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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

Von äußern Erlebnissen ist zu erwähnen, daß 1864 seine Mutter starb,
und er nun auf die Pflege seiner einfachen, oft mürrischen, später anch kränk¬
lichen Schwester angewiesen war, die ihm den Haushalt ganz allein besorgte.
Seine Versuche, eine Ehe zu schließen, die von Zeit zu Zeit aufgetaucht waren,
waren alle mißlungen. Anfangs wohnten sie zusammen in einer Amtswohnung
in der Stadt, dann auf eiuer Anhöhe, dem "Vürgli," von wo er "den ganzen
See und das Gebirge, die Wälder des Sihlthals und das Limmatthal, kurz
die ganze Rundsicht überschaute." Erst zuletzt zogen sie wieder in die Stadt,
weil ihnen der Berg zu beschwerlich wurde. Die großen Ereignisse des Jahres
1870 erregten Kellers Teilnahme sür Deutschland, ganz im Gegensatz zu vielen
seiner Landsleute. Wollte er doch selbst durchaus ein deutscher, kein besonders
Schweizer Dichter sein/") Er erkannte an, daß in Deutschland Tüchtigkeit,
Kraft und Licht sei. Aber über eine gewisse kühle Sympathie kam er auch
hier nicht hinaus, und weitere Andeutungen finden sich in seinen Briefen nicht.

Unterdes stieg der Wunsch in ihm aus, die Bürde des Amtes nieder¬
zulegen, was denn auch endlich 1876 in allen Ehren geschah. "Auf 1. Juli
bin ich nun von meinem Amte frei, schreibt er an Kuh (15. Mai 1876). Ich
habe es uicht länger ausgehalten: den Tag durch Amtsgeschäfte, des Abends
soll man schriftstellern, lesen, Korrespondenz führen usw. Das geht nicht und
bleibt dann meistens alles zusammen liegen. Ich habe nun in poetisch-litte¬
rarischer Beziehung soviel zngeschnittne Arbeit oder Werch an der Kunkel, daß
ich es wohl wagen kann, meine noch mir vergönnten bessern Jahre damit
zuzubringen, ohne in schlimme Zustände zu geraten, wie junge Litteraten, oder
anderseits einem schnöden Jndustrialismus zu verfallen. Ich würde auch
schlechterdings die Zeit nicht finden, nur die Hälfte von dem zu machen, was
ich noch machen kann und soll."

Es waren ihm noch vierzehn Jahre eines ruhigen und gemächlichen, im
ganzen durch wenig Leiden beeinträchtigten Lebens beschieden, die er zum
Abschluß der begonnenen Arbeiten und zur Schöpfung eines neuen Romans
benutzte. Seine Vaterstadt verließ er nur noch ganz selten. Hatte er schon
in frühern Jahren nur wenige Reisen gemacht -- nach München und Wien,
ins Salzkammergut und nach Tirol (nicht einmal die Schweiz kannte er
ganz!) --, so war er jetzt trotz aller Bemühungen seiner Freunde nicht mehr
herauszubringen. Nur gegen Ende seines Lebens versuchte er eine Kur in
dem nahe gelegnen Baden und eine Sommerfrische in Seelisberg. Auch
daheim zog er sich mehr und mehr auf sich selbst zurück. Der starke Andrang
von Freunden und Neugierigen verstärkte einen Charakterzug in ihm, der ihm
von Jugend an eigen war. Namentlich vor der Berührung mit Fremden



") "Bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn
etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er an¬
gehört" Dezember 1880).
Gottfried Keller und seine Novellen

Von äußern Erlebnissen ist zu erwähnen, daß 1864 seine Mutter starb,
und er nun auf die Pflege seiner einfachen, oft mürrischen, später anch kränk¬
lichen Schwester angewiesen war, die ihm den Haushalt ganz allein besorgte.
Seine Versuche, eine Ehe zu schließen, die von Zeit zu Zeit aufgetaucht waren,
waren alle mißlungen. Anfangs wohnten sie zusammen in einer Amtswohnung
in der Stadt, dann auf eiuer Anhöhe, dem „Vürgli," von wo er „den ganzen
See und das Gebirge, die Wälder des Sihlthals und das Limmatthal, kurz
die ganze Rundsicht überschaute." Erst zuletzt zogen sie wieder in die Stadt,
weil ihnen der Berg zu beschwerlich wurde. Die großen Ereignisse des Jahres
1870 erregten Kellers Teilnahme sür Deutschland, ganz im Gegensatz zu vielen
seiner Landsleute. Wollte er doch selbst durchaus ein deutscher, kein besonders
Schweizer Dichter sein/") Er erkannte an, daß in Deutschland Tüchtigkeit,
Kraft und Licht sei. Aber über eine gewisse kühle Sympathie kam er auch
hier nicht hinaus, und weitere Andeutungen finden sich in seinen Briefen nicht.

Unterdes stieg der Wunsch in ihm aus, die Bürde des Amtes nieder¬
zulegen, was denn auch endlich 1876 in allen Ehren geschah. „Auf 1. Juli
bin ich nun von meinem Amte frei, schreibt er an Kuh (15. Mai 1876). Ich
habe es uicht länger ausgehalten: den Tag durch Amtsgeschäfte, des Abends
soll man schriftstellern, lesen, Korrespondenz führen usw. Das geht nicht und
bleibt dann meistens alles zusammen liegen. Ich habe nun in poetisch-litte¬
rarischer Beziehung soviel zngeschnittne Arbeit oder Werch an der Kunkel, daß
ich es wohl wagen kann, meine noch mir vergönnten bessern Jahre damit
zuzubringen, ohne in schlimme Zustände zu geraten, wie junge Litteraten, oder
anderseits einem schnöden Jndustrialismus zu verfallen. Ich würde auch
schlechterdings die Zeit nicht finden, nur die Hälfte von dem zu machen, was
ich noch machen kann und soll."

Es waren ihm noch vierzehn Jahre eines ruhigen und gemächlichen, im
ganzen durch wenig Leiden beeinträchtigten Lebens beschieden, die er zum
Abschluß der begonnenen Arbeiten und zur Schöpfung eines neuen Romans
benutzte. Seine Vaterstadt verließ er nur noch ganz selten. Hatte er schon
in frühern Jahren nur wenige Reisen gemacht — nach München und Wien,
ins Salzkammergut und nach Tirol (nicht einmal die Schweiz kannte er
ganz!) —, so war er jetzt trotz aller Bemühungen seiner Freunde nicht mehr
herauszubringen. Nur gegen Ende seines Lebens versuchte er eine Kur in
dem nahe gelegnen Baden und eine Sommerfrische in Seelisberg. Auch
daheim zog er sich mehr und mehr auf sich selbst zurück. Der starke Andrang
von Freunden und Neugierigen verstärkte einen Charakterzug in ihm, der ihm
von Jugend an eigen war. Namentlich vor der Berührung mit Fremden



") „Bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn
etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er an¬
gehört" Dezember 1880).
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[0538] Gottfried Keller und seine Novellen Von äußern Erlebnissen ist zu erwähnen, daß 1864 seine Mutter starb, und er nun auf die Pflege seiner einfachen, oft mürrischen, später anch kränk¬ lichen Schwester angewiesen war, die ihm den Haushalt ganz allein besorgte. Seine Versuche, eine Ehe zu schließen, die von Zeit zu Zeit aufgetaucht waren, waren alle mißlungen. Anfangs wohnten sie zusammen in einer Amtswohnung in der Stadt, dann auf eiuer Anhöhe, dem „Vürgli," von wo er „den ganzen See und das Gebirge, die Wälder des Sihlthals und das Limmatthal, kurz die ganze Rundsicht überschaute." Erst zuletzt zogen sie wieder in die Stadt, weil ihnen der Berg zu beschwerlich wurde. Die großen Ereignisse des Jahres 1870 erregten Kellers Teilnahme sür Deutschland, ganz im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute. Wollte er doch selbst durchaus ein deutscher, kein besonders Schweizer Dichter sein/") Er erkannte an, daß in Deutschland Tüchtigkeit, Kraft und Licht sei. Aber über eine gewisse kühle Sympathie kam er auch hier nicht hinaus, und weitere Andeutungen finden sich in seinen Briefen nicht. Unterdes stieg der Wunsch in ihm aus, die Bürde des Amtes nieder¬ zulegen, was denn auch endlich 1876 in allen Ehren geschah. „Auf 1. Juli bin ich nun von meinem Amte frei, schreibt er an Kuh (15. Mai 1876). Ich habe es uicht länger ausgehalten: den Tag durch Amtsgeschäfte, des Abends soll man schriftstellern, lesen, Korrespondenz führen usw. Das geht nicht und bleibt dann meistens alles zusammen liegen. Ich habe nun in poetisch-litte¬ rarischer Beziehung soviel zngeschnittne Arbeit oder Werch an der Kunkel, daß ich es wohl wagen kann, meine noch mir vergönnten bessern Jahre damit zuzubringen, ohne in schlimme Zustände zu geraten, wie junge Litteraten, oder anderseits einem schnöden Jndustrialismus zu verfallen. Ich würde auch schlechterdings die Zeit nicht finden, nur die Hälfte von dem zu machen, was ich noch machen kann und soll." Es waren ihm noch vierzehn Jahre eines ruhigen und gemächlichen, im ganzen durch wenig Leiden beeinträchtigten Lebens beschieden, die er zum Abschluß der begonnenen Arbeiten und zur Schöpfung eines neuen Romans benutzte. Seine Vaterstadt verließ er nur noch ganz selten. Hatte er schon in frühern Jahren nur wenige Reisen gemacht — nach München und Wien, ins Salzkammergut und nach Tirol (nicht einmal die Schweiz kannte er ganz!) —, so war er jetzt trotz aller Bemühungen seiner Freunde nicht mehr herauszubringen. Nur gegen Ende seines Lebens versuchte er eine Kur in dem nahe gelegnen Baden und eine Sommerfrische in Seelisberg. Auch daheim zog er sich mehr und mehr auf sich selbst zurück. Der starke Andrang von Freunden und Neugierigen verstärkte einen Charakterzug in ihm, der ihm von Jugend an eigen war. Namentlich vor der Berührung mit Fremden ") „Bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er an¬ gehört" Dezember 1880).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/538>, abgerufen am 29.06.2024.