Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie sich die Drientpolitik dem Laienauge darstellt

scheue Wild, dem der Jäger nicht leicht beikommt. Nur einen Augenblick
giebt es, wo es -- dann allerdings völlig -- den Kopf verliert. Man neunt
das in der Jägersprache: der Hahn schleift. Frankreich schleift, indem es den
Blick auf die Vogesen gerichtet hält, während die Gefahr ganz wo anders
droht. Nicht jenseits der Vogesen hängen Gewitterwolken, wohl aber im Süden
über dem Mittelmeer, so weit das Auge reicht. In unsäglicher Verblendung,
wie in der Hypnose, läßt Frankreich seine Karten eine nach der andern aus
der Hand fallen und spielt die Rolle des bekannten Greises in der großen
Seestadt Leipzig. Es suchte und faud Rußlands Beistand "im Falle eines
Angriffs von jenseits der Vogesen." Nicht sein Interesse -- denn ein Kampf
aus Tod und Leben mit uns, das anmutige seuA'nsr dig-ne, kann doch nicht
in seinem Interesse liegen --, sondern das Gefühl der Rache bestimmt seine
Politik; kann es sich Wundern, wenn es dabei den kürzern zieht? Alle Leiden¬
schaften machen blind, die Rachsucht macht auch taub und unfähig zum klaren
Nachdenken, England aber müßte weniger geschickt in Geschäften sein, wenn
es versäumte, eine solche Unfähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und
nicht, wie sie sein könnten, zu seinem Vorteil auszunutzen.

Das wahre Interesse Frankreichs fordert die thatkräftige Bekämpfung
Englands: es muß also unter allen Umständen auch im Orient mit Nußland
gehen. Weshalb aber geschieht das nicht? Nußland mußte, um England Schach
zu bieten, die Unterstützung aller Mächte suchen, die dazu bereit waren.
Osterreich mußte es sein, wenn ihm seine Stellung und Zukunft auf der Balkan¬
halbinsel gesichert bleiben sollte, was weit wirksamer durch Rußland als durch
England geschieht. Denn Salonichi mit einem englischen Kreta davor ist nur
ein Ding von zweifelhaftem Werte. Deutschland war es aus einer ganzen Reihe
der einfachsten Gründe, die hier nicht aufgezählt zu werden brauchen. Weshalb
also schwenkte Frankreich ab? Auch hier trat das Gefühl hindernd in das
klare Urteil der von dem Volksempfinden abhängigen französischen Diplomatie.
Für Frankreich trat nicht Deutschland an Rußlands Seite, sondern Nußland
an Deutschlands Seite. Und das unmittelbar nach der Reise des Zaren,
gleich nach ClMous! War das nicht ein moralischer Verrat gegenüber der
Abmachung sür den Fall eines "Angriffs von jenseits der Vogesen"? Auch
hier das Schleifen in der Hypnose: Rußland war offenbar in Deutschlands
Fahrwasser, und dennoch verlangte es unter den aufgehenden Strahlen des er¬
neuten Dreikaiscrbündnisses von Frankreich unbedingte Heeresfolge im Orient!
Da waren doch Englands geschäftig dargebrachten Vorschläge gar nicht so
übel. Konnte denn ein türkisch-griechischer Krieg, wie er auch ausgehen
mochte, nicht auch im französischen Interesse liegen? England würde Frank¬
reich zu Syrien, zu Tunis verhelfen (die peinliche Sache mit Ägypten wolle
man kameradschaftlich einmal aus dem Spiele lassen); England würde, wenn
endlich -- g. oonsnwmiMon ctevout'l^ to vo visu'et -- die große Abrechnung


Wie sich die Drientpolitik dem Laienauge darstellt

scheue Wild, dem der Jäger nicht leicht beikommt. Nur einen Augenblick
giebt es, wo es — dann allerdings völlig — den Kopf verliert. Man neunt
das in der Jägersprache: der Hahn schleift. Frankreich schleift, indem es den
Blick auf die Vogesen gerichtet hält, während die Gefahr ganz wo anders
droht. Nicht jenseits der Vogesen hängen Gewitterwolken, wohl aber im Süden
über dem Mittelmeer, so weit das Auge reicht. In unsäglicher Verblendung,
wie in der Hypnose, läßt Frankreich seine Karten eine nach der andern aus
der Hand fallen und spielt die Rolle des bekannten Greises in der großen
Seestadt Leipzig. Es suchte und faud Rußlands Beistand „im Falle eines
Angriffs von jenseits der Vogesen." Nicht sein Interesse — denn ein Kampf
aus Tod und Leben mit uns, das anmutige seuA'nsr dig-ne, kann doch nicht
in seinem Interesse liegen —, sondern das Gefühl der Rache bestimmt seine
Politik; kann es sich Wundern, wenn es dabei den kürzern zieht? Alle Leiden¬
schaften machen blind, die Rachsucht macht auch taub und unfähig zum klaren
Nachdenken, England aber müßte weniger geschickt in Geschäften sein, wenn
es versäumte, eine solche Unfähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und
nicht, wie sie sein könnten, zu seinem Vorteil auszunutzen.

Das wahre Interesse Frankreichs fordert die thatkräftige Bekämpfung
Englands: es muß also unter allen Umständen auch im Orient mit Nußland
gehen. Weshalb aber geschieht das nicht? Nußland mußte, um England Schach
zu bieten, die Unterstützung aller Mächte suchen, die dazu bereit waren.
Osterreich mußte es sein, wenn ihm seine Stellung und Zukunft auf der Balkan¬
halbinsel gesichert bleiben sollte, was weit wirksamer durch Rußland als durch
England geschieht. Denn Salonichi mit einem englischen Kreta davor ist nur
ein Ding von zweifelhaftem Werte. Deutschland war es aus einer ganzen Reihe
der einfachsten Gründe, die hier nicht aufgezählt zu werden brauchen. Weshalb
also schwenkte Frankreich ab? Auch hier trat das Gefühl hindernd in das
klare Urteil der von dem Volksempfinden abhängigen französischen Diplomatie.
Für Frankreich trat nicht Deutschland an Rußlands Seite, sondern Nußland
an Deutschlands Seite. Und das unmittelbar nach der Reise des Zaren,
gleich nach ClMous! War das nicht ein moralischer Verrat gegenüber der
Abmachung sür den Fall eines „Angriffs von jenseits der Vogesen"? Auch
hier das Schleifen in der Hypnose: Rußland war offenbar in Deutschlands
Fahrwasser, und dennoch verlangte es unter den aufgehenden Strahlen des er¬
neuten Dreikaiscrbündnisses von Frankreich unbedingte Heeresfolge im Orient!
Da waren doch Englands geschäftig dargebrachten Vorschläge gar nicht so
übel. Konnte denn ein türkisch-griechischer Krieg, wie er auch ausgehen
mochte, nicht auch im französischen Interesse liegen? England würde Frank¬
reich zu Syrien, zu Tunis verhelfen (die peinliche Sache mit Ägypten wolle
man kameradschaftlich einmal aus dem Spiele lassen); England würde, wenn
endlich — g. oonsnwmiMon ctevout'l^ to vo visu'et — die große Abrechnung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225150"/>
          <fw type="header" place="top"> Wie sich die Drientpolitik dem Laienauge darstellt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_733" prev="#ID_732"> scheue Wild, dem der Jäger nicht leicht beikommt. Nur einen Augenblick<lb/>
giebt es, wo es &#x2014; dann allerdings völlig &#x2014; den Kopf verliert. Man neunt<lb/>
das in der Jägersprache: der Hahn schleift. Frankreich schleift, indem es den<lb/>
Blick auf die Vogesen gerichtet hält, während die Gefahr ganz wo anders<lb/>
droht. Nicht jenseits der Vogesen hängen Gewitterwolken, wohl aber im Süden<lb/>
über dem Mittelmeer, so weit das Auge reicht. In unsäglicher Verblendung,<lb/>
wie in der Hypnose, läßt Frankreich seine Karten eine nach der andern aus<lb/>
der Hand fallen und spielt die Rolle des bekannten Greises in der großen<lb/>
Seestadt Leipzig. Es suchte und faud Rußlands Beistand &#x201E;im Falle eines<lb/>
Angriffs von jenseits der Vogesen." Nicht sein Interesse &#x2014; denn ein Kampf<lb/>
aus Tod und Leben mit uns, das anmutige seuA'nsr dig-ne, kann doch nicht<lb/>
in seinem Interesse liegen &#x2014;, sondern das Gefühl der Rache bestimmt seine<lb/>
Politik; kann es sich Wundern, wenn es dabei den kürzern zieht? Alle Leiden¬<lb/>
schaften machen blind, die Rachsucht macht auch taub und unfähig zum klaren<lb/>
Nachdenken, England aber müßte weniger geschickt in Geschäften sein, wenn<lb/>
es versäumte, eine solche Unfähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und<lb/>
nicht, wie sie sein könnten, zu seinem Vorteil auszunutzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_734" next="#ID_735"> Das wahre Interesse Frankreichs fordert die thatkräftige Bekämpfung<lb/>
Englands: es muß also unter allen Umständen auch im Orient mit Nußland<lb/>
gehen. Weshalb aber geschieht das nicht? Nußland mußte, um England Schach<lb/>
zu bieten, die Unterstützung aller Mächte suchen, die dazu bereit waren.<lb/>
Osterreich mußte es sein, wenn ihm seine Stellung und Zukunft auf der Balkan¬<lb/>
halbinsel gesichert bleiben sollte, was weit wirksamer durch Rußland als durch<lb/>
England geschieht. Denn Salonichi mit einem englischen Kreta davor ist nur<lb/>
ein Ding von zweifelhaftem Werte. Deutschland war es aus einer ganzen Reihe<lb/>
der einfachsten Gründe, die hier nicht aufgezählt zu werden brauchen. Weshalb<lb/>
also schwenkte Frankreich ab? Auch hier trat das Gefühl hindernd in das<lb/>
klare Urteil der von dem Volksempfinden abhängigen französischen Diplomatie.<lb/>
Für Frankreich trat nicht Deutschland an Rußlands Seite, sondern Nußland<lb/>
an Deutschlands Seite. Und das unmittelbar nach der Reise des Zaren,<lb/>
gleich nach ClMous! War das nicht ein moralischer Verrat gegenüber der<lb/>
Abmachung sür den Fall eines &#x201E;Angriffs von jenseits der Vogesen"? Auch<lb/>
hier das Schleifen in der Hypnose: Rußland war offenbar in Deutschlands<lb/>
Fahrwasser, und dennoch verlangte es unter den aufgehenden Strahlen des er¬<lb/>
neuten Dreikaiscrbündnisses von Frankreich unbedingte Heeresfolge im Orient!<lb/>
Da waren doch Englands geschäftig dargebrachten Vorschläge gar nicht so<lb/>
übel. Konnte denn ein türkisch-griechischer Krieg, wie er auch ausgehen<lb/>
mochte, nicht auch im französischen Interesse liegen? England würde Frank¬<lb/>
reich zu Syrien, zu Tunis verhelfen (die peinliche Sache mit Ägypten wolle<lb/>
man kameradschaftlich einmal aus dem Spiele lassen); England würde, wenn<lb/>
endlich &#x2014; g. oonsnwmiMon ctevout'l^ to vo visu'et &#x2014; die große Abrechnung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0222] Wie sich die Drientpolitik dem Laienauge darstellt scheue Wild, dem der Jäger nicht leicht beikommt. Nur einen Augenblick giebt es, wo es — dann allerdings völlig — den Kopf verliert. Man neunt das in der Jägersprache: der Hahn schleift. Frankreich schleift, indem es den Blick auf die Vogesen gerichtet hält, während die Gefahr ganz wo anders droht. Nicht jenseits der Vogesen hängen Gewitterwolken, wohl aber im Süden über dem Mittelmeer, so weit das Auge reicht. In unsäglicher Verblendung, wie in der Hypnose, läßt Frankreich seine Karten eine nach der andern aus der Hand fallen und spielt die Rolle des bekannten Greises in der großen Seestadt Leipzig. Es suchte und faud Rußlands Beistand „im Falle eines Angriffs von jenseits der Vogesen." Nicht sein Interesse — denn ein Kampf aus Tod und Leben mit uns, das anmutige seuA'nsr dig-ne, kann doch nicht in seinem Interesse liegen —, sondern das Gefühl der Rache bestimmt seine Politik; kann es sich Wundern, wenn es dabei den kürzern zieht? Alle Leiden¬ schaften machen blind, die Rachsucht macht auch taub und unfähig zum klaren Nachdenken, England aber müßte weniger geschickt in Geschäften sein, wenn es versäumte, eine solche Unfähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein könnten, zu seinem Vorteil auszunutzen. Das wahre Interesse Frankreichs fordert die thatkräftige Bekämpfung Englands: es muß also unter allen Umständen auch im Orient mit Nußland gehen. Weshalb aber geschieht das nicht? Nußland mußte, um England Schach zu bieten, die Unterstützung aller Mächte suchen, die dazu bereit waren. Osterreich mußte es sein, wenn ihm seine Stellung und Zukunft auf der Balkan¬ halbinsel gesichert bleiben sollte, was weit wirksamer durch Rußland als durch England geschieht. Denn Salonichi mit einem englischen Kreta davor ist nur ein Ding von zweifelhaftem Werte. Deutschland war es aus einer ganzen Reihe der einfachsten Gründe, die hier nicht aufgezählt zu werden brauchen. Weshalb also schwenkte Frankreich ab? Auch hier trat das Gefühl hindernd in das klare Urteil der von dem Volksempfinden abhängigen französischen Diplomatie. Für Frankreich trat nicht Deutschland an Rußlands Seite, sondern Nußland an Deutschlands Seite. Und das unmittelbar nach der Reise des Zaren, gleich nach ClMous! War das nicht ein moralischer Verrat gegenüber der Abmachung sür den Fall eines „Angriffs von jenseits der Vogesen"? Auch hier das Schleifen in der Hypnose: Rußland war offenbar in Deutschlands Fahrwasser, und dennoch verlangte es unter den aufgehenden Strahlen des er¬ neuten Dreikaiscrbündnisses von Frankreich unbedingte Heeresfolge im Orient! Da waren doch Englands geschäftig dargebrachten Vorschläge gar nicht so übel. Konnte denn ein türkisch-griechischer Krieg, wie er auch ausgehen mochte, nicht auch im französischen Interesse liegen? England würde Frank¬ reich zu Syrien, zu Tunis verhelfen (die peinliche Sache mit Ägypten wolle man kameradschaftlich einmal aus dem Spiele lassen); England würde, wenn endlich — g. oonsnwmiMon ctevout'l^ to vo visu'et — die große Abrechnung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/222
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/222>, abgerufen am 23.07.2024.