Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg intelligibeln Charakter irgendeine Vorstellung zu verbinden. Das kayn aber Auf dem letzten kriminalanthrvpologischen Kongreß in Genf Ende Sep¬ Nach der mechanischen Weltanschauung giebt es keine Strafe, die ver¬ Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg intelligibeln Charakter irgendeine Vorstellung zu verbinden. Das kayn aber Auf dem letzten kriminalanthrvpologischen Kongreß in Genf Ende Sep¬ Nach der mechanischen Weltanschauung giebt es keine Strafe, die ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225152"/> <fw type="header" place="top"> Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg</fw><lb/> <p xml:id="ID_740" prev="#ID_739"> intelligibeln Charakter irgendeine Vorstellung zu verbinden. Das kayn aber<lb/> nicht befriedigen, solche völlige Anschauungslosigkeit ist noch viel unver¬<lb/> ständlicher als eine logisch unerklärliche unmittelbare Anschauung. Schopen¬<lb/> hauer hat deshalb auch den intelligibeln Charakter zu verdeutlichen gesucht.<lb/> Nach ihm ist der Verbrecher durch den „empirischen Charakter" berechenbar<lb/> und deshalb für seine That nicht verantwortlich; aber dafür soll er verant¬<lb/> wortlich sein, daß sich sein empirischer Charakter zu einem verbrecherischen<lb/> entwickelt hat, da er ihn bei der Freiheit seines intelligibeln Charakters anders<lb/> hätte gestalten können. Bei dieser Theorie wird man zu der Frage gedrängt,<lb/> ob denn der intelligible Charakter angeboren oder eine freie Willensthat des<lb/> Menschen sei. Verantwortlich kann man doch für seinen intelligibeln Charakter<lb/> nur dann sein, wenn er, der den empirischen Charakter bestimmt, wenigstens<lb/> selbst auf einer freien Willensthat beruht. Deshalb bekennt sich auch Schopen¬<lb/> hauer zu der Lehre, daß der intelligible Charakter sich selbst bestimme, und<lb/> nennt ihn c-MSÄ sui. Schopenhauer ist dadurch mit andern Worten und unter<lb/> Verschleierungen zu dem Problem zurückgekehrt, von dem der gesunde Menschen¬<lb/> verstand von Anfang an ausgeht. Merkwürdig und unbegreiflich bleibt dabei<lb/> noch immer, daß wir auf unsern empirischen Charakter nur, wie er sich ent¬<lb/> wickelt hat, nicht aber wie er sich immerfort weiter entwickelt und sich im<lb/> Einzelfalle erweist, einen zurechenbarcn Einfluß haben sollen. Von der un¬<lb/> mittelbaren Anschauung der Willensfreiheit kann sich, ohne mit sich selbst in<lb/> Widerspruch zu geraten, nur die mechanische Weltanschauung des Materialismus<lb/> losmachen.</p><lb/> <p xml:id="ID_741"> Auf dem letzten kriminalanthrvpologischen Kongreß in Genf Ende Sep¬<lb/> tember 1896 wurde denn auch mit Begeisterung die Lehre verfochten, die<lb/> den Verbrecher als unglückliches, krankes Geschöpf hinstellt, das durch Zu¬<lb/> sammenwirken seiner angebornen Veranlagung und bedauerlicher äußerer Ver¬<lb/> hältnisse mit Naturnotwendigkeit in die Bahn des Lasters gedrängt worden ist.<lb/> Denen, die wenigstens ein bescheidnes Maß der Verantwortlichkeit des Ver¬<lb/> brechers erhalten wissen wollten, wurde mit großem Geschick entgegnet, daß<lb/> die Menschheit früher anch die Irren, als vom Teufel besessen, grausam be¬<lb/> handelt habe, die unentwickelte Menschheit fühle eben eine Befriedigung darin,<lb/> jedes Unglück auf ein Verschulden zurückzuführen, während es dem menschlichen<lb/> Fortschritt vorbehalten sei, in jeder anscheinenden Verschuldung die unglückliche<lb/> Handlung eines des Mitleids würdigen Thäters zu finden.</p><lb/> <p xml:id="ID_742" next="#ID_743"> Nach der mechanischen Weltanschauung giebt es keine Strafe, die ver¬<lb/> schuldet, keine Wohlthat, die verdient ist. Jede That, jede Unterlassung er¬<lb/> scheint ihr notwendig wie das Schicksal, gleichsam wie das Verhängnis der<lb/> Alten, dem sich auch die Götter fügen mußten. Das Fatum, das über den<lb/> Göttern schwebte, soll den Menschen bei jeder einzelnen Handlung leiten. Da<lb/> giebt es nichts zu loben, nichts zu tadeln, jedes Wollen und Thun ist und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0224]
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
intelligibeln Charakter irgendeine Vorstellung zu verbinden. Das kayn aber
nicht befriedigen, solche völlige Anschauungslosigkeit ist noch viel unver¬
ständlicher als eine logisch unerklärliche unmittelbare Anschauung. Schopen¬
hauer hat deshalb auch den intelligibeln Charakter zu verdeutlichen gesucht.
Nach ihm ist der Verbrecher durch den „empirischen Charakter" berechenbar
und deshalb für seine That nicht verantwortlich; aber dafür soll er verant¬
wortlich sein, daß sich sein empirischer Charakter zu einem verbrecherischen
entwickelt hat, da er ihn bei der Freiheit seines intelligibeln Charakters anders
hätte gestalten können. Bei dieser Theorie wird man zu der Frage gedrängt,
ob denn der intelligible Charakter angeboren oder eine freie Willensthat des
Menschen sei. Verantwortlich kann man doch für seinen intelligibeln Charakter
nur dann sein, wenn er, der den empirischen Charakter bestimmt, wenigstens
selbst auf einer freien Willensthat beruht. Deshalb bekennt sich auch Schopen¬
hauer zu der Lehre, daß der intelligible Charakter sich selbst bestimme, und
nennt ihn c-MSÄ sui. Schopenhauer ist dadurch mit andern Worten und unter
Verschleierungen zu dem Problem zurückgekehrt, von dem der gesunde Menschen¬
verstand von Anfang an ausgeht. Merkwürdig und unbegreiflich bleibt dabei
noch immer, daß wir auf unsern empirischen Charakter nur, wie er sich ent¬
wickelt hat, nicht aber wie er sich immerfort weiter entwickelt und sich im
Einzelfalle erweist, einen zurechenbarcn Einfluß haben sollen. Von der un¬
mittelbaren Anschauung der Willensfreiheit kann sich, ohne mit sich selbst in
Widerspruch zu geraten, nur die mechanische Weltanschauung des Materialismus
losmachen.
Auf dem letzten kriminalanthrvpologischen Kongreß in Genf Ende Sep¬
tember 1896 wurde denn auch mit Begeisterung die Lehre verfochten, die
den Verbrecher als unglückliches, krankes Geschöpf hinstellt, das durch Zu¬
sammenwirken seiner angebornen Veranlagung und bedauerlicher äußerer Ver¬
hältnisse mit Naturnotwendigkeit in die Bahn des Lasters gedrängt worden ist.
Denen, die wenigstens ein bescheidnes Maß der Verantwortlichkeit des Ver¬
brechers erhalten wissen wollten, wurde mit großem Geschick entgegnet, daß
die Menschheit früher anch die Irren, als vom Teufel besessen, grausam be¬
handelt habe, die unentwickelte Menschheit fühle eben eine Befriedigung darin,
jedes Unglück auf ein Verschulden zurückzuführen, während es dem menschlichen
Fortschritt vorbehalten sei, in jeder anscheinenden Verschuldung die unglückliche
Handlung eines des Mitleids würdigen Thäters zu finden.
Nach der mechanischen Weltanschauung giebt es keine Strafe, die ver¬
schuldet, keine Wohlthat, die verdient ist. Jede That, jede Unterlassung er¬
scheint ihr notwendig wie das Schicksal, gleichsam wie das Verhängnis der
Alten, dem sich auch die Götter fügen mußten. Das Fatum, das über den
Göttern schwebte, soll den Menschen bei jeder einzelnen Handlung leiten. Da
giebt es nichts zu loben, nichts zu tadeln, jedes Wollen und Thun ist und
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