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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

die Außenwelt abgeben und von dieser andre Teile empfangen, wird in dem
ewigen Lauf der Zeiten auch jedes eiuzelue Atom zu einem gleichen Maß der
Empfindung von Freude und Leid berufen sein müssen. Bei dem Zufallspiel
des Roulettes kann in einem größern Zeitraum die schwarze Farbe nicht öfter
gewinnen als die rote. In demselben Gleichmaß bewegen sich die Atome, die
heute freudig erregt in der Brust eines siegreichen Königs schlagen und in
wenigen Jahren die Qualen eines elenden Bettlers teilen, heute die glän¬
zende Schönheit eines triumphirenden Weibes bilden und mit der Zeit den
ekelhaften Aussatz eines armen, siechen Leibes darstellen.


Der große Cäsar tot und Lehm geworden
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.

Der große Cäsar selbst, nicht nur sein Leib. Auch die Atome, die einst
Shakespeare beseelten, sind nicht allein für den Pulsschlag großer Dichter
und Denker bestimmt; erstehen sie aus dem Staube zu neuem Leben, so mag
man sie in dem Fittich des Adlers, in den Blättern des Lorbeers oder in dem
Wurme, der zum Köder für Fische dient, suchen.

Der Materialismus kennt keinen für sein Wollen und Handeln verant¬
wortlichen Menschen, also auch keine menschliche Sittlichkeit, wohl aber eine
vollkommen gerechte Weltordnung. Die "schwarzen und die heitern Lose"
sind nach ihm unter allen lebende" Wesen unverschuldet und unverdient ver¬
teilt und treffen im Laufe der Zeiten jedes gleichmäßig. Ohne Hinweis auf
ein besseres Jenseits ruft er anschaulich und beredt: Die ewige Gerechtigkeit
ist verbürgt, die Atome, die Leid tragen, gehen einer glücklichen Zukunft ent¬
gegen, und die Atome der glückgehärteten Herzen werden des Lebens Leiden zu
fühlen haben. Die mechanische Weltordnung ist weder gut uoch böse, weder
erhaben noch niedrig, sie ist einfach unwahr. Der Homunkulus in der Re¬
torte ist noch nicht hergestellt, wir können keine einzige Tier- oder Pflanzenzelle
bilden, noch niemals ist es gelungen, so sehr wir auch jedes Stoffgefüge zer¬
setzen und in seiner Zusammenfügung verändern können, eine Materie mit der
Eigenschaft des Denkens zu organisiren. Das allein schon sollte eigentlich den
Naturforscher stören, am Materialismus festzuhalten. Ehe Du Bois-Reymond
sein berühmtes: "Wir wissen nicht und werden nicht wissen" aussprach, hat
er seinen materialistischen Standpunkt mit der wie ein übler Scherz klingenden
Redewendung retten wollen, daß die Naturforscher ebenso gut Zellen bauen
könnten, wie die Natur, denn die Natur ließe sie wachsen, und der Natur¬
forscher ließe sie auch wachsen. Das sind Worte, die nicht erklären, sondern
verwirren. Die Natur schafft durch ihre eignen geheimnisvollen Kräfte, sie
läßt nicht wachsen, sondern wächst und der Mensch wiederum kann nicht selbst
schaffen, sondern nur die Natur schaffen lassen. Der grundsätzliche Materia¬
lismus wird auch niemals eine zulängliche Erklärung für die Erscheinung finden,


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

die Außenwelt abgeben und von dieser andre Teile empfangen, wird in dem
ewigen Lauf der Zeiten auch jedes eiuzelue Atom zu einem gleichen Maß der
Empfindung von Freude und Leid berufen sein müssen. Bei dem Zufallspiel
des Roulettes kann in einem größern Zeitraum die schwarze Farbe nicht öfter
gewinnen als die rote. In demselben Gleichmaß bewegen sich die Atome, die
heute freudig erregt in der Brust eines siegreichen Königs schlagen und in
wenigen Jahren die Qualen eines elenden Bettlers teilen, heute die glän¬
zende Schönheit eines triumphirenden Weibes bilden und mit der Zeit den
ekelhaften Aussatz eines armen, siechen Leibes darstellen.


Der große Cäsar tot und Lehm geworden
Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.

Der große Cäsar selbst, nicht nur sein Leib. Auch die Atome, die einst
Shakespeare beseelten, sind nicht allein für den Pulsschlag großer Dichter
und Denker bestimmt; erstehen sie aus dem Staube zu neuem Leben, so mag
man sie in dem Fittich des Adlers, in den Blättern des Lorbeers oder in dem
Wurme, der zum Köder für Fische dient, suchen.

Der Materialismus kennt keinen für sein Wollen und Handeln verant¬
wortlichen Menschen, also auch keine menschliche Sittlichkeit, wohl aber eine
vollkommen gerechte Weltordnung. Die „schwarzen und die heitern Lose"
sind nach ihm unter allen lebende« Wesen unverschuldet und unverdient ver¬
teilt und treffen im Laufe der Zeiten jedes gleichmäßig. Ohne Hinweis auf
ein besseres Jenseits ruft er anschaulich und beredt: Die ewige Gerechtigkeit
ist verbürgt, die Atome, die Leid tragen, gehen einer glücklichen Zukunft ent¬
gegen, und die Atome der glückgehärteten Herzen werden des Lebens Leiden zu
fühlen haben. Die mechanische Weltordnung ist weder gut uoch böse, weder
erhaben noch niedrig, sie ist einfach unwahr. Der Homunkulus in der Re¬
torte ist noch nicht hergestellt, wir können keine einzige Tier- oder Pflanzenzelle
bilden, noch niemals ist es gelungen, so sehr wir auch jedes Stoffgefüge zer¬
setzen und in seiner Zusammenfügung verändern können, eine Materie mit der
Eigenschaft des Denkens zu organisiren. Das allein schon sollte eigentlich den
Naturforscher stören, am Materialismus festzuhalten. Ehe Du Bois-Reymond
sein berühmtes: „Wir wissen nicht und werden nicht wissen" aussprach, hat
er seinen materialistischen Standpunkt mit der wie ein übler Scherz klingenden
Redewendung retten wollen, daß die Naturforscher ebenso gut Zellen bauen
könnten, wie die Natur, denn die Natur ließe sie wachsen, und der Natur¬
forscher ließe sie auch wachsen. Das sind Worte, die nicht erklären, sondern
verwirren. Die Natur schafft durch ihre eignen geheimnisvollen Kräfte, sie
läßt nicht wachsen, sondern wächst und der Mensch wiederum kann nicht selbst
schaffen, sondern nur die Natur schaffen lassen. Der grundsätzliche Materia¬
lismus wird auch niemals eine zulängliche Erklärung für die Erscheinung finden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/226>, abgerufen am 23.07.2024.