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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

scheute er immer mehr zurück. Wenn sie ein Zusammentreffen mit ihm im
Wirtshause herbeiführten, so hüllte er sich, wie Baechtold erzählt, in das be¬
rühmte Schweigen. "Am schwierigsten aber gestaltete sich die Sachlage, wenn
er sich unverhofft von einer größern Gesellschaft umgeben sah. Es konnte
leicht einer darunter sein, der ihm aus irgend einem Grunde unbequem war.
In diesen Fällen begann auf der hohen Stirne das bedrohliche Runzeln zu
spielen, und das Gewitter hing in der Luft. Ein Wort, eine Miene konnten
es zum Ausbruche bringen. Übrigens ging bei dem jähen Temperament Kellers
das heilige Donnerwetter oft auch bei anscheinend klarem Himmel los. Dann
ließ er sich zur Gewaltthätigkeit, die ihm sonst fremd war(?), hinreißen. Der
kleine Mann fuhr mit verblüffender Behendigkeit auf, stieß die Gläser UM,
wies einen Harmlosen vom Tische weg oder wurde gar handgemein. Fühlte
er sich tags darauf im Unrecht, schrieb er eine seiner berühmten Episteln, einen
Entschuldigungsbrief an den Betroffenen."'^)

"In den letzten Jahren mußten auch alte Bekannte die äußerste Behut¬
samkeit im Umgang mit Keller beobachten. Das Herbe, Bittere, Unschmack¬
hafte, Mißtrauische seines Wesens nahm mit dem Alter überHand. Dinge, die
ihn selbst angingen, konnte man fast gar nicht mehr berühren. Lob war selbst¬
verständlich von jeher ausgeschlossen; Tadel verletzte ihn leicht; schwieg man
ganz, so war es wieder nicht recht. Am besten stellten sich die, die ihn selten
sahen oder gar nur brieflich mit ihm verkehrten. Auch diejenigen, die so klug
Ware", ein heftiges Wort nicht böse zu nehmen. Wenn man erwägt, daß es
ihm eigentlich die letzten dreißig Jahre seines Lebens auf dieser Welt so schlecht
nicht ging, daß es ihm weder an Ruhm uoch Verehrung fehlte, daß Gottfried
Keller aber immer mehr zu Unmut, Argwohn, Reizbarkeit neigte, wird man
schon sagen dürfen: der sprichwörtlich gemordne Optimist konnte im Leben
(wie in seiner Dichtung übrigens zuweilen) ebenso starker Pessimist sein."^)

Im Jahre 1838 wurde ihm seine Schwester, die Führerin seines Haus¬
halts, genommen, und er vereinsamte ganz. Da erstand ihm in Arnold Böcklin
ein treuer Freund, der die letzten Jahre seines Lebens aufs rührendste für ihn
sorgte und zuletzt immer um ihn war. 1889 erlebte er noch die Ausgabe
seiner gesammelten Werke in zehn Bänden. In demselben Jahre wurde sein
letzter Geburtstag großartig gefeiert, obgleich er trank in Seelisberg weilte.
Als er im November heimkehrte, wurde er alsbald bettlägerig und ruhte von
nun an meist mehr oder weniger teilnahmlos, viel vor sich hin sinnend und
dann wieder laut phantcisirend (doch nicht im Fieber), bis ihn am 15. Juli
1890 der Tod abrief. Seine Leiche wurde, seinem Wunsch entsprechend, ver¬
brannt.




") Baechtold III, 2S9.
'*) Baechtold III, 213.
Gottfried Keller und seine Novellen

scheute er immer mehr zurück. Wenn sie ein Zusammentreffen mit ihm im
Wirtshause herbeiführten, so hüllte er sich, wie Baechtold erzählt, in das be¬
rühmte Schweigen. „Am schwierigsten aber gestaltete sich die Sachlage, wenn
er sich unverhofft von einer größern Gesellschaft umgeben sah. Es konnte
leicht einer darunter sein, der ihm aus irgend einem Grunde unbequem war.
In diesen Fällen begann auf der hohen Stirne das bedrohliche Runzeln zu
spielen, und das Gewitter hing in der Luft. Ein Wort, eine Miene konnten
es zum Ausbruche bringen. Übrigens ging bei dem jähen Temperament Kellers
das heilige Donnerwetter oft auch bei anscheinend klarem Himmel los. Dann
ließ er sich zur Gewaltthätigkeit, die ihm sonst fremd war(?), hinreißen. Der
kleine Mann fuhr mit verblüffender Behendigkeit auf, stieß die Gläser UM,
wies einen Harmlosen vom Tische weg oder wurde gar handgemein. Fühlte
er sich tags darauf im Unrecht, schrieb er eine seiner berühmten Episteln, einen
Entschuldigungsbrief an den Betroffenen."'^)

„In den letzten Jahren mußten auch alte Bekannte die äußerste Behut¬
samkeit im Umgang mit Keller beobachten. Das Herbe, Bittere, Unschmack¬
hafte, Mißtrauische seines Wesens nahm mit dem Alter überHand. Dinge, die
ihn selbst angingen, konnte man fast gar nicht mehr berühren. Lob war selbst¬
verständlich von jeher ausgeschlossen; Tadel verletzte ihn leicht; schwieg man
ganz, so war es wieder nicht recht. Am besten stellten sich die, die ihn selten
sahen oder gar nur brieflich mit ihm verkehrten. Auch diejenigen, die so klug
Ware», ein heftiges Wort nicht böse zu nehmen. Wenn man erwägt, daß es
ihm eigentlich die letzten dreißig Jahre seines Lebens auf dieser Welt so schlecht
nicht ging, daß es ihm weder an Ruhm uoch Verehrung fehlte, daß Gottfried
Keller aber immer mehr zu Unmut, Argwohn, Reizbarkeit neigte, wird man
schon sagen dürfen: der sprichwörtlich gemordne Optimist konnte im Leben
(wie in seiner Dichtung übrigens zuweilen) ebenso starker Pessimist sein."^)

Im Jahre 1838 wurde ihm seine Schwester, die Führerin seines Haus¬
halts, genommen, und er vereinsamte ganz. Da erstand ihm in Arnold Böcklin
ein treuer Freund, der die letzten Jahre seines Lebens aufs rührendste für ihn
sorgte und zuletzt immer um ihn war. 1889 erlebte er noch die Ausgabe
seiner gesammelten Werke in zehn Bänden. In demselben Jahre wurde sein
letzter Geburtstag großartig gefeiert, obgleich er trank in Seelisberg weilte.
Als er im November heimkehrte, wurde er alsbald bettlägerig und ruhte von
nun an meist mehr oder weniger teilnahmlos, viel vor sich hin sinnend und
dann wieder laut phantcisirend (doch nicht im Fieber), bis ihn am 15. Juli
1890 der Tod abrief. Seine Leiche wurde, seinem Wunsch entsprechend, ver¬
brannt.




") Baechtold III, 2S9.
'*) Baechtold III, 213.
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[0539] Gottfried Keller und seine Novellen scheute er immer mehr zurück. Wenn sie ein Zusammentreffen mit ihm im Wirtshause herbeiführten, so hüllte er sich, wie Baechtold erzählt, in das be¬ rühmte Schweigen. „Am schwierigsten aber gestaltete sich die Sachlage, wenn er sich unverhofft von einer größern Gesellschaft umgeben sah. Es konnte leicht einer darunter sein, der ihm aus irgend einem Grunde unbequem war. In diesen Fällen begann auf der hohen Stirne das bedrohliche Runzeln zu spielen, und das Gewitter hing in der Luft. Ein Wort, eine Miene konnten es zum Ausbruche bringen. Übrigens ging bei dem jähen Temperament Kellers das heilige Donnerwetter oft auch bei anscheinend klarem Himmel los. Dann ließ er sich zur Gewaltthätigkeit, die ihm sonst fremd war(?), hinreißen. Der kleine Mann fuhr mit verblüffender Behendigkeit auf, stieß die Gläser UM, wies einen Harmlosen vom Tische weg oder wurde gar handgemein. Fühlte er sich tags darauf im Unrecht, schrieb er eine seiner berühmten Episteln, einen Entschuldigungsbrief an den Betroffenen."'^) „In den letzten Jahren mußten auch alte Bekannte die äußerste Behut¬ samkeit im Umgang mit Keller beobachten. Das Herbe, Bittere, Unschmack¬ hafte, Mißtrauische seines Wesens nahm mit dem Alter überHand. Dinge, die ihn selbst angingen, konnte man fast gar nicht mehr berühren. Lob war selbst¬ verständlich von jeher ausgeschlossen; Tadel verletzte ihn leicht; schwieg man ganz, so war es wieder nicht recht. Am besten stellten sich die, die ihn selten sahen oder gar nur brieflich mit ihm verkehrten. Auch diejenigen, die so klug Ware», ein heftiges Wort nicht böse zu nehmen. Wenn man erwägt, daß es ihm eigentlich die letzten dreißig Jahre seines Lebens auf dieser Welt so schlecht nicht ging, daß es ihm weder an Ruhm uoch Verehrung fehlte, daß Gottfried Keller aber immer mehr zu Unmut, Argwohn, Reizbarkeit neigte, wird man schon sagen dürfen: der sprichwörtlich gemordne Optimist konnte im Leben (wie in seiner Dichtung übrigens zuweilen) ebenso starker Pessimist sein."^) Im Jahre 1838 wurde ihm seine Schwester, die Führerin seines Haus¬ halts, genommen, und er vereinsamte ganz. Da erstand ihm in Arnold Böcklin ein treuer Freund, der die letzten Jahre seines Lebens aufs rührendste für ihn sorgte und zuletzt immer um ihn war. 1889 erlebte er noch die Ausgabe seiner gesammelten Werke in zehn Bänden. In demselben Jahre wurde sein letzter Geburtstag großartig gefeiert, obgleich er trank in Seelisberg weilte. Als er im November heimkehrte, wurde er alsbald bettlägerig und ruhte von nun an meist mehr oder weniger teilnahmlos, viel vor sich hin sinnend und dann wieder laut phantcisirend (doch nicht im Fieber), bis ihn am 15. Juli 1890 der Tod abrief. Seine Leiche wurde, seinem Wunsch entsprechend, ver¬ brannt. ") Baechtold III, 2S9. '*) Baechtold III, 213.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/539>, abgerufen am 29.06.2024.