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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

Gedenkens, wären nicht die lockenden Versprechungen wegen Tripolis, wäre
nicht die klägliche Ohnmacht Italiens, das weder Geld noch militärische Kraft
hat! Gegen England ist es doch immer nur als ein nicht großer Bruchteil
feindlicher Kraft in Rechnung zu stellen; mit England kann es aber allerlei
nützliche Sachen gewinnen, und so wird es auch nicht schwierig sein, es
zum Verlassen Kretas zu bewegen. Deutschland? Selbst wenn es ein un¬
mittelbares Interesse an Kreta hätte, würde es doch schwerlich England in
die Arme fallen können. Aber sein Interesse ist nur mittelbar, freilich des¬
halb nicht minder lebendig, und ganz gewiß ist sein Gewicht in der Wagschale
für oder gegen England von ausschlaggebender Bedeutung. So bleiben noch
Rußland und Frankreich. Blickt man von Kreta aus auf Nußland, so wird
es klar, weshalb diese Macht mit aller Kraft die Aufteilung der Türkei oder,
wie mau es im Zeitungswelsch so schön nennt, das "Anschneiden der türkischen
Frage" zu verhindern sucht. Mehr als klug ist schou mit der "Autonomie"
Kretas der Grundsatz des Huietg, noir movsrs verlassen worden. Während
England nur gewinnen kann, wenn es den Stein so zum Rollen bringt, daß er
einigen der "interessirten Mächte" über den Leib geht, und vorgehen muß, wenn
es den Boden nicht unter den Füßen verlieren will, wo und wann immer sich
eine Gelegenheit zum Einmischen und Auseinandersetzen bietet, so liegt im
Interesse Rußlands das gerade Gegenteil. Bei jeder Hetze, die England be¬
ginnt, und es hat es in diesem Sportzweig zu einer unnachahmlichen Geschick-
lichkeit gebracht, gewinnt das Inselreich in demselben Maße, wie das festländische
Rußland dabei verliert. Träte dies aus seiner Zurückhaltung heraus und besetzte
mit gewaltthätiger Hand Konstantinopel, so wäre Englands Besetzung von
Kreta eine Antwort, der niemand mit Erfolg widersprechen könnte. Stellte
sich Nußland feindlich gegen die Türkei, so würde England den "kranken
Mann" hochherzig an seinen mitleidigen Busen ziehen und als Belohnung sür
den Freundschaftsdienst ganz s. Is, Cypern Kreta "pachten." Nußland muß
also ein Freund der Türkei bleiben; Nußland muß mit allen Mitteln ver¬
hindern, daß der Stein ins Rollen kommt, an dem England unablässig rüttelt.
Denn es würde nur gewinnen, was ihm bei einiger Geduld ohnehin sicher ist,
was aber nur entwertet in seinen Besitz kommen würde, wenn England sein
kühnes Spiel durchsetzen könnte.

So dreht sich, von Kreta aus gesehen, der ganze Kampf um England und
Rußland. Wie aber steht Frankreich dazu? Es spielt vielleicht die unglück¬
lichste der vielen unglücklichen Rollen, die es in den letzten fünfzig Jahren zu
spielen gehabt hat. Politische Witzbolde vergleichen das schöne Land mit einem
Haushahn; namentlich zeichnet der Engländer gern den gallischen Vogel, wie
er unnatürlich gespreizt dem stolzen, mächtigen, britischen Löwen seinen un¬
angenehmen Gesang ins Ohr schreit. Wir möchten ein edleres Bild für Frank¬
reich wählen. Uns erscheint es wie der Auerhahn, das kluge, schöne und


Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

Gedenkens, wären nicht die lockenden Versprechungen wegen Tripolis, wäre
nicht die klägliche Ohnmacht Italiens, das weder Geld noch militärische Kraft
hat! Gegen England ist es doch immer nur als ein nicht großer Bruchteil
feindlicher Kraft in Rechnung zu stellen; mit England kann es aber allerlei
nützliche Sachen gewinnen, und so wird es auch nicht schwierig sein, es
zum Verlassen Kretas zu bewegen. Deutschland? Selbst wenn es ein un¬
mittelbares Interesse an Kreta hätte, würde es doch schwerlich England in
die Arme fallen können. Aber sein Interesse ist nur mittelbar, freilich des¬
halb nicht minder lebendig, und ganz gewiß ist sein Gewicht in der Wagschale
für oder gegen England von ausschlaggebender Bedeutung. So bleiben noch
Rußland und Frankreich. Blickt man von Kreta aus auf Nußland, so wird
es klar, weshalb diese Macht mit aller Kraft die Aufteilung der Türkei oder,
wie mau es im Zeitungswelsch so schön nennt, das „Anschneiden der türkischen
Frage" zu verhindern sucht. Mehr als klug ist schou mit der „Autonomie"
Kretas der Grundsatz des Huietg, noir movsrs verlassen worden. Während
England nur gewinnen kann, wenn es den Stein so zum Rollen bringt, daß er
einigen der „interessirten Mächte" über den Leib geht, und vorgehen muß, wenn
es den Boden nicht unter den Füßen verlieren will, wo und wann immer sich
eine Gelegenheit zum Einmischen und Auseinandersetzen bietet, so liegt im
Interesse Rußlands das gerade Gegenteil. Bei jeder Hetze, die England be¬
ginnt, und es hat es in diesem Sportzweig zu einer unnachahmlichen Geschick-
lichkeit gebracht, gewinnt das Inselreich in demselben Maße, wie das festländische
Rußland dabei verliert. Träte dies aus seiner Zurückhaltung heraus und besetzte
mit gewaltthätiger Hand Konstantinopel, so wäre Englands Besetzung von
Kreta eine Antwort, der niemand mit Erfolg widersprechen könnte. Stellte
sich Nußland feindlich gegen die Türkei, so würde England den „kranken
Mann" hochherzig an seinen mitleidigen Busen ziehen und als Belohnung sür
den Freundschaftsdienst ganz s. Is, Cypern Kreta „pachten." Nußland muß
also ein Freund der Türkei bleiben; Nußland muß mit allen Mitteln ver¬
hindern, daß der Stein ins Rollen kommt, an dem England unablässig rüttelt.
Denn es würde nur gewinnen, was ihm bei einiger Geduld ohnehin sicher ist,
was aber nur entwertet in seinen Besitz kommen würde, wenn England sein
kühnes Spiel durchsetzen könnte.

So dreht sich, von Kreta aus gesehen, der ganze Kampf um England und
Rußland. Wie aber steht Frankreich dazu? Es spielt vielleicht die unglück¬
lichste der vielen unglücklichen Rollen, die es in den letzten fünfzig Jahren zu
spielen gehabt hat. Politische Witzbolde vergleichen das schöne Land mit einem
Haushahn; namentlich zeichnet der Engländer gern den gallischen Vogel, wie
er unnatürlich gespreizt dem stolzen, mächtigen, britischen Löwen seinen un¬
angenehmen Gesang ins Ohr schreit. Wir möchten ein edleres Bild für Frank¬
reich wählen. Uns erscheint es wie der Auerhahn, das kluge, schöne und


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[0221] Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt Gedenkens, wären nicht die lockenden Versprechungen wegen Tripolis, wäre nicht die klägliche Ohnmacht Italiens, das weder Geld noch militärische Kraft hat! Gegen England ist es doch immer nur als ein nicht großer Bruchteil feindlicher Kraft in Rechnung zu stellen; mit England kann es aber allerlei nützliche Sachen gewinnen, und so wird es auch nicht schwierig sein, es zum Verlassen Kretas zu bewegen. Deutschland? Selbst wenn es ein un¬ mittelbares Interesse an Kreta hätte, würde es doch schwerlich England in die Arme fallen können. Aber sein Interesse ist nur mittelbar, freilich des¬ halb nicht minder lebendig, und ganz gewiß ist sein Gewicht in der Wagschale für oder gegen England von ausschlaggebender Bedeutung. So bleiben noch Rußland und Frankreich. Blickt man von Kreta aus auf Nußland, so wird es klar, weshalb diese Macht mit aller Kraft die Aufteilung der Türkei oder, wie mau es im Zeitungswelsch so schön nennt, das „Anschneiden der türkischen Frage" zu verhindern sucht. Mehr als klug ist schou mit der „Autonomie" Kretas der Grundsatz des Huietg, noir movsrs verlassen worden. Während England nur gewinnen kann, wenn es den Stein so zum Rollen bringt, daß er einigen der „interessirten Mächte" über den Leib geht, und vorgehen muß, wenn es den Boden nicht unter den Füßen verlieren will, wo und wann immer sich eine Gelegenheit zum Einmischen und Auseinandersetzen bietet, so liegt im Interesse Rußlands das gerade Gegenteil. Bei jeder Hetze, die England be¬ ginnt, und es hat es in diesem Sportzweig zu einer unnachahmlichen Geschick- lichkeit gebracht, gewinnt das Inselreich in demselben Maße, wie das festländische Rußland dabei verliert. Träte dies aus seiner Zurückhaltung heraus und besetzte mit gewaltthätiger Hand Konstantinopel, so wäre Englands Besetzung von Kreta eine Antwort, der niemand mit Erfolg widersprechen könnte. Stellte sich Nußland feindlich gegen die Türkei, so würde England den „kranken Mann" hochherzig an seinen mitleidigen Busen ziehen und als Belohnung sür den Freundschaftsdienst ganz s. Is, Cypern Kreta „pachten." Nußland muß also ein Freund der Türkei bleiben; Nußland muß mit allen Mitteln ver¬ hindern, daß der Stein ins Rollen kommt, an dem England unablässig rüttelt. Denn es würde nur gewinnen, was ihm bei einiger Geduld ohnehin sicher ist, was aber nur entwertet in seinen Besitz kommen würde, wenn England sein kühnes Spiel durchsetzen könnte. So dreht sich, von Kreta aus gesehen, der ganze Kampf um England und Rußland. Wie aber steht Frankreich dazu? Es spielt vielleicht die unglück¬ lichste der vielen unglücklichen Rollen, die es in den letzten fünfzig Jahren zu spielen gehabt hat. Politische Witzbolde vergleichen das schöne Land mit einem Haushahn; namentlich zeichnet der Engländer gern den gallischen Vogel, wie er unnatürlich gespreizt dem stolzen, mächtigen, britischen Löwen seinen un¬ angenehmen Gesang ins Ohr schreit. Wir möchten ein edleres Bild für Frank¬ reich wählen. Uns erscheint es wie der Auerhahn, das kluge, schöne und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/221>, abgerufen am 23.07.2024.