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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

daß es bei dem unleugbaren und ununterbrochnem Wechsel aller körperlichen
Atome ein beharrendes Ich im lebendigen Menschen, ein den Körper mit
Rückerinnerung seines Lebenslanfs beherrschendes stetiges Selbstbewußtsein giebt.
Wenn sich trotzdem schon geraume Zeit und ohne Würdigung des Widersinnigen
der Lehre unter den Professoren Materialisten von reinstem Wasser befinden,
so ist die Befürchtung gewiß berechtigt, daß im Laufe der Zeit die Volks¬
massen, die noch weniger kritisch angelegt sind als die Professoren, wenigstens
vorübergehend einer Weltanschauung huldigen werden, die volle und aus¬
nahmslose Gerechtigkeit verspricht. Steht doch die Vernunftwidrigkeit von
Weltanschauungen ihrer Verbreitung uuter den Menschen weit weniger im
Wege, als gewöhnlich angenommen wird. Der Drang nach Gerechtigkeit ist
so überwältigend, daß selbst ein so einsichtiger Mann wie Wilhelm Jorda"
dem Wahn Ausdruck giebt, in jedem lebenden Wesen gleiche sich die Summe
von Freud und Leid im Laufe seines irdischen Daseins aus. So ist wohl
auch die abenteuerliche Idee der Seelenwanderung hauptsächlich dem Bedürfnis
entsprungen, zwischen Sittlichkeit und irdischer Glückseligkeit ein gerechtes Ver¬
hältnis herzustellen. Im Buddhismus hat jeder Einzelne sein Glück auf eine
gute, sein Mißgeschick auf eine böse That in seinem zeitigen oder frühern Leben
zurückzuführen. Gerade aber deshalb, weil die Auschanung einer mechanischen
Weltordnung dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen Genüge leistet, muß ihr
so eindringlich als möglich entgegengetreten werden. Um den Preis der
Willensfreiheit darf kein lebensfähiges Volk die Gerechtigkeit erkaufen wollen.
Mit Begeisterung verteidigen die Gelehrten die Willensnnfreiheit, mit Hohn
sprechen sie von dem elenden Haufen, der sich für seine Handlungen verant¬
wortlich hält. Wie können aber die Herren bei ihren Anschauungen der eiteln
Selbsttäuschung verfallen, sich für eine Meinung zu begeistern, die ihnen mit
Naturnotwendigkeit aufgedrängt war? wie können sie andre Leute wegen eines
Irrtums verspotten, den diese mit Notwendigkeit für Wahrheit halten mußten?
Wie können die Herren überhaupt von einer gute" oder bösen That sprechen,
wenn jede Handlung dem unfreien Willen entspringt und naturnotwendig ist?
In dem willensnnfreien Menschen giebt es kein Streben, sondern nur Triebe.
In einer materialistischen Weltanschauung, die das Ich in Atome auflöst, giebt
es keinen Tod, aber mich kein Leben, sondern nnr maschinenartiges Triebwerk.
Nur das über die Anffassnngsfähigkeit des Verstandes hinausgehende Wunder
der Willensfreiheit, die selbstschöpferische freie That ermöglicht die Unter¬
scheidung zwischen Bösem und Gutem, ermöglicht die Sünde. Eine tiefsinnige
Überlieferung erzählt, daß es dem Menschen, um ihn vor Sünde zu bewahren,
verboten gewesen sei, von dem Baum der Erkenntnis zu essen. Nachdem er
aber einmal davon gegessen hat, kann ihm eine gleißnerische Dialektik zwar
die Erkenntnis absprechen, aber das Paradies wird sie ihm nicht wiedergebe".

Einseitiges Denken hat alles Unerklärbare des tierischen Instinkts weg-


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

daß es bei dem unleugbaren und ununterbrochnem Wechsel aller körperlichen
Atome ein beharrendes Ich im lebendigen Menschen, ein den Körper mit
Rückerinnerung seines Lebenslanfs beherrschendes stetiges Selbstbewußtsein giebt.
Wenn sich trotzdem schon geraume Zeit und ohne Würdigung des Widersinnigen
der Lehre unter den Professoren Materialisten von reinstem Wasser befinden,
so ist die Befürchtung gewiß berechtigt, daß im Laufe der Zeit die Volks¬
massen, die noch weniger kritisch angelegt sind als die Professoren, wenigstens
vorübergehend einer Weltanschauung huldigen werden, die volle und aus¬
nahmslose Gerechtigkeit verspricht. Steht doch die Vernunftwidrigkeit von
Weltanschauungen ihrer Verbreitung uuter den Menschen weit weniger im
Wege, als gewöhnlich angenommen wird. Der Drang nach Gerechtigkeit ist
so überwältigend, daß selbst ein so einsichtiger Mann wie Wilhelm Jorda»
dem Wahn Ausdruck giebt, in jedem lebenden Wesen gleiche sich die Summe
von Freud und Leid im Laufe seines irdischen Daseins aus. So ist wohl
auch die abenteuerliche Idee der Seelenwanderung hauptsächlich dem Bedürfnis
entsprungen, zwischen Sittlichkeit und irdischer Glückseligkeit ein gerechtes Ver¬
hältnis herzustellen. Im Buddhismus hat jeder Einzelne sein Glück auf eine
gute, sein Mißgeschick auf eine böse That in seinem zeitigen oder frühern Leben
zurückzuführen. Gerade aber deshalb, weil die Auschanung einer mechanischen
Weltordnung dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen Genüge leistet, muß ihr
so eindringlich als möglich entgegengetreten werden. Um den Preis der
Willensfreiheit darf kein lebensfähiges Volk die Gerechtigkeit erkaufen wollen.
Mit Begeisterung verteidigen die Gelehrten die Willensnnfreiheit, mit Hohn
sprechen sie von dem elenden Haufen, der sich für seine Handlungen verant¬
wortlich hält. Wie können aber die Herren bei ihren Anschauungen der eiteln
Selbsttäuschung verfallen, sich für eine Meinung zu begeistern, die ihnen mit
Naturnotwendigkeit aufgedrängt war? wie können sie andre Leute wegen eines
Irrtums verspotten, den diese mit Notwendigkeit für Wahrheit halten mußten?
Wie können die Herren überhaupt von einer gute» oder bösen That sprechen,
wenn jede Handlung dem unfreien Willen entspringt und naturnotwendig ist?
In dem willensnnfreien Menschen giebt es kein Streben, sondern nur Triebe.
In einer materialistischen Weltanschauung, die das Ich in Atome auflöst, giebt
es keinen Tod, aber mich kein Leben, sondern nnr maschinenartiges Triebwerk.
Nur das über die Anffassnngsfähigkeit des Verstandes hinausgehende Wunder
der Willensfreiheit, die selbstschöpferische freie That ermöglicht die Unter¬
scheidung zwischen Bösem und Gutem, ermöglicht die Sünde. Eine tiefsinnige
Überlieferung erzählt, daß es dem Menschen, um ihn vor Sünde zu bewahren,
verboten gewesen sei, von dem Baum der Erkenntnis zu essen. Nachdem er
aber einmal davon gegessen hat, kann ihm eine gleißnerische Dialektik zwar
die Erkenntnis absprechen, aber das Paradies wird sie ihm nicht wiedergebe».

Einseitiges Denken hat alles Unerklärbare des tierischen Instinkts weg-


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[0227] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg daß es bei dem unleugbaren und ununterbrochnem Wechsel aller körperlichen Atome ein beharrendes Ich im lebendigen Menschen, ein den Körper mit Rückerinnerung seines Lebenslanfs beherrschendes stetiges Selbstbewußtsein giebt. Wenn sich trotzdem schon geraume Zeit und ohne Würdigung des Widersinnigen der Lehre unter den Professoren Materialisten von reinstem Wasser befinden, so ist die Befürchtung gewiß berechtigt, daß im Laufe der Zeit die Volks¬ massen, die noch weniger kritisch angelegt sind als die Professoren, wenigstens vorübergehend einer Weltanschauung huldigen werden, die volle und aus¬ nahmslose Gerechtigkeit verspricht. Steht doch die Vernunftwidrigkeit von Weltanschauungen ihrer Verbreitung uuter den Menschen weit weniger im Wege, als gewöhnlich angenommen wird. Der Drang nach Gerechtigkeit ist so überwältigend, daß selbst ein so einsichtiger Mann wie Wilhelm Jorda» dem Wahn Ausdruck giebt, in jedem lebenden Wesen gleiche sich die Summe von Freud und Leid im Laufe seines irdischen Daseins aus. So ist wohl auch die abenteuerliche Idee der Seelenwanderung hauptsächlich dem Bedürfnis entsprungen, zwischen Sittlichkeit und irdischer Glückseligkeit ein gerechtes Ver¬ hältnis herzustellen. Im Buddhismus hat jeder Einzelne sein Glück auf eine gute, sein Mißgeschick auf eine böse That in seinem zeitigen oder frühern Leben zurückzuführen. Gerade aber deshalb, weil die Auschanung einer mechanischen Weltordnung dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen Genüge leistet, muß ihr so eindringlich als möglich entgegengetreten werden. Um den Preis der Willensfreiheit darf kein lebensfähiges Volk die Gerechtigkeit erkaufen wollen. Mit Begeisterung verteidigen die Gelehrten die Willensnnfreiheit, mit Hohn sprechen sie von dem elenden Haufen, der sich für seine Handlungen verant¬ wortlich hält. Wie können aber die Herren bei ihren Anschauungen der eiteln Selbsttäuschung verfallen, sich für eine Meinung zu begeistern, die ihnen mit Naturnotwendigkeit aufgedrängt war? wie können sie andre Leute wegen eines Irrtums verspotten, den diese mit Notwendigkeit für Wahrheit halten mußten? Wie können die Herren überhaupt von einer gute» oder bösen That sprechen, wenn jede Handlung dem unfreien Willen entspringt und naturnotwendig ist? In dem willensnnfreien Menschen giebt es kein Streben, sondern nur Triebe. In einer materialistischen Weltanschauung, die das Ich in Atome auflöst, giebt es keinen Tod, aber mich kein Leben, sondern nnr maschinenartiges Triebwerk. Nur das über die Anffassnngsfähigkeit des Verstandes hinausgehende Wunder der Willensfreiheit, die selbstschöpferische freie That ermöglicht die Unter¬ scheidung zwischen Bösem und Gutem, ermöglicht die Sünde. Eine tiefsinnige Überlieferung erzählt, daß es dem Menschen, um ihn vor Sünde zu bewahren, verboten gewesen sei, von dem Baum der Erkenntnis zu essen. Nachdem er aber einmal davon gegessen hat, kann ihm eine gleißnerische Dialektik zwar die Erkenntnis absprechen, aber das Paradies wird sie ihm nicht wiedergebe». Einseitiges Denken hat alles Unerklärbare des tierischen Instinkts weg-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/227>, abgerufen am 23.07.2024.