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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Line Geschichte von Florenz

ihres Volkes, die höhern unter ihnen Söhne von Feudalherren, die niedern
Bürgers- und Bauerssöhne, in den Anschauungen ihrer Verwandtschaft auf¬
gewachsen und durch ihre geistliche Stellung einerseits vor Mangel geschützt,
also der Arbeit um den Lebensunterhalt überhoben, andrerseits durch Privilegien
vor Anklagen gesichert, was beides die Laster weit mehr begünstigte als die
Tugenden. So kam es, daß Florenz trotz des Christentums erst am Ausgange
des Mittelalters ungefähr den Grad von Humanität erreichte, dessen sich Athen
zur Zeit des Perikles hatte rühmen dürfen, und daß es in der geschlechtlichen
Sittlichkeit eher tiefer als höher gestanden hat. Nur in einem Punkte dürfte
es besser gewesen sein als seine heidnische Vorgängerin, in der Mildthätigkeit
gegen die Armen und in dem Mitleid mit den Unterdrückten. Vorzugsweise auf
diesem Gebiete wurden die Gewissen von den bessern Lehrern des Christentums
von Zeit zu Zeit aufgerüttelt und mit Wundergeschichten geschreckt. Ein Graf
Hubert, um ein Beispiel anzuführen, hatte einer armen Witwe ein Schwein
gestohlen und ließ es braten. Die Beraubte flehte die Gräfin an, ihr wenigstens
von dem Braten ein Stückchen zu schenken, allein "die hochmütige Matrone"
wies die arme Frau mit harten Worten ab. Nachdem sie den Braten ver¬
speist hatte, setzte sie sich, um zu verdauen, auf den Burgwall und wurde da
durch einen Felsensturz zerschmettert. Ein Bernardinus, Herr von Anghiari,
beschloß 1104 auf dem Krankenlager, in Zukunft die "überflüssigen Plün¬
derungen zu unterlasse"," die seine Verwalter und Diener gegen die Armen
zu verüben pflegten; und um sie desto gründlicher zu verhindern, schenkte er
"zum Heil seiner Seele" einen Teil seiner Besitzungen dem Kloster Camaldoli
und allen seinen Hörigen die Freiheit; den Masnadieri (das waren die zum
Waffendienst verpflichteten Leute des Burgherrn) von Anghiari gab er ein
Drittel der Ländereien, die sie bisher inne gehabt hatten, zu eigen. Diese
befreiten Hörigen bildeten eine Gemeinde und wählten sich Konsuln; 1163 hat
Rainald von Köln diese Kommune nicht allein anerkannt, sondern für reichs-
unmittclbar erklärt. Hier finden wir also den christlichen Glauben als eine
politisch befreiende und die Gemeindebildung, das freie Verfafsungslebcn er¬
möglichende Kraft wirksam.

Das war nun freilich auf dein Lande, die Städte bedurften der religiösen
Anregung nicht; bei ihnen wirkten der Selbsterhaltungstrieb, die Habsucht und
der an den Erfolgen erstarkende Ehrgeiz zusammen, Freiheitsliebe und politisches
Leben zu erzeugen und ihnen die Freiheit wirklich zu verschaffen. Einen Ver-
heernngszug nach dem andern hatten die italienischen Städte über sich ergehen
lassen müssen; sie hatten geblutet, sie waren unzähligemal ihrer in mühseliger
Arbeit geschaffnen Habe beraubt worden, aber sie waren geblieben, ihre Mauern
standen noch, während die Nciubervölker der Reihe nach untergegangen waren
und ein Königsgeschlecht das andre verdrängt hatte. Zur Zeit der Uugarn-
einfülle waren die Städte schon die Zuflucht der Landbevölkerung, viel wichtiger


Line Geschichte von Florenz

ihres Volkes, die höhern unter ihnen Söhne von Feudalherren, die niedern
Bürgers- und Bauerssöhne, in den Anschauungen ihrer Verwandtschaft auf¬
gewachsen und durch ihre geistliche Stellung einerseits vor Mangel geschützt,
also der Arbeit um den Lebensunterhalt überhoben, andrerseits durch Privilegien
vor Anklagen gesichert, was beides die Laster weit mehr begünstigte als die
Tugenden. So kam es, daß Florenz trotz des Christentums erst am Ausgange
des Mittelalters ungefähr den Grad von Humanität erreichte, dessen sich Athen
zur Zeit des Perikles hatte rühmen dürfen, und daß es in der geschlechtlichen
Sittlichkeit eher tiefer als höher gestanden hat. Nur in einem Punkte dürfte
es besser gewesen sein als seine heidnische Vorgängerin, in der Mildthätigkeit
gegen die Armen und in dem Mitleid mit den Unterdrückten. Vorzugsweise auf
diesem Gebiete wurden die Gewissen von den bessern Lehrern des Christentums
von Zeit zu Zeit aufgerüttelt und mit Wundergeschichten geschreckt. Ein Graf
Hubert, um ein Beispiel anzuführen, hatte einer armen Witwe ein Schwein
gestohlen und ließ es braten. Die Beraubte flehte die Gräfin an, ihr wenigstens
von dem Braten ein Stückchen zu schenken, allein „die hochmütige Matrone"
wies die arme Frau mit harten Worten ab. Nachdem sie den Braten ver¬
speist hatte, setzte sie sich, um zu verdauen, auf den Burgwall und wurde da
durch einen Felsensturz zerschmettert. Ein Bernardinus, Herr von Anghiari,
beschloß 1104 auf dem Krankenlager, in Zukunft die „überflüssigen Plün¬
derungen zu unterlasse»," die seine Verwalter und Diener gegen die Armen
zu verüben pflegten; und um sie desto gründlicher zu verhindern, schenkte er
„zum Heil seiner Seele" einen Teil seiner Besitzungen dem Kloster Camaldoli
und allen seinen Hörigen die Freiheit; den Masnadieri (das waren die zum
Waffendienst verpflichteten Leute des Burgherrn) von Anghiari gab er ein
Drittel der Ländereien, die sie bisher inne gehabt hatten, zu eigen. Diese
befreiten Hörigen bildeten eine Gemeinde und wählten sich Konsuln; 1163 hat
Rainald von Köln diese Kommune nicht allein anerkannt, sondern für reichs-
unmittclbar erklärt. Hier finden wir also den christlichen Glauben als eine
politisch befreiende und die Gemeindebildung, das freie Verfafsungslebcn er¬
möglichende Kraft wirksam.

Das war nun freilich auf dein Lande, die Städte bedurften der religiösen
Anregung nicht; bei ihnen wirkten der Selbsterhaltungstrieb, die Habsucht und
der an den Erfolgen erstarkende Ehrgeiz zusammen, Freiheitsliebe und politisches
Leben zu erzeugen und ihnen die Freiheit wirklich zu verschaffen. Einen Ver-
heernngszug nach dem andern hatten die italienischen Städte über sich ergehen
lassen müssen; sie hatten geblutet, sie waren unzähligemal ihrer in mühseliger
Arbeit geschaffnen Habe beraubt worden, aber sie waren geblieben, ihre Mauern
standen noch, während die Nciubervölker der Reihe nach untergegangen waren
und ein Königsgeschlecht das andre verdrängt hatte. Zur Zeit der Uugarn-
einfülle waren die Städte schon die Zuflucht der Landbevölkerung, viel wichtiger


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[0643] Line Geschichte von Florenz ihres Volkes, die höhern unter ihnen Söhne von Feudalherren, die niedern Bürgers- und Bauerssöhne, in den Anschauungen ihrer Verwandtschaft auf¬ gewachsen und durch ihre geistliche Stellung einerseits vor Mangel geschützt, also der Arbeit um den Lebensunterhalt überhoben, andrerseits durch Privilegien vor Anklagen gesichert, was beides die Laster weit mehr begünstigte als die Tugenden. So kam es, daß Florenz trotz des Christentums erst am Ausgange des Mittelalters ungefähr den Grad von Humanität erreichte, dessen sich Athen zur Zeit des Perikles hatte rühmen dürfen, und daß es in der geschlechtlichen Sittlichkeit eher tiefer als höher gestanden hat. Nur in einem Punkte dürfte es besser gewesen sein als seine heidnische Vorgängerin, in der Mildthätigkeit gegen die Armen und in dem Mitleid mit den Unterdrückten. Vorzugsweise auf diesem Gebiete wurden die Gewissen von den bessern Lehrern des Christentums von Zeit zu Zeit aufgerüttelt und mit Wundergeschichten geschreckt. Ein Graf Hubert, um ein Beispiel anzuführen, hatte einer armen Witwe ein Schwein gestohlen und ließ es braten. Die Beraubte flehte die Gräfin an, ihr wenigstens von dem Braten ein Stückchen zu schenken, allein „die hochmütige Matrone" wies die arme Frau mit harten Worten ab. Nachdem sie den Braten ver¬ speist hatte, setzte sie sich, um zu verdauen, auf den Burgwall und wurde da durch einen Felsensturz zerschmettert. Ein Bernardinus, Herr von Anghiari, beschloß 1104 auf dem Krankenlager, in Zukunft die „überflüssigen Plün¬ derungen zu unterlasse»," die seine Verwalter und Diener gegen die Armen zu verüben pflegten; und um sie desto gründlicher zu verhindern, schenkte er „zum Heil seiner Seele" einen Teil seiner Besitzungen dem Kloster Camaldoli und allen seinen Hörigen die Freiheit; den Masnadieri (das waren die zum Waffendienst verpflichteten Leute des Burgherrn) von Anghiari gab er ein Drittel der Ländereien, die sie bisher inne gehabt hatten, zu eigen. Diese befreiten Hörigen bildeten eine Gemeinde und wählten sich Konsuln; 1163 hat Rainald von Köln diese Kommune nicht allein anerkannt, sondern für reichs- unmittclbar erklärt. Hier finden wir also den christlichen Glauben als eine politisch befreiende und die Gemeindebildung, das freie Verfafsungslebcn er¬ möglichende Kraft wirksam. Das war nun freilich auf dein Lande, die Städte bedurften der religiösen Anregung nicht; bei ihnen wirkten der Selbsterhaltungstrieb, die Habsucht und der an den Erfolgen erstarkende Ehrgeiz zusammen, Freiheitsliebe und politisches Leben zu erzeugen und ihnen die Freiheit wirklich zu verschaffen. Einen Ver- heernngszug nach dem andern hatten die italienischen Städte über sich ergehen lassen müssen; sie hatten geblutet, sie waren unzähligemal ihrer in mühseliger Arbeit geschaffnen Habe beraubt worden, aber sie waren geblieben, ihre Mauern standen noch, während die Nciubervölker der Reihe nach untergegangen waren und ein Königsgeschlecht das andre verdrängt hatte. Zur Zeit der Uugarn- einfülle waren die Städte schon die Zuflucht der Landbevölkerung, viel wichtiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/643>, abgerufen am 20.09.2024.