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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

einem etwas eingebildeten Jüngling, einige Geschichten erzählt, um seine Sucht
nach Originalität zu heilen und auf den rechten Weg bürgerlicher Tüchtigkeit
zu leiten. Glücklicherweise ist dieser trocken lehrhafte Gedanke dann in den
Erzählungen selbst so gut wie aufgegeben, er drängt sich wenigstens, zum Vor¬
teil der Geschichten, nirgends hervor. Der junge Jacques und der alte Pate
tauchen uur am Ende jeder Geschichte wieder auf, und mit dem Schlüsse der
dritten verschwinden sie ganz, sodaß die Geschichten von deu "Aufrechten" und
von "Ursula" sür sich stehen. Die Rahmendichtung, an sich nicht bedeutend,
ist auch nicht zu voller Wahrscheinlichkeit erhoben. Denn gleich die erste Ge¬
schichte von der Entstehung der Manessischen Minnesängerhandschrift, die in
die Erzählung von Schreiber Hadlaub verflochten ist, enthält viel gelehrtes
Material, das einem Erzähler nicht ohne weiteres zu Gebote steht.

Weit mehr durchgeführt ist die Umrahmung der verschiedenartigsten Ge¬
schichten im "Sinngedicht." Einerseits erfahren wir die Erlebnisse des jungen
Gelehrten, der durch ein Logausches Sinngedicht vom Studirtisch ins Leben
hinausgetrieben wird, um "eine weiße Galathee" zu suchen, die "beim Küssen
errötend lacht." Andrerseits sind wieder Geschichten eingefügt, die mit dieser
Idee gar nicht zusammenhängen, Geschichten, mit deren Erzählung sich nur
die Hauptpersonen die Zeit vertreiben. Aber auch hier ist Keller seiner Fiktion
nicht immer treu geblieben; er vergißt zuweilen ganz, wer erzählt, und das^
wird doch recht fühlbar. Auch in ethischer Beziehung. Was die märchenhafte
Lucie dem fremden jungen Manne vorplaudert, ist stellenweise mindestens un¬
fein. Keller merkt auch das Unwahrscheinliche zum Teil selbst und macht sich
in Lueies Worten deu Einwurf: "Sie müssen sich nicht Wundern, daß ich diese
Einzelheiten so genau kenne, ich habe sie sattsam von beiden Leuten erzählen
hören." Noch schlimmer ist es mit der Geschichte "Regime," die der junge
Held dem Madchen erzählt, besonders das Ende, das er vorbringt, als die
Dienerinnen schon zu Bett geschickt sind, und er mit ihr bis Mitternacht
allein sitzt. Die Neroanekdote ist geradezu taktlos. Wo ist derartiges möglich?

Die Schwierigkeit, die in dieser Zusammenfassung von Erzählungen liegt,
und die keineswegs der Wirkung entspricht, hat Keller auch gefühlt. Er
kündigt in einem Briefe vom 9. September 1881 an, daß dies nun der letzte
sogenannte Cyklus sei, den er mache. "Man ist doch in mancher Beziehung
genirt und beschränkt durch diese Form; immer muß man daran denken, wer
erzählt und wem erzählt wird usw." Dennoch bilden die "Sieben Legenden"
auch eine Art Cyklus, schon dadurch, daß "der Verfasser -- wie er im Vorwort
sagt -- die Lust zu einer Reproduktion jener abgebrochen schwebenden Gebilde
spürte, wobei ihnen freilich zuweilen das Antlitz nach einer andern Himmels¬
gegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der überkommenen Gestalt
schauen." Sodann aber namentlich dadurch, daß eine gemeinsame Idee zu
Grunde liegt, indem, wie er selber sagt (Brief vom 22. April 1860), die


Gottfried Keller und seine Novellen

einem etwas eingebildeten Jüngling, einige Geschichten erzählt, um seine Sucht
nach Originalität zu heilen und auf den rechten Weg bürgerlicher Tüchtigkeit
zu leiten. Glücklicherweise ist dieser trocken lehrhafte Gedanke dann in den
Erzählungen selbst so gut wie aufgegeben, er drängt sich wenigstens, zum Vor¬
teil der Geschichten, nirgends hervor. Der junge Jacques und der alte Pate
tauchen uur am Ende jeder Geschichte wieder auf, und mit dem Schlüsse der
dritten verschwinden sie ganz, sodaß die Geschichten von deu „Aufrechten" und
von „Ursula" sür sich stehen. Die Rahmendichtung, an sich nicht bedeutend,
ist auch nicht zu voller Wahrscheinlichkeit erhoben. Denn gleich die erste Ge¬
schichte von der Entstehung der Manessischen Minnesängerhandschrift, die in
die Erzählung von Schreiber Hadlaub verflochten ist, enthält viel gelehrtes
Material, das einem Erzähler nicht ohne weiteres zu Gebote steht.

Weit mehr durchgeführt ist die Umrahmung der verschiedenartigsten Ge¬
schichten im „Sinngedicht." Einerseits erfahren wir die Erlebnisse des jungen
Gelehrten, der durch ein Logausches Sinngedicht vom Studirtisch ins Leben
hinausgetrieben wird, um „eine weiße Galathee" zu suchen, die „beim Küssen
errötend lacht." Andrerseits sind wieder Geschichten eingefügt, die mit dieser
Idee gar nicht zusammenhängen, Geschichten, mit deren Erzählung sich nur
die Hauptpersonen die Zeit vertreiben. Aber auch hier ist Keller seiner Fiktion
nicht immer treu geblieben; er vergißt zuweilen ganz, wer erzählt, und das^
wird doch recht fühlbar. Auch in ethischer Beziehung. Was die märchenhafte
Lucie dem fremden jungen Manne vorplaudert, ist stellenweise mindestens un¬
fein. Keller merkt auch das Unwahrscheinliche zum Teil selbst und macht sich
in Lueies Worten deu Einwurf: „Sie müssen sich nicht Wundern, daß ich diese
Einzelheiten so genau kenne, ich habe sie sattsam von beiden Leuten erzählen
hören." Noch schlimmer ist es mit der Geschichte „Regime," die der junge
Held dem Madchen erzählt, besonders das Ende, das er vorbringt, als die
Dienerinnen schon zu Bett geschickt sind, und er mit ihr bis Mitternacht
allein sitzt. Die Neroanekdote ist geradezu taktlos. Wo ist derartiges möglich?

Die Schwierigkeit, die in dieser Zusammenfassung von Erzählungen liegt,
und die keineswegs der Wirkung entspricht, hat Keller auch gefühlt. Er
kündigt in einem Briefe vom 9. September 1881 an, daß dies nun der letzte
sogenannte Cyklus sei, den er mache. „Man ist doch in mancher Beziehung
genirt und beschränkt durch diese Form; immer muß man daran denken, wer
erzählt und wem erzählt wird usw." Dennoch bilden die „Sieben Legenden"
auch eine Art Cyklus, schon dadurch, daß „der Verfasser — wie er im Vorwort
sagt — die Lust zu einer Reproduktion jener abgebrochen schwebenden Gebilde
spürte, wobei ihnen freilich zuweilen das Antlitz nach einer andern Himmels¬
gegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der überkommenen Gestalt
schauen." Sodann aber namentlich dadurch, daß eine gemeinsame Idee zu
Grunde liegt, indem, wie er selber sagt (Brief vom 22. April 1860), die


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[0543] Gottfried Keller und seine Novellen einem etwas eingebildeten Jüngling, einige Geschichten erzählt, um seine Sucht nach Originalität zu heilen und auf den rechten Weg bürgerlicher Tüchtigkeit zu leiten. Glücklicherweise ist dieser trocken lehrhafte Gedanke dann in den Erzählungen selbst so gut wie aufgegeben, er drängt sich wenigstens, zum Vor¬ teil der Geschichten, nirgends hervor. Der junge Jacques und der alte Pate tauchen uur am Ende jeder Geschichte wieder auf, und mit dem Schlüsse der dritten verschwinden sie ganz, sodaß die Geschichten von deu „Aufrechten" und von „Ursula" sür sich stehen. Die Rahmendichtung, an sich nicht bedeutend, ist auch nicht zu voller Wahrscheinlichkeit erhoben. Denn gleich die erste Ge¬ schichte von der Entstehung der Manessischen Minnesängerhandschrift, die in die Erzählung von Schreiber Hadlaub verflochten ist, enthält viel gelehrtes Material, das einem Erzähler nicht ohne weiteres zu Gebote steht. Weit mehr durchgeführt ist die Umrahmung der verschiedenartigsten Ge¬ schichten im „Sinngedicht." Einerseits erfahren wir die Erlebnisse des jungen Gelehrten, der durch ein Logausches Sinngedicht vom Studirtisch ins Leben hinausgetrieben wird, um „eine weiße Galathee" zu suchen, die „beim Küssen errötend lacht." Andrerseits sind wieder Geschichten eingefügt, die mit dieser Idee gar nicht zusammenhängen, Geschichten, mit deren Erzählung sich nur die Hauptpersonen die Zeit vertreiben. Aber auch hier ist Keller seiner Fiktion nicht immer treu geblieben; er vergißt zuweilen ganz, wer erzählt, und das^ wird doch recht fühlbar. Auch in ethischer Beziehung. Was die märchenhafte Lucie dem fremden jungen Manne vorplaudert, ist stellenweise mindestens un¬ fein. Keller merkt auch das Unwahrscheinliche zum Teil selbst und macht sich in Lueies Worten deu Einwurf: „Sie müssen sich nicht Wundern, daß ich diese Einzelheiten so genau kenne, ich habe sie sattsam von beiden Leuten erzählen hören." Noch schlimmer ist es mit der Geschichte „Regime," die der junge Held dem Madchen erzählt, besonders das Ende, das er vorbringt, als die Dienerinnen schon zu Bett geschickt sind, und er mit ihr bis Mitternacht allein sitzt. Die Neroanekdote ist geradezu taktlos. Wo ist derartiges möglich? Die Schwierigkeit, die in dieser Zusammenfassung von Erzählungen liegt, und die keineswegs der Wirkung entspricht, hat Keller auch gefühlt. Er kündigt in einem Briefe vom 9. September 1881 an, daß dies nun der letzte sogenannte Cyklus sei, den er mache. „Man ist doch in mancher Beziehung genirt und beschränkt durch diese Form; immer muß man daran denken, wer erzählt und wem erzählt wird usw." Dennoch bilden die „Sieben Legenden" auch eine Art Cyklus, schon dadurch, daß „der Verfasser — wie er im Vorwort sagt — die Lust zu einer Reproduktion jener abgebrochen schwebenden Gebilde spürte, wobei ihnen freilich zuweilen das Antlitz nach einer andern Himmels¬ gegend hingewendet wurde, als nach welcher sie in der überkommenen Gestalt schauen." Sodann aber namentlich dadurch, daß eine gemeinsame Idee zu Grunde liegt, indem, wie er selber sagt (Brief vom 22. April 1860), die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/543>, abgerufen am 29.06.2024.