gesehen hatte, dem hier anfgegangnen Problem nachzugehen, und während
drüben Viktor mit dem Gefühle aufgestanden war, eben jetzt gelinge es mit dem
Anfange gar nicht, er solle ein wenig in die frische Morgenluft und dann neu
angeregt zurückkehren, ergriff der Architekt die Feder und beschrieb ein Blatt mit
dem, was ihm gerade in das helle Licht der Midassnge gerückt war.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Verschiebungen.

Nicht etwa eine Verschiebung im europäischen Konzert
meinen wir. Hier ist alles von Anfang an so verschoben wie bei einem Knäuel
ineinander verfahruer Droschken und Straßenbahnwagen, nur daß einen solchen
Knäuel Kutscher zu lösen bemüht sind, während die europäische» Staatskarren nicht
so glücklich sind, gleich dem Wagen Israels (2. Könige 2, 12) einen Lenker zu
haben und nach dem Gesetz der Trägheit in ihrer Verheddernng dahin treiben,
bis ein untowm'ä event, vielleicht ein Massacre, bei dem grvßmächtliche Gesandten
oder Gesaudtenfrauen umgebracht werden, deu Knäuel lösen wird. Wir meinen
das österreichische Abgeordnetenhaus, wo der Zusammenschluß aller staatserhaltenden
Parteien untereinander und mit dem Kabinett Badeni gleich in der ersten Sitzung
in die Brüche gegangen ist. Der Hecht im Karpfenteich, der Leben in die träge
Masse gebracht hat, der polnische Sozialist Daszynski, ist von Jugend auf ein
Schreckenskind aller Ordnnngsmenschen gewesen. Er wurde 1866 als Sohn eines
adlichen Bezirkskommissars geboren, als sekundärer wegen Geheimbündelei vom
Gymnasium fortgejagt, hat dann ein andres Gymnasium vollends absolvirt, Philo¬
sophie, Rechtswissenschaft und Chemie studirt, diese in Zürich, hat dann in Ru߬
land wegen revolutionärer Umtriebe sieben Monate gesessen und hat sich endlich
seit sieben Jahren der Bauernbewegung in Galizien gewidmet, wo er in siebzehn
von zwanzig politischen Prozessen freigesprochen und in dreien verurteilt worden ist.
Solche Leute sind imstande, den Wurstlern Beine zu machen, und Graf Gleispach
geht auch schon. Wie es offiziell heißt, wegen der für Böhme» und Mähren er¬
lassenen Sprachenverordnung, wie andre Leute verbreiten, weil Badenis Verhand¬
lungen mit den Liberalen ohne Erfolg geblieben seien/') aber der eigentliche Grund
wird wohl der Satz sein, den Lueger bei der Verhandlung über die Freilassung
Szajers dem Grafen ins Gesicht geschleudert hat: „Der Justizminister darf aller¬
dings auf die Richter keinen Einfluß ausüben, wohl aber auf seine Beamten, zu



*) Beides wußte der Justizminister schon vor Eröffnung des Reichstags; was brauchte er
sich, wenn dies der Krund seines Rücktritts war, erst noch einer drohenden Niederlage aus¬
zusetzen?
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[0052] Maßgebliches und Unmaßgebliches Auch ihn hatte ein Zug in dieser Überlieferung berührt, und in seinem regen, scharfen Geiste hatte dann das Wort „Midnstiuder" ein Helles Licht über eine ganze Reihe von Erscheinungen geworfen. Es reizte ihn etwas in diesem Titelblatt und in dem Anblick des jungen Mannes, den er schon gestern flüchtig auf der Galerie gegenüber gesehen hatte, dem hier anfgegangnen Problem nachzugehen, und während drüben Viktor mit dem Gefühle aufgestanden war, eben jetzt gelinge es mit dem Anfange gar nicht, er solle ein wenig in die frische Morgenluft und dann neu angeregt zurückkehren, ergriff der Architekt die Feder und beschrieb ein Blatt mit dem, was ihm gerade in das helle Licht der Midassnge gerückt war. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Verschiebungen. Nicht etwa eine Verschiebung im europäischen Konzert meinen wir. Hier ist alles von Anfang an so verschoben wie bei einem Knäuel ineinander verfahruer Droschken und Straßenbahnwagen, nur daß einen solchen Knäuel Kutscher zu lösen bemüht sind, während die europäische» Staatskarren nicht so glücklich sind, gleich dem Wagen Israels (2. Könige 2, 12) einen Lenker zu haben und nach dem Gesetz der Trägheit in ihrer Verheddernng dahin treiben, bis ein untowm'ä event, vielleicht ein Massacre, bei dem grvßmächtliche Gesandten oder Gesaudtenfrauen umgebracht werden, deu Knäuel lösen wird. Wir meinen das österreichische Abgeordnetenhaus, wo der Zusammenschluß aller staatserhaltenden Parteien untereinander und mit dem Kabinett Badeni gleich in der ersten Sitzung in die Brüche gegangen ist. Der Hecht im Karpfenteich, der Leben in die träge Masse gebracht hat, der polnische Sozialist Daszynski, ist von Jugend auf ein Schreckenskind aller Ordnnngsmenschen gewesen. Er wurde 1866 als Sohn eines adlichen Bezirkskommissars geboren, als sekundärer wegen Geheimbündelei vom Gymnasium fortgejagt, hat dann ein andres Gymnasium vollends absolvirt, Philo¬ sophie, Rechtswissenschaft und Chemie studirt, diese in Zürich, hat dann in Ru߬ land wegen revolutionärer Umtriebe sieben Monate gesessen und hat sich endlich seit sieben Jahren der Bauernbewegung in Galizien gewidmet, wo er in siebzehn von zwanzig politischen Prozessen freigesprochen und in dreien verurteilt worden ist. Solche Leute sind imstande, den Wurstlern Beine zu machen, und Graf Gleispach geht auch schon. Wie es offiziell heißt, wegen der für Böhme» und Mähren er¬ lassenen Sprachenverordnung, wie andre Leute verbreiten, weil Badenis Verhand¬ lungen mit den Liberalen ohne Erfolg geblieben seien/') aber der eigentliche Grund wird wohl der Satz sein, den Lueger bei der Verhandlung über die Freilassung Szajers dem Grafen ins Gesicht geschleudert hat: „Der Justizminister darf aller¬ dings auf die Richter keinen Einfluß ausüben, wohl aber auf seine Beamten, zu *) Beides wußte der Justizminister schon vor Eröffnung des Reichstags; was brauchte er sich, wenn dies der Krund seines Rücktritts war, erst noch einer drohenden Niederlage aus¬ zusetzen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/52>, abgerufen am 23.07.2024.