Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unsre Postdampferlinien

wie im Norden so groß, daß die Überzeugung, daß diese -- ich möchte sagen --
"chirurgische Operation" zur Heilung der alten deutschen Erbkrankheiten not¬
wendig war; sobald sie sich Bahn brach, war auch aller Groll vergessen, und
wir konnten schon im Jahre 1870 uns überzeugen, daß das Gefühl der
nationalen Einheit durch das Andenken dieses Bürgerkrieges nicht gestört war,
und daß wir alle als "ein einig Volk von Brüdern" den Angriffen des Aus¬
landes entgegentreten konnten. Das schwebte mir als "Völkerfrühling" vor;
daß wir darauf die alten deutschen Grenzlünder wiedergewonnen, die nationale
Einheit des Volkes begründeten, einen deutschen Reichstag um uns versammelt
sahen, den deutsche" Kaiser wieder erstehen sahen, das alles schwebte mir als
"Völkerfrühling" vor, nicht die heutige Kolonialpolitik, die bloß eine Episode
bildet in dem Rückgänge, den wir seitdem gemacht haben. Dieser Völker¬
frühling hielt nur wenige Jahre nach dem großen Siege vor. Ich weiß nicht,
ob der Milliardensegen schon erstickend auf ihn gewirkt hat. Aber dann kam,
was ich unter dem Begriffe "Loki" verstand: der alte deutsche Parteifeind, der
Parteihader, der in dynastischen und in konfessionellen, in Stammesverschieden¬
heiten und in den Fraktionskämpfen seine Nahrung findet; der übertrug sich
auf unser öffentliches Leben, auf unsre Parlamente, und wir sind angekommen
in einem Zustande unsers öffentlichen Lebens, wo die Regierungen zwar treu
zusammenhalten, im deutschen Reichstage aber der Hort der Einheit, den ich
darin gesucht und gehofft hatte, nicht zu finden ist, sondern der Parteigeist
überwuchert uns. Und der Parteigeist, wenn er mit seiner Lokistimme den Ur¬
Wähler Hödur, der die Tragweite der Dinge nicht beurteilen kann, verleitet,
daß er das eigne Vaterland erschlage, der ist es, den ich anklage vor Gott
nud der Geschichte, wenn das ganze herrliche Werk unsrer Nation von 1866
und 1870 wieder in Verfall gerät und durch die Feder hier verdorben wird,
nachdem es durch das Schwert geschaffen wurde."

Der tiefe Eindruck, den diese Rede auf die Anwesenden gemacht hatte,
äußerte sich in einem Beifallsjubel, wie er seit den Tagen der höchsten natio¬
nalen Begeisterung im Juli 1870 im Reichstage nicht mehr gehört worden
war. In der weitern Debatte, die noch zu scharfen Auseinandersetzungen
zwischen dem Reichskanzler und den Führern der Oppositionsparteien Ver¬
anlassung gab, traten die Fragen der allgemeinen und der Kolonialpolitik in
den Vordergrund. Schließlich wurde die Verbindung nach Ostasien und Australien
genehmigt, die nach Afrika dagegen gestrichen. Der Betrag der zur Unterhaltung
der bewilligten Linien zu zahlenden Beihilfe wurde für einen Zeitraum von
fünfzehn Jahren auf vier Millionen Mark und der für die Mittelmeerlinie
auf 200000 Mark jährlich festgesetzt. Bei der dritten Lesung des Gesetzes,
am 23. Mürz 1885, erhöhte der Reichstag die letztere Summe auf 400000 Mark
und knüpfte daran die Bedingung, daß die Mittelmeerlinie bis Trieft ausgedehnt
würde. Als Durchschnittsgeschwindigkeit der Dampfer wurden in der dem Ge¬
setze beigefügten Anlage 11^ Knoten gefordert. Das diesen Beschlüssen ent-


Unsre Postdampferlinien

wie im Norden so groß, daß die Überzeugung, daß diese — ich möchte sagen —
»chirurgische Operation« zur Heilung der alten deutschen Erbkrankheiten not¬
wendig war; sobald sie sich Bahn brach, war auch aller Groll vergessen, und
wir konnten schon im Jahre 1870 uns überzeugen, daß das Gefühl der
nationalen Einheit durch das Andenken dieses Bürgerkrieges nicht gestört war,
und daß wir alle als »ein einig Volk von Brüdern" den Angriffen des Aus¬
landes entgegentreten konnten. Das schwebte mir als »Völkerfrühling« vor;
daß wir darauf die alten deutschen Grenzlünder wiedergewonnen, die nationale
Einheit des Volkes begründeten, einen deutschen Reichstag um uns versammelt
sahen, den deutsche» Kaiser wieder erstehen sahen, das alles schwebte mir als
»Völkerfrühling« vor, nicht die heutige Kolonialpolitik, die bloß eine Episode
bildet in dem Rückgänge, den wir seitdem gemacht haben. Dieser Völker¬
frühling hielt nur wenige Jahre nach dem großen Siege vor. Ich weiß nicht,
ob der Milliardensegen schon erstickend auf ihn gewirkt hat. Aber dann kam,
was ich unter dem Begriffe »Loki« verstand: der alte deutsche Parteifeind, der
Parteihader, der in dynastischen und in konfessionellen, in Stammesverschieden¬
heiten und in den Fraktionskämpfen seine Nahrung findet; der übertrug sich
auf unser öffentliches Leben, auf unsre Parlamente, und wir sind angekommen
in einem Zustande unsers öffentlichen Lebens, wo die Regierungen zwar treu
zusammenhalten, im deutschen Reichstage aber der Hort der Einheit, den ich
darin gesucht und gehofft hatte, nicht zu finden ist, sondern der Parteigeist
überwuchert uns. Und der Parteigeist, wenn er mit seiner Lokistimme den Ur¬
Wähler Hödur, der die Tragweite der Dinge nicht beurteilen kann, verleitet,
daß er das eigne Vaterland erschlage, der ist es, den ich anklage vor Gott
nud der Geschichte, wenn das ganze herrliche Werk unsrer Nation von 1866
und 1870 wieder in Verfall gerät und durch die Feder hier verdorben wird,
nachdem es durch das Schwert geschaffen wurde."

Der tiefe Eindruck, den diese Rede auf die Anwesenden gemacht hatte,
äußerte sich in einem Beifallsjubel, wie er seit den Tagen der höchsten natio¬
nalen Begeisterung im Juli 1870 im Reichstage nicht mehr gehört worden
war. In der weitern Debatte, die noch zu scharfen Auseinandersetzungen
zwischen dem Reichskanzler und den Führern der Oppositionsparteien Ver¬
anlassung gab, traten die Fragen der allgemeinen und der Kolonialpolitik in
den Vordergrund. Schließlich wurde die Verbindung nach Ostasien und Australien
genehmigt, die nach Afrika dagegen gestrichen. Der Betrag der zur Unterhaltung
der bewilligten Linien zu zahlenden Beihilfe wurde für einen Zeitraum von
fünfzehn Jahren auf vier Millionen Mark und der für die Mittelmeerlinie
auf 200000 Mark jährlich festgesetzt. Bei der dritten Lesung des Gesetzes,
am 23. Mürz 1885, erhöhte der Reichstag die letztere Summe auf 400000 Mark
und knüpfte daran die Bedingung, daß die Mittelmeerlinie bis Trieft ausgedehnt
würde. Als Durchschnittsgeschwindigkeit der Dampfer wurden in der dem Ge¬
setze beigefügten Anlage 11^ Knoten gefordert. Das diesen Beschlüssen ent-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224318"/>
          <fw type="header" place="top"> Unsre Postdampferlinien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_195" prev="#ID_194"> wie im Norden so groß, daß die Überzeugung, daß diese &#x2014; ich möchte sagen &#x2014;<lb/>
»chirurgische Operation« zur Heilung der alten deutschen Erbkrankheiten not¬<lb/>
wendig war; sobald sie sich Bahn brach, war auch aller Groll vergessen, und<lb/>
wir konnten schon im Jahre 1870 uns überzeugen, daß das Gefühl der<lb/>
nationalen Einheit durch das Andenken dieses Bürgerkrieges nicht gestört war,<lb/>
und daß wir alle als »ein einig Volk von Brüdern" den Angriffen des Aus¬<lb/>
landes entgegentreten konnten. Das schwebte mir als »Völkerfrühling« vor;<lb/>
daß wir darauf die alten deutschen Grenzlünder wiedergewonnen, die nationale<lb/>
Einheit des Volkes begründeten, einen deutschen Reichstag um uns versammelt<lb/>
sahen, den deutsche» Kaiser wieder erstehen sahen, das alles schwebte mir als<lb/>
»Völkerfrühling« vor, nicht die heutige Kolonialpolitik, die bloß eine Episode<lb/>
bildet in dem Rückgänge, den wir seitdem gemacht haben. Dieser Völker¬<lb/>
frühling hielt nur wenige Jahre nach dem großen Siege vor. Ich weiß nicht,<lb/>
ob der Milliardensegen schon erstickend auf ihn gewirkt hat. Aber dann kam,<lb/>
was ich unter dem Begriffe »Loki« verstand: der alte deutsche Parteifeind, der<lb/>
Parteihader, der in dynastischen und in konfessionellen, in Stammesverschieden¬<lb/>
heiten und in den Fraktionskämpfen seine Nahrung findet; der übertrug sich<lb/>
auf unser öffentliches Leben, auf unsre Parlamente, und wir sind angekommen<lb/>
in einem Zustande unsers öffentlichen Lebens, wo die Regierungen zwar treu<lb/>
zusammenhalten, im deutschen Reichstage aber der Hort der Einheit, den ich<lb/>
darin gesucht und gehofft hatte, nicht zu finden ist, sondern der Parteigeist<lb/>
überwuchert uns. Und der Parteigeist, wenn er mit seiner Lokistimme den Ur¬<lb/>
Wähler Hödur, der die Tragweite der Dinge nicht beurteilen kann, verleitet,<lb/>
daß er das eigne Vaterland erschlage, der ist es, den ich anklage vor Gott<lb/>
nud der Geschichte, wenn das ganze herrliche Werk unsrer Nation von 1866<lb/>
und 1870 wieder in Verfall gerät und durch die Feder hier verdorben wird,<lb/>
nachdem es durch das Schwert geschaffen wurde."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_196" next="#ID_197"> Der tiefe Eindruck, den diese Rede auf die Anwesenden gemacht hatte,<lb/>
äußerte sich in einem Beifallsjubel, wie er seit den Tagen der höchsten natio¬<lb/>
nalen Begeisterung im Juli 1870 im Reichstage nicht mehr gehört worden<lb/>
war. In der weitern Debatte, die noch zu scharfen Auseinandersetzungen<lb/>
zwischen dem Reichskanzler und den Führern der Oppositionsparteien Ver¬<lb/>
anlassung gab, traten die Fragen der allgemeinen und der Kolonialpolitik in<lb/>
den Vordergrund. Schließlich wurde die Verbindung nach Ostasien und Australien<lb/>
genehmigt, die nach Afrika dagegen gestrichen. Der Betrag der zur Unterhaltung<lb/>
der bewilligten Linien zu zahlenden Beihilfe wurde für einen Zeitraum von<lb/>
fünfzehn Jahren auf vier Millionen Mark und der für die Mittelmeerlinie<lb/>
auf 200000 Mark jährlich festgesetzt. Bei der dritten Lesung des Gesetzes,<lb/>
am 23. Mürz 1885, erhöhte der Reichstag die letztere Summe auf 400000 Mark<lb/>
und knüpfte daran die Bedingung, daß die Mittelmeerlinie bis Trieft ausgedehnt<lb/>
würde. Als Durchschnittsgeschwindigkeit der Dampfer wurden in der dem Ge¬<lb/>
setze beigefügten Anlage 11^ Knoten gefordert. Das diesen Beschlüssen ent-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0072] Unsre Postdampferlinien wie im Norden so groß, daß die Überzeugung, daß diese — ich möchte sagen — »chirurgische Operation« zur Heilung der alten deutschen Erbkrankheiten not¬ wendig war; sobald sie sich Bahn brach, war auch aller Groll vergessen, und wir konnten schon im Jahre 1870 uns überzeugen, daß das Gefühl der nationalen Einheit durch das Andenken dieses Bürgerkrieges nicht gestört war, und daß wir alle als »ein einig Volk von Brüdern" den Angriffen des Aus¬ landes entgegentreten konnten. Das schwebte mir als »Völkerfrühling« vor; daß wir darauf die alten deutschen Grenzlünder wiedergewonnen, die nationale Einheit des Volkes begründeten, einen deutschen Reichstag um uns versammelt sahen, den deutsche» Kaiser wieder erstehen sahen, das alles schwebte mir als »Völkerfrühling« vor, nicht die heutige Kolonialpolitik, die bloß eine Episode bildet in dem Rückgänge, den wir seitdem gemacht haben. Dieser Völker¬ frühling hielt nur wenige Jahre nach dem großen Siege vor. Ich weiß nicht, ob der Milliardensegen schon erstickend auf ihn gewirkt hat. Aber dann kam, was ich unter dem Begriffe »Loki« verstand: der alte deutsche Parteifeind, der Parteihader, der in dynastischen und in konfessionellen, in Stammesverschieden¬ heiten und in den Fraktionskämpfen seine Nahrung findet; der übertrug sich auf unser öffentliches Leben, auf unsre Parlamente, und wir sind angekommen in einem Zustande unsers öffentlichen Lebens, wo die Regierungen zwar treu zusammenhalten, im deutschen Reichstage aber der Hort der Einheit, den ich darin gesucht und gehofft hatte, nicht zu finden ist, sondern der Parteigeist überwuchert uns. Und der Parteigeist, wenn er mit seiner Lokistimme den Ur¬ Wähler Hödur, der die Tragweite der Dinge nicht beurteilen kann, verleitet, daß er das eigne Vaterland erschlage, der ist es, den ich anklage vor Gott nud der Geschichte, wenn das ganze herrliche Werk unsrer Nation von 1866 und 1870 wieder in Verfall gerät und durch die Feder hier verdorben wird, nachdem es durch das Schwert geschaffen wurde." Der tiefe Eindruck, den diese Rede auf die Anwesenden gemacht hatte, äußerte sich in einem Beifallsjubel, wie er seit den Tagen der höchsten natio¬ nalen Begeisterung im Juli 1870 im Reichstage nicht mehr gehört worden war. In der weitern Debatte, die noch zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen dem Reichskanzler und den Führern der Oppositionsparteien Ver¬ anlassung gab, traten die Fragen der allgemeinen und der Kolonialpolitik in den Vordergrund. Schließlich wurde die Verbindung nach Ostasien und Australien genehmigt, die nach Afrika dagegen gestrichen. Der Betrag der zur Unterhaltung der bewilligten Linien zu zahlenden Beihilfe wurde für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren auf vier Millionen Mark und der für die Mittelmeerlinie auf 200000 Mark jährlich festgesetzt. Bei der dritten Lesung des Gesetzes, am 23. Mürz 1885, erhöhte der Reichstag die letztere Summe auf 400000 Mark und knüpfte daran die Bedingung, daß die Mittelmeerlinie bis Trieft ausgedehnt würde. Als Durchschnittsgeschwindigkeit der Dampfer wurden in der dem Ge¬ setze beigefügten Anlage 11^ Knoten gefordert. Das diesen Beschlüssen ent-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/72
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/72>, abgerufen am 20.09.2024.