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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

Werfen wir noch einen Rückblick auf seine Werke, insbesondre auf das,
was die letzten Jahre hervorgebracht hatten.

Der Plan zum "Grünen Heinrich" geht bis in die Zeit zurück, wo der
junge Maler enttäuscht aus München zurückkehrte. Aber der Vorsatz, "einen
traurigen kleinen Roman zu schreiben über den tragischen Abbruch einer jungen
Künstlerlaufbahn, an der Mutter und Sohn zu Grunde gingen," trat bald
zurück. Das älteste erhaltene Bruchstück stammt aus dem Jahre 1846. Erst
in Berlin wurden fünf Jahre auf die weitere Ausarbeitung verwandt; ebenso
lange dauerte der Druck. 1855 war die Qual beendet. Was geschaffen war,
war ein in den einzelnen Teilen wie im ganzen ungleiches Werk. Keiner erkannte
das klarer als der Verfasser selbst. Deshalb trug er sich lange mit einer Er¬
neuerung und Umarbeitung des Romans. Aber es stellten sich große äußere
und innere Schwierigkeiten entgegen, noch in den siebziger Jahren, die erste
Auflage war noch nicht ausverkauft, und "die Arbeit war nicht sowohl schwer
als trübselig, mit offnen Augen in dem Unbedacht und der nicht zu ver¬
bessernden Unform eines längst entschwundnen Lebensalters herumbasteln zu
müssen, anstatt sich dem neuen zuzuwenden." Im September 1880 war die
Arbeit endlich fertig. 1884 erschien die dritte Auflage des dreibändigen
Werkes.

Wie der "Grüne Heinrich" am Anfang seines Lebens steht, so bildet der
Roman "Martin Salander" den Abschluß. Er erschien 1886 in der Deutschen
Rundschau. Es war "das Bekenntnis des gereiften Mannes. Der Familien¬
roman erweitert sich zu einem Stück Zeitgeschichte. In den Vorkommnissen
eines engen Kreises spiegelt sich das Abbild allgemeiner Zustünde. Das große
Thema ist die Volkserziehung und Volkswohlfahrt .... Gegen die Untreue
der Beamten, gegen das Hvherhinaufwollen, das sich nach und nach auch der
untersten Klassen bemächtigte, gegen die Genußsucht des Volkes, gegen das
politische Gründertum, gegen den patriotischen Dünkel richtet sich der neue
Kellersche Roman."")

Er erregte großes Befremden selbst bei unbedingten Verehrern Kellers.
"In Zürich, in der Schweiz erschrak man oder empfand wenigstens Mi߬
behagen, je weiter man las. Man sah die Schwächen des öffentlichen und
häuslichen Lebens mit unnachsichtiger Strenge bloßgelegt." Erst allmählich
folgten besonnenere und anerkennende Urteile.

Die Lyrik begleitete den Dichter durch sein ganzes Leben. Daher spiegeln
seine Gedichte die verschiednen Entwicklungsstufen seines Empfindens. Zu
einem neuen Aufschwung, einer Nachblüte kam es Ende der siebziger Jahre.
Später nahm er mit strenger Selbstkritik und Abklärung eine Sichtung und
Sammlung der Gedichte vor, und 1883 erschienen sie in einem 500 Seiten



Baechtold III, 300,
Gottfried Keller und seine Novellen

Werfen wir noch einen Rückblick auf seine Werke, insbesondre auf das,
was die letzten Jahre hervorgebracht hatten.

Der Plan zum „Grünen Heinrich" geht bis in die Zeit zurück, wo der
junge Maler enttäuscht aus München zurückkehrte. Aber der Vorsatz, „einen
traurigen kleinen Roman zu schreiben über den tragischen Abbruch einer jungen
Künstlerlaufbahn, an der Mutter und Sohn zu Grunde gingen," trat bald
zurück. Das älteste erhaltene Bruchstück stammt aus dem Jahre 1846. Erst
in Berlin wurden fünf Jahre auf die weitere Ausarbeitung verwandt; ebenso
lange dauerte der Druck. 1855 war die Qual beendet. Was geschaffen war,
war ein in den einzelnen Teilen wie im ganzen ungleiches Werk. Keiner erkannte
das klarer als der Verfasser selbst. Deshalb trug er sich lange mit einer Er¬
neuerung und Umarbeitung des Romans. Aber es stellten sich große äußere
und innere Schwierigkeiten entgegen, noch in den siebziger Jahren, die erste
Auflage war noch nicht ausverkauft, und „die Arbeit war nicht sowohl schwer
als trübselig, mit offnen Augen in dem Unbedacht und der nicht zu ver¬
bessernden Unform eines längst entschwundnen Lebensalters herumbasteln zu
müssen, anstatt sich dem neuen zuzuwenden." Im September 1880 war die
Arbeit endlich fertig. 1884 erschien die dritte Auflage des dreibändigen
Werkes.

Wie der „Grüne Heinrich" am Anfang seines Lebens steht, so bildet der
Roman „Martin Salander" den Abschluß. Er erschien 1886 in der Deutschen
Rundschau. Es war „das Bekenntnis des gereiften Mannes. Der Familien¬
roman erweitert sich zu einem Stück Zeitgeschichte. In den Vorkommnissen
eines engen Kreises spiegelt sich das Abbild allgemeiner Zustünde. Das große
Thema ist die Volkserziehung und Volkswohlfahrt .... Gegen die Untreue
der Beamten, gegen das Hvherhinaufwollen, das sich nach und nach auch der
untersten Klassen bemächtigte, gegen die Genußsucht des Volkes, gegen das
politische Gründertum, gegen den patriotischen Dünkel richtet sich der neue
Kellersche Roman."")

Er erregte großes Befremden selbst bei unbedingten Verehrern Kellers.
„In Zürich, in der Schweiz erschrak man oder empfand wenigstens Mi߬
behagen, je weiter man las. Man sah die Schwächen des öffentlichen und
häuslichen Lebens mit unnachsichtiger Strenge bloßgelegt." Erst allmählich
folgten besonnenere und anerkennende Urteile.

Die Lyrik begleitete den Dichter durch sein ganzes Leben. Daher spiegeln
seine Gedichte die verschiednen Entwicklungsstufen seines Empfindens. Zu
einem neuen Aufschwung, einer Nachblüte kam es Ende der siebziger Jahre.
Später nahm er mit strenger Selbstkritik und Abklärung eine Sichtung und
Sammlung der Gedichte vor, und 1883 erschienen sie in einem 500 Seiten



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/540>, abgerufen am 29.06.2024.