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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

Jungfrau Maria als Schutzpatronin der Heiratslustigen hingestellt wird. Be¬
sonders anmutend erscheint so wenig der Gedanke wie seine Ausführung. Keller
wollte damit namentlich "die Freiheit der Stoffwahl gegenüber dem Terro¬
rismus des äußerlich Zeitgemäßen behaupten" (Brief an Bischer 19. Mai
1872, an Kuh 3. April 1872), er sah aber zugleich darin "eine deutliche, gut
protestantische Verspottung katholischer Mythologie."

Wenn wir uns nach diesem Überblick eine Vorstellung von dem Wert der
Kellerschen Novellendichtung machen wollen, so tritt uns zunächst der Reich¬
tum seiner Phantasie und seine Lust am Fabuliren entgegen. In dieser Be¬
ziehung ist er ein Romantiker ersten Ranges. Nirgends tritt uns die Prosa
des wirklichen Alltagslebens entgegen, sondern überall ist es eine phantastische
Welt, in die er uns führt, seien es die märchenhaften Gebilde seiner Legenden,
seien es die Schilderungen aus Zürichs fernerer Vergangenheit, oder die
näher liegende der Seldwyler Schildbürgerei. Aber er weiß die Gegenstände
und Personen so anschaulich zu schildern, so bis ins einzelste auszumalen,
daß sie den vollkommensten Schein des Wirklichen gewinnen, auch da, wo in
der Nachprüfung des kritischen Verstandes UnWahrscheinlichkeiten hervortreten.
Namentlich in der Ausmalung einzelner Miniaturbilder hat er großartiges ge¬
leistet: man denke an den nächtlichen Überfall der alten Manessischen Burg, den
Brand und den Tod des dort hausenden Narren ("Der Narr auf Mcmegg"),
an die Porträts von Landolts Geliebten im "Landvogt von Greifensee," an
die kurze Schilderung des Heereszuges mit dem ernsten Zwingli in "Ursula."
Wie ein Zeitgemälde wirkt im "Landvogt" die Vorführung der Gesellschaft
bei Geßner mit Bodmers Selbstbespiegelung; der Charakter der Zeit, der Zopf¬
geschmack, die Allegorisirungssucht usw. sind vorzüglich getroffen. Man denke
an die Ausmalung des Gegenständlichen in Seldwyla, an den nächtlichen Tanz
über die Heide hinter dem fiedelnden Zigeuner her in "Romeo und Julia,"
an die Feste in "Kleider machen Leute," in den "Sieben Aufrechten" und dem
"Verlornen Lachen" u. a. Wollte ich vollends auf die einzelnen Persönlich¬
keiten eingehen, die er uns so plastisch vors Auge zaubert, ich fände des Lobes
und der Beispiele kein Ende. Hierin hat Keller nur wenige seinesgleichen.

Ausgezeichnet ist der Erzähler auch durch seinen feinen Humor, der fast
alle seine Geschichten durchzieht, und durch den starken Zug, überall das Leben
von der komischen Seite zu erfassen und darzustellen. Er hat einen besondern
Blick für die kleinen und großen Schwächen des menschlichen Lebens und
Charakters. Oft begnügt er sich damit, sie einfach ins Licht zu stellen, und
erzielt schon dadurch eine komische Wirkung, öfter aber erhebt er sich über sie
mit einem überlegnen, sarkastischen Lächeln und wird auf diese Weise humoristisch.
Aber es ist eine eigne Art von Humor. Nicht der Humor des Gemütes, der
innigsten Teilnahme des Herzens, der Humor, von dem man sagt, daß er
unter Thränen lächle. Bei Keller überwiegt das Denken. Sein Humor ist


Gottfried Keller und seine Novellen

Jungfrau Maria als Schutzpatronin der Heiratslustigen hingestellt wird. Be¬
sonders anmutend erscheint so wenig der Gedanke wie seine Ausführung. Keller
wollte damit namentlich „die Freiheit der Stoffwahl gegenüber dem Terro¬
rismus des äußerlich Zeitgemäßen behaupten" (Brief an Bischer 19. Mai
1872, an Kuh 3. April 1872), er sah aber zugleich darin „eine deutliche, gut
protestantische Verspottung katholischer Mythologie."

Wenn wir uns nach diesem Überblick eine Vorstellung von dem Wert der
Kellerschen Novellendichtung machen wollen, so tritt uns zunächst der Reich¬
tum seiner Phantasie und seine Lust am Fabuliren entgegen. In dieser Be¬
ziehung ist er ein Romantiker ersten Ranges. Nirgends tritt uns die Prosa
des wirklichen Alltagslebens entgegen, sondern überall ist es eine phantastische
Welt, in die er uns führt, seien es die märchenhaften Gebilde seiner Legenden,
seien es die Schilderungen aus Zürichs fernerer Vergangenheit, oder die
näher liegende der Seldwyler Schildbürgerei. Aber er weiß die Gegenstände
und Personen so anschaulich zu schildern, so bis ins einzelste auszumalen,
daß sie den vollkommensten Schein des Wirklichen gewinnen, auch da, wo in
der Nachprüfung des kritischen Verstandes UnWahrscheinlichkeiten hervortreten.
Namentlich in der Ausmalung einzelner Miniaturbilder hat er großartiges ge¬
leistet: man denke an den nächtlichen Überfall der alten Manessischen Burg, den
Brand und den Tod des dort hausenden Narren („Der Narr auf Mcmegg"),
an die Porträts von Landolts Geliebten im „Landvogt von Greifensee," an
die kurze Schilderung des Heereszuges mit dem ernsten Zwingli in „Ursula."
Wie ein Zeitgemälde wirkt im „Landvogt" die Vorführung der Gesellschaft
bei Geßner mit Bodmers Selbstbespiegelung; der Charakter der Zeit, der Zopf¬
geschmack, die Allegorisirungssucht usw. sind vorzüglich getroffen. Man denke
an die Ausmalung des Gegenständlichen in Seldwyla, an den nächtlichen Tanz
über die Heide hinter dem fiedelnden Zigeuner her in „Romeo und Julia,"
an die Feste in „Kleider machen Leute," in den „Sieben Aufrechten" und dem
„Verlornen Lachen" u. a. Wollte ich vollends auf die einzelnen Persönlich¬
keiten eingehen, die er uns so plastisch vors Auge zaubert, ich fände des Lobes
und der Beispiele kein Ende. Hierin hat Keller nur wenige seinesgleichen.

Ausgezeichnet ist der Erzähler auch durch seinen feinen Humor, der fast
alle seine Geschichten durchzieht, und durch den starken Zug, überall das Leben
von der komischen Seite zu erfassen und darzustellen. Er hat einen besondern
Blick für die kleinen und großen Schwächen des menschlichen Lebens und
Charakters. Oft begnügt er sich damit, sie einfach ins Licht zu stellen, und
erzielt schon dadurch eine komische Wirkung, öfter aber erhebt er sich über sie
mit einem überlegnen, sarkastischen Lächeln und wird auf diese Weise humoristisch.
Aber es ist eine eigne Art von Humor. Nicht der Humor des Gemütes, der
innigsten Teilnahme des Herzens, der Humor, von dem man sagt, daß er
unter Thränen lächle. Bei Keller überwiegt das Denken. Sein Humor ist


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[0544] Gottfried Keller und seine Novellen Jungfrau Maria als Schutzpatronin der Heiratslustigen hingestellt wird. Be¬ sonders anmutend erscheint so wenig der Gedanke wie seine Ausführung. Keller wollte damit namentlich „die Freiheit der Stoffwahl gegenüber dem Terro¬ rismus des äußerlich Zeitgemäßen behaupten" (Brief an Bischer 19. Mai 1872, an Kuh 3. April 1872), er sah aber zugleich darin „eine deutliche, gut protestantische Verspottung katholischer Mythologie." Wenn wir uns nach diesem Überblick eine Vorstellung von dem Wert der Kellerschen Novellendichtung machen wollen, so tritt uns zunächst der Reich¬ tum seiner Phantasie und seine Lust am Fabuliren entgegen. In dieser Be¬ ziehung ist er ein Romantiker ersten Ranges. Nirgends tritt uns die Prosa des wirklichen Alltagslebens entgegen, sondern überall ist es eine phantastische Welt, in die er uns führt, seien es die märchenhaften Gebilde seiner Legenden, seien es die Schilderungen aus Zürichs fernerer Vergangenheit, oder die näher liegende der Seldwyler Schildbürgerei. Aber er weiß die Gegenstände und Personen so anschaulich zu schildern, so bis ins einzelste auszumalen, daß sie den vollkommensten Schein des Wirklichen gewinnen, auch da, wo in der Nachprüfung des kritischen Verstandes UnWahrscheinlichkeiten hervortreten. Namentlich in der Ausmalung einzelner Miniaturbilder hat er großartiges ge¬ leistet: man denke an den nächtlichen Überfall der alten Manessischen Burg, den Brand und den Tod des dort hausenden Narren („Der Narr auf Mcmegg"), an die Porträts von Landolts Geliebten im „Landvogt von Greifensee," an die kurze Schilderung des Heereszuges mit dem ernsten Zwingli in „Ursula." Wie ein Zeitgemälde wirkt im „Landvogt" die Vorführung der Gesellschaft bei Geßner mit Bodmers Selbstbespiegelung; der Charakter der Zeit, der Zopf¬ geschmack, die Allegorisirungssucht usw. sind vorzüglich getroffen. Man denke an die Ausmalung des Gegenständlichen in Seldwyla, an den nächtlichen Tanz über die Heide hinter dem fiedelnden Zigeuner her in „Romeo und Julia," an die Feste in „Kleider machen Leute," in den „Sieben Aufrechten" und dem „Verlornen Lachen" u. a. Wollte ich vollends auf die einzelnen Persönlich¬ keiten eingehen, die er uns so plastisch vors Auge zaubert, ich fände des Lobes und der Beispiele kein Ende. Hierin hat Keller nur wenige seinesgleichen. Ausgezeichnet ist der Erzähler auch durch seinen feinen Humor, der fast alle seine Geschichten durchzieht, und durch den starken Zug, überall das Leben von der komischen Seite zu erfassen und darzustellen. Er hat einen besondern Blick für die kleinen und großen Schwächen des menschlichen Lebens und Charakters. Oft begnügt er sich damit, sie einfach ins Licht zu stellen, und erzielt schon dadurch eine komische Wirkung, öfter aber erhebt er sich über sie mit einem überlegnen, sarkastischen Lächeln und wird auf diese Weise humoristisch. Aber es ist eine eigne Art von Humor. Nicht der Humor des Gemütes, der innigsten Teilnahme des Herzens, der Humor, von dem man sagt, daß er unter Thränen lächle. Bei Keller überwiegt das Denken. Sein Humor ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/544>, abgerufen am 29.06.2024.