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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

englischem Boden gewachsen, und haben nicht unzählige Sovereigns ihren Weg
in die Kassen der Ethnike Hetairia gefunden? Also "Kreta für die Griechen,
die Sudabai für uns!" ist ein in eingeweihten englischen Kreisen durchaus ver¬
ständliches und in dem Bereiche der praktischen Politik liegendes Stichwort.

Wer will England daran hindern? Frankreich müßte den Entscheiduugs-
krieg wagen, aber es fletscht wohl die Zähne nach Ägypten und Kreta hin,
die Augen hält es dagegen wie gebannt auf die blauen Vogesen gerichtet,
hinter denen der deutsche Rhein ruhig dahinfließt. In einer solchen verzwickten
Stellung aber führt man keinen Krieg mit einer ebenbürtigen Macht. Und
der Schluß wird sein: ist England einmal auf Kreta, so bleibt es dort, wie es
in Ägypten bleibt. Und das ist der geschickte Zug seiner großartig angelegten
Diplomatie: Es kann auch zu diesem Ziele kommen, wenn Griechenland nicht
Beherrscherin und Verschenken" der kretischen Insel werden sollte. Wollen
die "Mächte" durchaus nicht einsehen, daß man des Griechenkönigs Thron
stützen, die wackern Hellenen, die ja nur, wie einst Italien und Deutschland,
um ihre Stammcseinheit kämpfen, beschirmen, die gräßlichen Türken mit Feuer
und Schwert ausrotten muß (was natürlich andre zu besorgen hätten), so ist es,
denken die Engländer, zunächst auch gut! Wir besetzen Kreta mit den übrigen
Mächten zusammen; denn autonom muß es werden, das steht außer Frage.

Gelänge dieser geschickt vorbereitete und durchgeführte Zug, so würde er
einen glänzender Sieg der englischen Diplomatie bedeuten. Kreta darf nicht
"autonom" werden, wenn man England hindern will, auch nur den kleinen
Finger auf Kreta zu legen. Denn wenn es autonom ist, muß man doch
diese Autonomie auch schützen. Zunächst gewinnt man so Zeit zu den
schönsten Machenschaften. Außerdem sind ja schon sechshundert Mann dort;
von Malta aus lassen sie sich unbemerkt und leicht auf einige Tausend
bringen. Die ganze maltesische Flotte kann in der kürzesten Zeit zur Stelle
sein. Jeden Schlupfwinkel, jedes Leuchtfeuer der Küste kennt sie, jeden Ort,
der sich zur Befestigung eignet, denn man hat seine "Besuche" auch auf nütz¬
liche Arbeit verwendet. Was hindert also England, zu gelegner Zeit einen
Gewaltstreich auszuführen und die Sudabai zu besetzen?

Man wird dem entgegenhalten, daß ja auch russische, italienische, fran¬
zösische, österreichische und deutsche Soldaten dort seien, das ganze europäische
Konzert. Freilich, aber auf wie lange? Sind doch sogar die Franzosen aus
Ägypten hinausmanövrirt worden! Die Deutschen werden sehr bald wieder
abziehen; sie machen nur mit, um Rußland zu stützen. Osterreich wird auch
zu erweichen sein: wer ihm Salonichi "garantirt," dürfte ihm willkommen
sein, und mit andern Danaergeschenken, die Osterreich und Nußland gegen¬
einander mißtrauisch machen und hübsch auseinanderhalten wttrdeu, würde Eng¬
land gewiß nicht sparen. Italien? Wäre nur nicht die Feindschaft mit Frank¬
reich über Tunis, wären nicht die englischen Dienste in Äthiopier traurigen


Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt

englischem Boden gewachsen, und haben nicht unzählige Sovereigns ihren Weg
in die Kassen der Ethnike Hetairia gefunden? Also „Kreta für die Griechen,
die Sudabai für uns!" ist ein in eingeweihten englischen Kreisen durchaus ver¬
ständliches und in dem Bereiche der praktischen Politik liegendes Stichwort.

Wer will England daran hindern? Frankreich müßte den Entscheiduugs-
krieg wagen, aber es fletscht wohl die Zähne nach Ägypten und Kreta hin,
die Augen hält es dagegen wie gebannt auf die blauen Vogesen gerichtet,
hinter denen der deutsche Rhein ruhig dahinfließt. In einer solchen verzwickten
Stellung aber führt man keinen Krieg mit einer ebenbürtigen Macht. Und
der Schluß wird sein: ist England einmal auf Kreta, so bleibt es dort, wie es
in Ägypten bleibt. Und das ist der geschickte Zug seiner großartig angelegten
Diplomatie: Es kann auch zu diesem Ziele kommen, wenn Griechenland nicht
Beherrscherin und Verschenken« der kretischen Insel werden sollte. Wollen
die „Mächte" durchaus nicht einsehen, daß man des Griechenkönigs Thron
stützen, die wackern Hellenen, die ja nur, wie einst Italien und Deutschland,
um ihre Stammcseinheit kämpfen, beschirmen, die gräßlichen Türken mit Feuer
und Schwert ausrotten muß (was natürlich andre zu besorgen hätten), so ist es,
denken die Engländer, zunächst auch gut! Wir besetzen Kreta mit den übrigen
Mächten zusammen; denn autonom muß es werden, das steht außer Frage.

Gelänge dieser geschickt vorbereitete und durchgeführte Zug, so würde er
einen glänzender Sieg der englischen Diplomatie bedeuten. Kreta darf nicht
„autonom" werden, wenn man England hindern will, auch nur den kleinen
Finger auf Kreta zu legen. Denn wenn es autonom ist, muß man doch
diese Autonomie auch schützen. Zunächst gewinnt man so Zeit zu den
schönsten Machenschaften. Außerdem sind ja schon sechshundert Mann dort;
von Malta aus lassen sie sich unbemerkt und leicht auf einige Tausend
bringen. Die ganze maltesische Flotte kann in der kürzesten Zeit zur Stelle
sein. Jeden Schlupfwinkel, jedes Leuchtfeuer der Küste kennt sie, jeden Ort,
der sich zur Befestigung eignet, denn man hat seine „Besuche" auch auf nütz¬
liche Arbeit verwendet. Was hindert also England, zu gelegner Zeit einen
Gewaltstreich auszuführen und die Sudabai zu besetzen?

Man wird dem entgegenhalten, daß ja auch russische, italienische, fran¬
zösische, österreichische und deutsche Soldaten dort seien, das ganze europäische
Konzert. Freilich, aber auf wie lange? Sind doch sogar die Franzosen aus
Ägypten hinausmanövrirt worden! Die Deutschen werden sehr bald wieder
abziehen; sie machen nur mit, um Rußland zu stützen. Osterreich wird auch
zu erweichen sein: wer ihm Salonichi „garantirt," dürfte ihm willkommen
sein, und mit andern Danaergeschenken, die Osterreich und Nußland gegen¬
einander mißtrauisch machen und hübsch auseinanderhalten wttrdeu, würde Eng¬
land gewiß nicht sparen. Italien? Wäre nur nicht die Feindschaft mit Frank¬
reich über Tunis, wären nicht die englischen Dienste in Äthiopier traurigen


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[0220] Wie sich die Grientpolitik dem Laienauge darstellt englischem Boden gewachsen, und haben nicht unzählige Sovereigns ihren Weg in die Kassen der Ethnike Hetairia gefunden? Also „Kreta für die Griechen, die Sudabai für uns!" ist ein in eingeweihten englischen Kreisen durchaus ver¬ ständliches und in dem Bereiche der praktischen Politik liegendes Stichwort. Wer will England daran hindern? Frankreich müßte den Entscheiduugs- krieg wagen, aber es fletscht wohl die Zähne nach Ägypten und Kreta hin, die Augen hält es dagegen wie gebannt auf die blauen Vogesen gerichtet, hinter denen der deutsche Rhein ruhig dahinfließt. In einer solchen verzwickten Stellung aber führt man keinen Krieg mit einer ebenbürtigen Macht. Und der Schluß wird sein: ist England einmal auf Kreta, so bleibt es dort, wie es in Ägypten bleibt. Und das ist der geschickte Zug seiner großartig angelegten Diplomatie: Es kann auch zu diesem Ziele kommen, wenn Griechenland nicht Beherrscherin und Verschenken« der kretischen Insel werden sollte. Wollen die „Mächte" durchaus nicht einsehen, daß man des Griechenkönigs Thron stützen, die wackern Hellenen, die ja nur, wie einst Italien und Deutschland, um ihre Stammcseinheit kämpfen, beschirmen, die gräßlichen Türken mit Feuer und Schwert ausrotten muß (was natürlich andre zu besorgen hätten), so ist es, denken die Engländer, zunächst auch gut! Wir besetzen Kreta mit den übrigen Mächten zusammen; denn autonom muß es werden, das steht außer Frage. Gelänge dieser geschickt vorbereitete und durchgeführte Zug, so würde er einen glänzender Sieg der englischen Diplomatie bedeuten. Kreta darf nicht „autonom" werden, wenn man England hindern will, auch nur den kleinen Finger auf Kreta zu legen. Denn wenn es autonom ist, muß man doch diese Autonomie auch schützen. Zunächst gewinnt man so Zeit zu den schönsten Machenschaften. Außerdem sind ja schon sechshundert Mann dort; von Malta aus lassen sie sich unbemerkt und leicht auf einige Tausend bringen. Die ganze maltesische Flotte kann in der kürzesten Zeit zur Stelle sein. Jeden Schlupfwinkel, jedes Leuchtfeuer der Küste kennt sie, jeden Ort, der sich zur Befestigung eignet, denn man hat seine „Besuche" auch auf nütz¬ liche Arbeit verwendet. Was hindert also England, zu gelegner Zeit einen Gewaltstreich auszuführen und die Sudabai zu besetzen? Man wird dem entgegenhalten, daß ja auch russische, italienische, fran¬ zösische, österreichische und deutsche Soldaten dort seien, das ganze europäische Konzert. Freilich, aber auf wie lange? Sind doch sogar die Franzosen aus Ägypten hinausmanövrirt worden! Die Deutschen werden sehr bald wieder abziehen; sie machen nur mit, um Rußland zu stützen. Osterreich wird auch zu erweichen sein: wer ihm Salonichi „garantirt," dürfte ihm willkommen sein, und mit andern Danaergeschenken, die Osterreich und Nußland gegen¬ einander mißtrauisch machen und hübsch auseinanderhalten wttrdeu, würde Eng¬ land gewiß nicht sparen. Italien? Wäre nur nicht die Feindschaft mit Frank¬ reich über Tunis, wären nicht die englischen Dienste in Äthiopier traurigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/220>, abgerufen am 23.07.2024.