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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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planen und Wallonen

von den Laien abhoben, die Ritter, die später auf Frankreich als die Quelle
der feinen Sitte schauten, die Troubadoure, die die kunstmüßigen Lieder der
Provence nach dem Norden verbreiteten, sie alle waren bewußt oder unbewußt
Verbreiter des Romanismus.

Die Mischung zeigt sich auch in der äußern Erscheinung und im Volks¬
charakter. Blonde Wallonen und Nordfranzosen sieht man ebenso häufig, wie
man dunkle Vlamen bemerkt; eine scharfe Grenze giebt es nicht, das Ent¬
scheidende ist schließlich die Sprache. Um von der alten wallonischen Sprache
einen Begriff zu geben, will ich den Anfang der Kantilene auf die heilige
Eulalia, eine christliche Märtyrerin, hersetzen, die zugleich das älteste poetische
Zeugnis der französischen Sprache überhaupt ist.

Man sieht, die Sprache hat noch große Ähnlichkeit mit dem Lateinischen. Jetzt
hat sie sich natürlich weit davon entfernt, sodaß die heutige" Mundarten auch
für den Kenner des Lateinischen und der französischen Schriftsprache schwer zu
verstehen sind.

Zu einer Schriftsprache hat es das Wallonische nicht gebracht; der Ein¬
fluß der französischen Schriftsprache war zu groß. Im Mittelalter bediente
man sich natürlich -- ebenso wie in Frankreich -- des Dialekts und hat darin
einige beachtenswerte Werke (wie die liebliche Novelle ^noassin et Meolotte)
geschaffen. Heute wäre es nicht mehr möglich, eine wallonische Schriftsprache
zu schaffen; man beschränkt sich auf Volkslieder, Kinderreime und einige Theater¬
stücke. Eine 1889 gegründete Loowtö ein I'ollcloro v^Ilon unternimmt es,
alles, was der Volkskunde dienen kann, zu sammeln und herauszugeben.

Der Einfluß Frankreichs, der schon früh begann, hat das Originale bei
den Wallonen zerstört, sodaß sie heute mehr oder weniger von Paris ab¬
hängig sind. Kein großer Dichter hat in der Neuzeit ihren Ruhm verbreitet,
und ihre Schriftsteller verschwinden in der Masse der französischen. Möglichst
parisisch zu sein, der Loliöm<z des Huartigr latin anzugehören ist ihr Stolz.
So zeigt auch die Presse in allem den Pariser Charakter, sie bringt es über
eine Nachahmung der Boulevardpresse nicht hinaus. Die großen Pariser
Blätter sind ihr Orakel, und für deutsche oder vlämische Verhältnisse zeigen
sie kein Verständnis.



") Eine gute Jungfrau war Eulalia: Schönen Körper hatte sie, schönere Seele. Wollten
sie besiege" die Feinde Gottes, wollten sie dem Teufel dienen lassen. Sie hörte nicht auf die
schlechten Ratgeber, daß sie Gott verleugne, der oben im Himmel wohnt.
planen und Wallonen

von den Laien abhoben, die Ritter, die später auf Frankreich als die Quelle
der feinen Sitte schauten, die Troubadoure, die die kunstmüßigen Lieder der
Provence nach dem Norden verbreiteten, sie alle waren bewußt oder unbewußt
Verbreiter des Romanismus.

Die Mischung zeigt sich auch in der äußern Erscheinung und im Volks¬
charakter. Blonde Wallonen und Nordfranzosen sieht man ebenso häufig, wie
man dunkle Vlamen bemerkt; eine scharfe Grenze giebt es nicht, das Ent¬
scheidende ist schließlich die Sprache. Um von der alten wallonischen Sprache
einen Begriff zu geben, will ich den Anfang der Kantilene auf die heilige
Eulalia, eine christliche Märtyrerin, hersetzen, die zugleich das älteste poetische
Zeugnis der französischen Sprache überhaupt ist.

Man sieht, die Sprache hat noch große Ähnlichkeit mit dem Lateinischen. Jetzt
hat sie sich natürlich weit davon entfernt, sodaß die heutige» Mundarten auch
für den Kenner des Lateinischen und der französischen Schriftsprache schwer zu
verstehen sind.

Zu einer Schriftsprache hat es das Wallonische nicht gebracht; der Ein¬
fluß der französischen Schriftsprache war zu groß. Im Mittelalter bediente
man sich natürlich — ebenso wie in Frankreich — des Dialekts und hat darin
einige beachtenswerte Werke (wie die liebliche Novelle ^noassin et Meolotte)
geschaffen. Heute wäre es nicht mehr möglich, eine wallonische Schriftsprache
zu schaffen; man beschränkt sich auf Volkslieder, Kinderreime und einige Theater¬
stücke. Eine 1889 gegründete Loowtö ein I'ollcloro v^Ilon unternimmt es,
alles, was der Volkskunde dienen kann, zu sammeln und herauszugeben.

Der Einfluß Frankreichs, der schon früh begann, hat das Originale bei
den Wallonen zerstört, sodaß sie heute mehr oder weniger von Paris ab¬
hängig sind. Kein großer Dichter hat in der Neuzeit ihren Ruhm verbreitet,
und ihre Schriftsteller verschwinden in der Masse der französischen. Möglichst
parisisch zu sein, der Loliöm<z des Huartigr latin anzugehören ist ihr Stolz.
So zeigt auch die Presse in allem den Pariser Charakter, sie bringt es über
eine Nachahmung der Boulevardpresse nicht hinaus. Die großen Pariser
Blätter sind ihr Orakel, und für deutsche oder vlämische Verhältnisse zeigen
sie kein Verständnis.



") Eine gute Jungfrau war Eulalia: Schönen Körper hatte sie, schönere Seele. Wollten
sie besiege» die Feinde Gottes, wollten sie dem Teufel dienen lassen. Sie hörte nicht auf die
schlechten Ratgeber, daß sie Gott verleugne, der oben im Himmel wohnt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/244>, abgerufen am 23.07.2024.