Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

mit dem unangenehm übermächtigen Deutschland käme, nicht bloß papierne
Schuhsohlen, feuchte Patronen und nicht explodirende Granaten senden, nein,
es würde wirklich seine Kanalslotte mobil machen und in der Nähe vou Kiel
kreuzen lassen. Das war doch nicht zu verachten! Darüber, über den Vogesen,
über der verletzenden Rücksichtslosigkeit, mit der Freund Rußland auf Frankreichs
wahre Interessen hinwies, über den geschickt aufgeputzten Brocken, die ihm
England hinwarf, vergißt Frankreich sein erstes und größtes Interesse: die Be¬
herrschung des Mittelmeers. Es braucht einen Blücher, der ihm sagt:


Wo steht der Feind? -- Der Feind? dahier, --
Den Finger drauf, den schlagen wir.

Der Feind steht aber in Ägypten und auf Kreta, nicht hinter den Vogesen.

Deutschland kann in seinem eignen Interesse nur auf Rußlands Seite sein.
Seitdem England mit komischem Staunen herausgefunden hat, daß es unsre
Politik nicht sür sich "eingesponnen" hat, ist es sehr zornig geworden, und
da dergleichen Gemütsstimmungen leicht alle Klugheit vergessen machen, hat
es seine Karten uns gegenüber mit etwas brutaler Deutlichkeit aufgedeckt.
Wir spielen jedoch ruhig weiter, denn wir wissen, daß unsre und der andern
Gegenspieler Karten stark genug sind, seiner Weltmachtspolitik ein Halt zu
gebieten. Ein solches Halt kann aber dem gührenden Reiche verhängnisvoll
werden.

So erscheint dem Laienauge von Kreta aus, von den Höhen, die die
Sudabai umziehen, als der Kernpunkt der ganzen orientalischen Frage die
großartige, kühne und gefährliche Politik Englands, das nicht nur um den
Weg nach Indien, sondern um seine Existenz kämpft. Die "Ohnmacht- der
Mächte" aber ist eine Zeitnngsphrcise, die keinen Laien irre machen sollte.




Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von4
(Schluß)

er intelligible Charakter ist wie "das Ding an sich" ein wesen¬
loser Schein, ein Nichts, mit dem nichts anzufangen ist. Was
nützt es auch, wenn wir weder in unsern Handlungen, noch in
unserm empirischen Charakter frei sind, auf einen "Charakter
an sich" zurückzugehen, der frei sein soll? Es ist nicht nötig,
eigentlich nicht einmal zulässig, mit dem außerhalb der Erfahrung liegenden


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

mit dem unangenehm übermächtigen Deutschland käme, nicht bloß papierne
Schuhsohlen, feuchte Patronen und nicht explodirende Granaten senden, nein,
es würde wirklich seine Kanalslotte mobil machen und in der Nähe vou Kiel
kreuzen lassen. Das war doch nicht zu verachten! Darüber, über den Vogesen,
über der verletzenden Rücksichtslosigkeit, mit der Freund Rußland auf Frankreichs
wahre Interessen hinwies, über den geschickt aufgeputzten Brocken, die ihm
England hinwarf, vergißt Frankreich sein erstes und größtes Interesse: die Be¬
herrschung des Mittelmeers. Es braucht einen Blücher, der ihm sagt:


Wo steht der Feind? — Der Feind? dahier, —
Den Finger drauf, den schlagen wir.

Der Feind steht aber in Ägypten und auf Kreta, nicht hinter den Vogesen.

Deutschland kann in seinem eignen Interesse nur auf Rußlands Seite sein.
Seitdem England mit komischem Staunen herausgefunden hat, daß es unsre
Politik nicht sür sich „eingesponnen" hat, ist es sehr zornig geworden, und
da dergleichen Gemütsstimmungen leicht alle Klugheit vergessen machen, hat
es seine Karten uns gegenüber mit etwas brutaler Deutlichkeit aufgedeckt.
Wir spielen jedoch ruhig weiter, denn wir wissen, daß unsre und der andern
Gegenspieler Karten stark genug sind, seiner Weltmachtspolitik ein Halt zu
gebieten. Ein solches Halt kann aber dem gührenden Reiche verhängnisvoll
werden.

So erscheint dem Laienauge von Kreta aus, von den Höhen, die die
Sudabai umziehen, als der Kernpunkt der ganzen orientalischen Frage die
großartige, kühne und gefährliche Politik Englands, das nicht nur um den
Weg nach Indien, sondern um seine Existenz kämpft. Die „Ohnmacht- der
Mächte" aber ist eine Zeitnngsphrcise, die keinen Laien irre machen sollte.




Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von4
(Schluß)

er intelligible Charakter ist wie „das Ding an sich" ein wesen¬
loser Schein, ein Nichts, mit dem nichts anzufangen ist. Was
nützt es auch, wenn wir weder in unsern Handlungen, noch in
unserm empirischen Charakter frei sind, auf einen „Charakter
an sich" zurückzugehen, der frei sein soll? Es ist nicht nötig,
eigentlich nicht einmal zulässig, mit dem außerhalb der Erfahrung liegenden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225151"/>
          <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_735" prev="#ID_734"> mit dem unangenehm übermächtigen Deutschland käme, nicht bloß papierne<lb/>
Schuhsohlen, feuchte Patronen und nicht explodirende Granaten senden, nein,<lb/>
es würde wirklich seine Kanalslotte mobil machen und in der Nähe vou Kiel<lb/>
kreuzen lassen. Das war doch nicht zu verachten! Darüber, über den Vogesen,<lb/>
über der verletzenden Rücksichtslosigkeit, mit der Freund Rußland auf Frankreichs<lb/>
wahre Interessen hinwies, über den geschickt aufgeputzten Brocken, die ihm<lb/>
England hinwarf, vergißt Frankreich sein erstes und größtes Interesse: die Be¬<lb/>
herrschung des Mittelmeers.  Es braucht einen Blücher, der ihm sagt:</p><lb/>
          <quote> Wo steht der Feind? &#x2014; Der Feind? dahier, &#x2014;<lb/>
Den Finger drauf, den schlagen wir.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_736"> Der Feind steht aber in Ägypten und auf Kreta, nicht hinter den Vogesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Deutschland kann in seinem eignen Interesse nur auf Rußlands Seite sein.<lb/>
Seitdem England mit komischem Staunen herausgefunden hat, daß es unsre<lb/>
Politik nicht sür sich &#x201E;eingesponnen" hat, ist es sehr zornig geworden, und<lb/>
da dergleichen Gemütsstimmungen leicht alle Klugheit vergessen machen, hat<lb/>
es seine Karten uns gegenüber mit etwas brutaler Deutlichkeit aufgedeckt.<lb/>
Wir spielen jedoch ruhig weiter, denn wir wissen, daß unsre und der andern<lb/>
Gegenspieler Karten stark genug sind, seiner Weltmachtspolitik ein Halt zu<lb/>
gebieten. Ein solches Halt kann aber dem gührenden Reiche verhängnisvoll<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738"> So erscheint dem Laienauge von Kreta aus, von den Höhen, die die<lb/>
Sudabai umziehen, als der Kernpunkt der ganzen orientalischen Frage die<lb/>
großartige, kühne und gefährliche Politik Englands, das nicht nur um den<lb/>
Weg nach Indien, sondern um seine Existenz kämpft. Die &#x201E;Ohnmacht- der<lb/>
Mächte" aber ist eine Zeitnngsphrcise, die keinen Laien irre machen sollte.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg<lb/><note type="byline"> Richard Goldschmidt</note> von4<lb/>
(Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_739" next="#ID_740"> er intelligible Charakter ist wie &#x201E;das Ding an sich" ein wesen¬<lb/>
loser Schein, ein Nichts, mit dem nichts anzufangen ist. Was<lb/>
nützt es auch, wenn wir weder in unsern Handlungen, noch in<lb/>
unserm empirischen Charakter frei sind, auf einen &#x201E;Charakter<lb/>
an sich" zurückzugehen, der frei sein soll? Es ist nicht nötig,<lb/>
eigentlich nicht einmal zulässig, mit dem außerhalb der Erfahrung liegenden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg mit dem unangenehm übermächtigen Deutschland käme, nicht bloß papierne Schuhsohlen, feuchte Patronen und nicht explodirende Granaten senden, nein, es würde wirklich seine Kanalslotte mobil machen und in der Nähe vou Kiel kreuzen lassen. Das war doch nicht zu verachten! Darüber, über den Vogesen, über der verletzenden Rücksichtslosigkeit, mit der Freund Rußland auf Frankreichs wahre Interessen hinwies, über den geschickt aufgeputzten Brocken, die ihm England hinwarf, vergißt Frankreich sein erstes und größtes Interesse: die Be¬ herrschung des Mittelmeers. Es braucht einen Blücher, der ihm sagt: Wo steht der Feind? — Der Feind? dahier, — Den Finger drauf, den schlagen wir. Der Feind steht aber in Ägypten und auf Kreta, nicht hinter den Vogesen. Deutschland kann in seinem eignen Interesse nur auf Rußlands Seite sein. Seitdem England mit komischem Staunen herausgefunden hat, daß es unsre Politik nicht sür sich „eingesponnen" hat, ist es sehr zornig geworden, und da dergleichen Gemütsstimmungen leicht alle Klugheit vergessen machen, hat es seine Karten uns gegenüber mit etwas brutaler Deutlichkeit aufgedeckt. Wir spielen jedoch ruhig weiter, denn wir wissen, daß unsre und der andern Gegenspieler Karten stark genug sind, seiner Weltmachtspolitik ein Halt zu gebieten. Ein solches Halt kann aber dem gührenden Reiche verhängnisvoll werden. So erscheint dem Laienauge von Kreta aus, von den Höhen, die die Sudabai umziehen, als der Kernpunkt der ganzen orientalischen Frage die großartige, kühne und gefährliche Politik Englands, das nicht nur um den Weg nach Indien, sondern um seine Existenz kämpft. Die „Ohnmacht- der Mächte" aber ist eine Zeitnngsphrcise, die keinen Laien irre machen sollte. Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Richard Goldschmidt von4 (Schluß) er intelligible Charakter ist wie „das Ding an sich" ein wesen¬ loser Schein, ein Nichts, mit dem nichts anzufangen ist. Was nützt es auch, wenn wir weder in unsern Handlungen, noch in unserm empirischen Charakter frei sind, auf einen „Charakter an sich" zurückzugehen, der frei sein soll? Es ist nicht nötig, eigentlich nicht einmal zulässig, mit dem außerhalb der Erfahrung liegenden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/223>, abgerufen am 23.07.2024.